Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht mal die Kunst ist als Ziel genug

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25.04.2023. Fasziniert, aber auch ein wenig ratlos steht die SZ in Kassel vor Roberto Cuoghis  Fertigungsstrecke für gekreuzigte Heilande. Die FAZ berichtet über den drohenden Streik der Drehbuchautoren in Hollywood, für die mit Serien und Streaming doch keine goldene Zeiten angebrochen waren. Die SZ erhebt Einwände gegen Laura Poitras' Nan-Goldin-Porträt "All the Beauty and the Bloodshed", das seine dokumentarische Form nur behaupte. Crescendo fürchtet die Kulturpolitik der nationalistischen Regierung in Italien besonders in der Klassik.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.04.2023 finden Sie hier

Kunst

Roberto Cuoghi: "Imitatio Christi". Foto: Alessandra Sofia / La Biennale di Venezia

Als "Genie des Morbiden" würdigt Till Briegleb in der SZ den italienischen Extremkünstler Roberto Cuoghi, dem das Kasseler Fridericianum eine Schau voller Schönheit, Schrecken und immensem Krach widmet. In ihrem Mittelpunkt steht die "Imitatio Christi", erklärt Briegleb, eine Installation aus Öfen, Tischen und aufblasbaren Iglus als Teil einer Fertigungsstrecke für gekreuzigte Heilande: "Die Nachahmung Christi, die von christlichen Sekten und Mystikern, von Franz von Assisi und der reformatorischen Bewegung der 'Devotio moderna' als Ideal verstanden wurde, bleibt als Aufforderung durch Cuoghis Figuren allerdings ein mystisches Rätsel. Inwiefern sind die gequälten, verformten und gebackenen Körper Gottes, die in Kassel als Kreuzigungsstraße auf beschmierten Museumsstellwänden inszeniert sind, vorbildhaft für das menschliche Leben? Oder geht es Cuoghi um das Nachahmen des Schmerzes als Einspruch gegen menschliche Grausamkeit? Ist die Vielheit dieser künstlichen Reliquien etwa Spott, Memento mori, oder aberwitzige Identifikation?"

In der Welt ahnt Boris Pofalla, warum Debatten oder Kritik den politisch bestens vernetzten Kunst-Unternehmer Walter Smerling nicht erreichen, der jetzt mit der Schau "Dimensions" die digitale Kunst seit 1859 in den Leipziger Pittlerwerken zeigt, Pofalla zufolge recht oberflächlich und unberührt von allen Debatten um den "Kunsthallen"-Eklat (mehr hier): "Es ist auch einfach nicht seine Welt: die offenen Briefe im Netz, die zum Boykott des Projekts aufriefen, die wütenden Künstlerverbände, die freie Szene, die sich beschwert. Geld liegt im guten alten Rheinland doch auf der Straße."

Besprochen wird die Jenny-Holzer-Retrospektive im K21 in Düsseldorf (Tsp).
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Literatur

Matthias Heine erinnert in der Welt an Wilhelm Raabes 1884 erschienenem Roman "Pfisters Mühle", den er in seiner Darstellung der industriellen Revolution und ihrer Folgen als den ersten Beitrag zur Geschichte der deutschen Umweltliteratur deutet. Doch "im Gegensatz zu vielen anderen, die später über ähnliche Themen schrieben, zeigt Raabe die Doppelgesichtigkeit des Fortschritts, der manche vernichtet, manches zerstört, aber eben andere im wahrsten Sinne des Wortes profitieren lässt." Diese Komplexität mache dieses Buch "lesenswerter als die eindimensionalen, pamphletistischen Kasperletheatertexte, in denen seitdem allzu oft gesellschaftliche Themen verhandelt wurden."

