Efeu - Die Kulturrundschau

Das nervöse Tosen

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11.04.2023. Der Standard beobachtet eine zunehmende Verbitterung unter ukrainischen Literaten. Der Guardian feiert eine Ausstellung des mexikanischen Architekten Alejandro Zohn, der die Eliten der Hauptstadt die Provinz fürchten lehrte. Die FAS fragt sich, wie der Disney-Konzern mit Micky Mouse Geld verdienen wird, wenn das Copyright für die Cartoon-Klassiker ausläuft. Und im ND bewundert Berthold Seliger, wie Vladimir Jurowski in Haydns "Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze" das revolutionäre Beben des Irans nachklingen ließ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.04.2023 finden Sie hier

Literatur

Herwig Höller wirft für den Standard einen Blick auf die erhitzten Social-Media-Debatten unter ukrainischen Literaten über die Frage, wie man es mit der russischsprachigen Literatur hält. Er stößt auf einen sich zusehends verschärfenden Tonfall und eine verbitterte Vorwurfskultur. "Selbst Starautor Jurij Andruchowytsch, an dessen patriotischer Haltung kein Zweifel bestehen kann, war bereits im vergangenen September an den virtuellen Pranger gestellt und angefeindet worden. Das staatliche ukrainische Buchinstitut hatte in diversen sozialen Netzwerken provokant darauf hingewiesen, dass der Schriftsteller bei einem norwegischen Literaturfestival gemeinsam mit dem aus Russland gebürtigen und seit vielen Jahren in der Schweiz lebenden Literaten sowie deklarierten Kritiker von Putin, Michail Schischkin, aufgetreten war. Zur Verteidigung dieser Haltung rückte unter anderem die in Wien lebende ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk aus: Andruchowytsch Landesverrat vorzuwerfen sei lächerlich. 'Die Praxis, die eigenen Leute zu prügeln, muss endlich aufhören', forderte sie. Wie sich zeigen sollte, verhallte diese Forderung ungehört."

Der österreichische Schriftsteller Stefan Kutzenberger denkt im Standard-Essay über Herkunft, Identität und Sprache nach, denn "Literatur ist nichts anderes als der Versuch, die Heimat zu erklären". Doch wenn Heimat und Literatur derart in eins fallen, dann "ist Literatur der Versuch, die Literatur zu erklären. Und genau daran glaube ich. Romane beschäftigen sich nicht mit der Scholle, auf der sie entstanden sind, sondern mit sich selbst. Jeder gute Roman ist ein Meta-Roman, der über die Kunst der Fiktion reflektiert. Deshalb hat unsere Heimat, sobald man etwas intensiver über sie nachdenkt, die Tendenz, sich in Fiktion aufzulösen."

Weitere Artikel: Der Verleger Andreas Illmann ärgert sich in der Zeit, dass seiner kleiner Tochter ausgerechnet zur Kinderbuchmesse in Bologna der Zutritt verwehrt wurde. In der FAZ gratuliert Patrick Bahners dem Literaturkritiker Martin Lüdke zum 80. Geburtstag. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Wieland Freund an einen Flugzeugabsturz des Schriftstellers Evelyn Waugh im Zweiten Weltkrieg.

Besprochen werden unter anderem A. L. Kennedys "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" (Welt, FR), Toni Morrisons Erzählung "Rezitativ" (Tsp), Joshua Cohens "Die Netanjahus" (Jungle World), Andreas Maiers "Die Heimat" (Standard), Karin Peschkas "Dschomba" (Standard), drei wiederveröffentlichte Romane aus der Weimarer Republik (Tsp), Sheree Domingos und Patrick Späts Comic "Madame Choi und die Monster" (Intellectures), Comics über die Menschheitsgeschichte (taz), Christophe Boltanskis "Die Leben des Jacob" (NZZ), Max Baitingers Comic "Sibylla" (Tsp), Malwine Stauss' Comic "Sola" (Tsp), Jurek Malottkes Comicadaption von Kai Meyers Geister-Roman "Phantasmen" (Tsp), Brendan Behans "Frau ohne Rang und Namen" (online nachgereicht von der FAZ), Sebastian Hotz' "Mindset" (FAS, NZZ) und Artur Weigandts "Die Verräter" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Rüdiger Görner über Paula Ludwigs "Alles nahmst du mit dir":