Besprochen werden unter anderem Leonardo Sciascias "Die Affaire Moro" (FAZ, unsere Kritik hier), Alain Finkielkrauts Essaysammlung "Vom Ende der Literatur" (Standard), Jan Philipp Reemtsmas "Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur" (FR), Ulrike Draesners "Die Verwandelten" (taz), Markus Köhle "Das Dorf ist wie das Internet, es vergisst nichts" (Tsp), Norman Maneas "Der Schatten im Exil" (NZZ) und der Band "Resignation ist kein Gesichtspunkt" mit politischen Reden und Feuilletons von Erich Kästner (SZ).
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Film

Es sieht ganz danach aus, als würden Hollywoods Drehbuchautoren ab 1. Mai in einen unbefristeten Streik eintreten, schreibt Claudius Seidl in der FAZ, der auch weiß, dass hinter den Kulissen bereits regste Betriebsamkeit ausgebrochen ist, da die kurzfristige (Talk-Shows), mittelfristige (Serien) und langfristige Produktion (Filme) akut gefährdet ist. "Die Krise hat damit angefangen, dass die Leute an der Wall Street sich daran zu stören begannen, dass die großen Streamingdienste (und jedes Filmstudio hat, weit über seine Verhältnisse, ins Streaming investiert) gigantische Verluste machen. Lange Zeit hat das keinen gestört, weil es nicht um Gewinne, sondern ums Wachstum ging. Sehr bald wird es aber Wachstum nur noch als Nullsummenspiel geben, indem also ein Dienst dem anderen die Abonnenten abschwatzt. ... Die Produktionsfirmen müssen also die Kosten senken, drastisch sogar - sie entlassen Leute, sie drücken auf Gehälter und Honorare. Und die Autoren, die schon vom Boom der Serien kaum profitiert haben, sollen jetzt auch noch für die Krise der Firmen büßen. Dabei hatte es, als vor fünfzehn, zwanzig Jahren die große Zeit der Serien anfing, so ausgesehen, als ob das herrliche Zeiten für Autoren würden."

Nan Goldin in "All the Beauty and the Bloodshed"

Laura Poitras' beim Filmfestival Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneter Porträtfilm "All the Beauty and the Bloodshed" über die Künstlerin und Aktivistin Nan Goldin startet zwar erst im Mai in den Kinos. In der SZ ärgert sich Catrin Lorch dennoch schon jetzt über diesen Film, der seine dokumentarische Form eher heuchelt, da er in engster Zusammenarbeit und Absprache mit Goldin entstanden ist, die sich in den letzten Jahren auch deshalb einen Ruf erarbeitet hat, da sie unermüdlich die Verstrickungen der US-Pharmaindustrie (insbesondere jenes Teils, der mit seinen Schmerzmitteln Millionen von Menschen in die Sucht und viele in den Tod getrieben hat) mit dem Kunstbetrieb aufdeckt. "Dass es im Rausch des Erzählens gerade nicht um die Sache selbst geht - also beispielsweise die Verflechtungen zwischen Kapital, Pharma-Industrie, Philanthropie, öffentlicher Bildung oder staatlicher Kunstförderung -, übersieht man fast. Zitate der Gegenseite, belastbare Statistiken, eine Analyse des amerikanischen Gesundheitssystems beispielsweise würde den Flow nur unterbrechen. Dass der Film aber auch andere Proteste ausblendet - beispielsweise die Aktivisten, die lange vor Goldin schon Kunstereignisse und Institutionen wie die Tate für ihre Kooperation mit BP oder Shell attackierten -, ist unverzeihlich und verstößt gegen jedes journalistische oder dokumentarische Ethos."

Brendan Fraser in "The Whale"

Drastik-Meister Darren Aronofsky hat mal wieder zugeschlagen: Das Kammerstück "The Whale" handelt von einem schwer fettleibigen Literaturprofessor, der sich seine Wohnung nach einem Schicksalsschlag zu einem Gefängnis erfressen hat und nun seinem Tod entgegen sieht. Für den Hauptdarsteller Brendan Fraser, der in den Neunzigern als Blockbuster-Mime reüssierte, ist es das künstlerische Comeback, das die Academy kürzlich mit einem Oscar würdigte. "Aronofsky war immer schon ein gewiefter Manipulator", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel und fühlt sich ein bisschen zu sehr an der Nase durch die Manege gezogen: "Je mehr Personen sich in dem kleinen Apartment drängen, desto mehr kippt das Drama in eine Soap Opera: Es wird geschrien, geheult und gekotzt. Auch eine Form der Katharsis." SZ-Kritiker David Steinitz muss bedauernd feststellen, dass Aronofsky wenig getan hat, um die Bühnenherkunft des Stücks zu kaschieren: "Seine Protagonisten gehen ständig mäßig motiviert wie von einer Bühne auf und ab." Und "irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass der oscargekrönte Regisseur Darren Aronofsky seinen Zuschauern zeigen will, dass auch sehr dicke Menschen ... tief in ihren schwer geschädigten Herzen gute Leute sind. Dass man also, bitteschön, nicht nur nach dem Äußeren urteilen soll, so abstoßend es auch wirken mag. Schön. Und richtig. Nur warum ergötzt der Regisseur sich dann zwei Stunden in Detailaufnahmen der ganzen Adipositaskatastrophe?"

FAZ-Kritikerin Sandra Kegel muss ihren Kollegen widersprechen: "So wie die great american novel 'Moby Dick' von sehr viel mehr handelt als nur von Walfang, puzzelt 'The Whale' mit seinen thematischen Versatzstücken über Familie, Religion und einem versagenden Bildungssystem zuletzt das Porträt der abgehängten amerikanischen Provinz der Gegenwart zusammen.  Zweifellos ist 'The Whale' ein Drahtseilakt" doch "liefert Aronofsky tatsächlich eine ergreifende Reflexion über Schuld, Sexualität und Scham, ein Drama, das eine Selbstzerstörung ausbreitet, die keine Erlösung findet, unabhängig davon, wie sehr wir uns nach Mitgefühl sehnen."

Außerdem: Silvia Hallensleben resümiert in der taz das "Internationale Frauen Film Fest" in Dortmund. Besprochen wird Ari Asters Groteske "Beau is Afraid" mit Joaquin Phoenix (NZZ).
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Bühne

Annemarie Brüntjen und Alina Kostyukova in "Wie man mit Toten spricht". Foto: Maximilian Borchardt / Nationaltheater Mannheim


Erschüttert berichtet Nachtkritikerin Eva Marburg den Abend "Wie man mit Toten spricht", mit dem die ukrainische Dramatikerin Anastasiia Kosodii am Nationaltheater Mannheim der Toten des Krieges gedenkt, "vorsichtig, respektvoll und konzentriert". Die Vorstellung endet in Stille, ohne Aplplaus: "Ich denke in dem Moment, dass es vielleicht das ist, was Theater jetzt leisten muss. Einen Raum bereitzustellen, in dem erzählt, zugehört, gedacht und erinnert werden kann. Ein kurzer Ort des Innehaltens, das Geschenk der geteilten Aufmerksamkeit. Und das Bewusstsein, dass wir alle betroffen sind, weil wir alle Menschen sind."

Im Tagesspiegel wundert sich Rüdiger Schaper dagegen nicht, dass das Aufregendste an Fabian Hinrichs Ein-Mann-Inszenierung von Lord Byrons "Sardanapal" der Abgang von Benny Claessens war, der kurz vor der Premiere hingeworfen hat: "Keine Seltenheit in einem Betrieb, der sich nur mit Missbrauchsgeschichten in die Schlagzeilen bringt, aber schon lange nicht mehr mit einem Stück Gegenwartsgeschichte, mit einer unerhörten ästhetischen Erfahrung oder einem gesellschaftlichen Aplomb." Auch Michael Wolf vermisst in der taz Dringlichkeit in Fabian Hinrichs Spiel: "Es wirkt, als wäre er bereit, seine ganze Inszenierung zu opfern, damit er selbst als Künstler autonom bleiben kann, nicht verwechselt wird mit einer Figur, einer Botschaft. Nicht mal die Kunst ist als Ziel also genug."