"Alles nahmst du mit dir
im Taumel deiner Liebe ..."
Archiv: Literatur

Architektur

Alejandro Zohn: Das Staatsarchiv von Guadalajara. Foto: Alejandro Zohn Archive

Schon das Schindler-House, eine Dependance des Wiener MAK in Los Angeles, feiert Guardian-Kritiker Oliver Wainwright als echte Entdeckung, aber die Ausstellung "Seeking Zohn" über den mexikanischen Modernisten Alejandro Zohn haut ihn um. Für sie haben sich verschiedene Künstler mit dem Werk Zohns auseinandergesetzt: "Wie Schindler war er ein jüdischer Emigrant auf dem amerikanischen Kontinent - seine Eltern flohen 1939 aus Wien, als er acht Jahre alt war - und er war ein produktiver Architekt, der rund 500 Projekte verwirklichte, aber außerhalb Mexikos praktisch unbekannt blieb. ... Ein letzter Raum ist Fotografien von Zohns Staatsarchivgebäude gewidmet, einem burgähnlichen Zusammenhau von kubischen Blöcken, die mit vertikalen Linien gehämmert wurden, um feinsten Kordbeton zu erzeugen. Fast jeder in Guadalajara war schon einmal im Archivo - ein Besuch ist für die Registrierung von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen sowie für die Erteilung von Baugenehmigungen erforderlich. Wie die Fotografin Zara Pfeifer es ausdrückt, ist 'jeder Lebenszyklus mit dem Bauwerk verflochten'. Ihre Bilder zeigen eine menschlichere Seite der befestigten Bastion, den Innenhof mit Bürgern, die geduldig darauf warten, dass sich die Mühlen der mexikanischen Bürokratie in Bewegung setzen, während Straßenverkäufer im willkommenen Schatten der großen Blöcke ihren Handel betreiben."

Weiteres: In der taz bewundert Tom Mustroph, wie das Atelier Deshaus chinesische Industrieanlagen in Kunstorte umwandelt.
Archiv: Architektur

Bühne

Kurt Weills "Der Zar lässt sich fotografieren". Foto: Barbara Aumüller / Oper Frankfurt

Zwei "kurze, prickelnde Opern über Wahrheit, Macht und womöglich auch Liebe" hat FR-Kritikerin von Sternburg in einem Doppelabend der Frankfurter Oper gesehen: Kurt Weills "Der Zar lässt sich fotografieren" und Carl Orffs "Die Kluge": "Die neue Verbindung ist aber großartig. Der noch subtiler arbeitende Weill wie der noch wirkungsvoller arbeitende Orff haben Musiken von rasantem Unterhaltungswert geschrieben. In Frankfurt ist das gut zu hören, auch wenn Yi-Chen Lin, Kapellmeisterin an der Deutschen Oper Berlin, im (dem Ohr vertrauteren) Orff sogar ruhig für noch mehr Zack sorgen könnte. Die Weill-Rarität mit ihren komplexen Jazzelementen lässt keine Wünsche offen." Auch in der FAZ freut sich Jan Brachmann über die gelungene Kombination: "Die Regie weigert sich konsequent, die Stücke in ein trivialpolitisches Rechts-links-Schema zu zwängen. Eher bleibt bei Weill und seinem Librettisten Georg Kaiser das virtuose Kokettieren mit dem politischen Mord als ein Moment von Verantwortungslosigkeit stehen, während die vorgebliche Zähmung des tyrannischen Königs durch die kluge Bauerntochter am Ende als utopische, völlig naive Wunschvorstellung entlarvt wird."