Besprochen werden das Tolkien-Spektakel "Riesenhaft in Mittelerde" am Schauspielhaus Zürich" ("Alles ist hier bis ins kleinste Detail durchgeplant, dennoch wirkt der Abend unendlich frei", lobt Egbert Tholl in der SZ), Burkhard Kosminskis "luftige" Inszenierung von Shakespeares "Sturm" am Stuttgarter Schauspiel (FAZ), Tena Štivičić' kroatische Familiensaga "Drei Winter" am Wiener Burgtheater (Nachtkritik), Isobel McArthurs Jane-Austen-Adaption "Stolz und Vorurteil *oder so" an der Komödie am Kurfürstendamm mit Anna Maria Mühe (Nachtkritik, SZ), Nino Harataschwilis Adaption von Aglaja Veteranyis Roman "Warum das Kind in der Polenta kocht" am Hessischen Landestheater Marburg (FR), die Sarah-Bernhardt-Ausstellung "Et la femme créa la star" im Petit Palais in Paris (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Der italienische Rechtsruck schlägt auch auf die Kultur durch: Im Kulturbetrieb säßen zu viele Ausländer auf Führungspositionen, ließ der Kulturminister Gennaro Sangiuliano vergangene Woche die Öffentlichkeit wissen. Axel Brüggemann hat sich daher in der aktuellen Episode seines Podcasts "Alles klar, Klassik?" umgehört, wie es um die Leute bestellt ist, die in Ländern mit nationalistischen Regierungen im Klassikbetrieb arbeiten. "Besonders gefährlich scheint Sangiulianos neue Beraterin in Sachen Klassik: die Dirigentin Beatrice Venezi", schreibt Brüggemann dazu in seinem Crescendo-Newsletter. "Musikalisch ist sie eher unbedeutend, politisch um so gefährlicher. Ich habe ein Interview mit dem Dirigenten Fabio Luisi geführt. Er sagt: 'Die Ankündigungen von Italiens Rechtsregierung sind bedrohlich, aber noch fehlt es der Regierung von Giorgia Meloni am Handwerkszeug, die Ankündigungen auch umzusetzen.' ... Auch mit Ádam Fischer habe ich mich über die nationalen Strömungen seiner Heimat Ungarn unterhalten. Und seine Antworten sind wirklich hörenswert: 'Die Ungarn sind nicht für die Demokratie geboren, das wusste schon mein Vater', sagt der Chefdirigent der Düsseldorfer Symphoniker in Düsseldorf und hadert mit seinen Landsleuten und der Regierung von Viktor Orbán. Er habe lange für die Demokratie gekämpft, sei aber resigniert, erklärt Ádam Fischer. Anders als András Schiff wird er aber auch weiterhin in Ungarn auftreten."

Andrian Kreye gibt sich in der SZ ganz der Tiefenentspannung hin. Den Soundtrack dazu liefert das zweite Album "Enigmatic Society" der Jazz-Hiphop-Supergroup Dinner Party, in der neben dem Produzenten Terrace Martin und dem Pianisten Robert Glasper auch der Saxofonist Kamasi Washington spielt. "Die Musik ist von genau jener Lässigkeit bestimmt, mit der sich der G-Funk-Hip-Hop aus Kalifornien einst von den Aggressionen der New Yorker Konkurrenz emanzipierte. ... Da friert nichts ein im sonst so klirrenden Genre, das die Härte der afroamerikanischen Erfahrung meist ohne die Verklausulierungen des Jazz und des Soul in Musik umsetzte." Am "Ende wagen sie sich sogar an den Yacht Rock, jenen Gipfel der Popvirtuosität aus den späten Siebzigerjahren. Da verdichten sie Hall & Oates' 'I Can't Go For That' mit diesen Jazzfedern des West-Coast-Hip-Hop, das die beiden Rockstars damals sicher gemeint hätten, wenn es das schon gegeben hätte." Hier "bahnt sich ein Groove seinen Weg durch die Jahrzehnte, der in sich sehr viel stimmiger ist, als sich das Daryl Hall hätte ausmalen können, als er ihn im Frühjahr 1981 in den Electric Ladyland Studios in den damals noch so sensationell modernen Roland CR-78-Drumcomputer programmierte." Hier relaxen Dinner Party bei Jimmy Kimmel im TV-Studio:



Weitere Artikel: Roger Waters darf nach einem Gerichtsbeschluss in Frankfurt auftreten, meldet Jakob Biazza in der SZ. Das Internationale Auschwitz Komitee und der Zentralrat der Juden in Deutschland kritisieren den Entscheid, meldet ZeitOnline. In der FAZ gratuliert Max Nyffeler dem Komponisten Giorgio Battistelli zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden ein Konzert des Pianisten Markus Becker mit dem Deutschen Symphonie-Orchester (Tsp), ein Doppelkonzertabend mit den Punkbands Oidorno und Team Scheisse (Kaput), ein Mozart-Abend mit Christian Zacharias (FR), MC Yallahs Album "Yallah Beibe" (taz), ein Auftritt des Rappers grim104 in Frankfurt (FR), Lael Neales Album "Star Eaters Delight" (Standard) und Blonds zweites Album "Perlen" ("Nach 34 Minuten hat diese Band einmal zielsicher, saftig und bei bester Laune in alle Richtungen ausgeteilt", schwärmt Konstantin Nowotny in der taz).

Archiv: Musik