Besprochen werden außerdem Richard Strauss' "Frau ohne Schatten" in Baden-Baden (bei der Kirill Petrenko tief in den "polyfonen Dschungel der Partitur" eindringt, wie NZZ-Kritiker Christian Wildhagen würdigt, auch wenn ihm das Stück fremd bleibt) und der Ballettabend "Timelessness" am Hesssichen Staatsballett in Wiesbanden (FR) und Wagners "Die Meistersinger von Nürnberg" in Linz (Standard).
Archiv: Bühne

Kunst

Im Tagesspiegel feiert Noemi Smolik Abu Dhabi als neue Kunstmetropole. Besprochen werden eine Schau Junger Kunst im Frankfurter Kunstverein (FR), die Ausstellungen zu Margaret Raspé im Berliner Haus am Waldsee und Ulysses Jenkins in der Julia-Stoschek-Foundation (SZ).
Archiv: Kunst

Film

Im November läuft das Urheberrecht für Micky Maus aus - zumindest, was Micky Maus in der Darstellung seines ersten Auftritts im Cartoon-Klassiker "Steamboat Willie" (noch ohne Handschuhe!) betrifft, schreibt Anna Sophie Kühne in der FAS. Für den Disney-Konzern ist das eine Herausforderung - und für Leute, die an Micky Maus nun Geld verdienen wollen, ohne an Disney Geld zu bezahlen, ein Risiko. Denn "das Lizenzgeschäft wirft Milliarden ab, die Produkte verschaffen Disney auf der ganzen Welt Bekanntheit - ohne dass das Unternehmen eine einzige Puppe, ein einziges Raumschiff oder Plüschtier selbst herstellen müsste. ... Weil für Disney daran so viel Geld hängt, wird der Konzern mit allen Mitteln versuchen, seinen markenrechtlichen Anspruch an Micky-Maus-Merchandising auch in Zukunft durchzusetzen. Die genauen Regeln sind kompliziert. Eine 'Trademark' zum Beispiel kann, anders als das Urheberrecht, auf unbestimmte Zeit gelten. Eine Abbildung aus 'Steamboat Willie' auf einem T-Shirt könnte trotzdem erlaubt sein. Auch die Verwendung des Namens Micky Maus ist juristisch unter Umständen möglich, ohne dass Disney dafür Geld verlangen kann. Nur müssen sich die Hersteller dann vermutlich auf einen langen und teuren Rechtsstreit mit Disney gefasst machen." Hier Micky Maus' erster Auftritt im November 1928:



Außerdem: Die oscarprämierte Multiverse-Groteske "Everything Everywhere All at Once" lässt Bert Rebhandl in einem Standard-Essay neu über Jesu Auferstehung nachdenken. Besprochen werden Elizabeth Banks' Groteske "Cocaine Bear" (Tsp), die Netflix-Serie "Transatlantic" über Mary Jayne Golds Rettung von 2000 Jüdinnen und Juden vor dem Holocaust (NZZ, Welt), Tarik Salehs "Die Kairo-Verschwörung" (online nachgereicht von der FAZ), Léa Mysius' "The Five Devils" (FAS), die Netflix-Serie "Beef" (FAZ), der auf Disney+ gezeigte Papstfilm "Amen" (FAZ), die Sky-Serie "Tender Hearts" (taz) und eine Sky-Doku über den Anschlag auf den BVB vor sechs Jahren (Tsp).
Archiv: Film

Musik

Im Neuen Deutschland kommt Berthold Seliger nochmal auf Vladimir Jurowskis Berliner Aufführung von Haydns "Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze" durch das RSO Berlin zu sprechen. Der "denkwürdige Abend" wurde von sechs eigens in Auftrag gegebenen musikalischen Kommentaren flankiert (unser erstes Resümee). Insbesondere "De Profundis" der Iranerin Sara Abazari entwickelte dabei eine "immense Kraft" - gewidmet ist das Werk dem Aufstand in Iran. "Das nervöse Tosen dieser Komposition, das revolutionäre Beben der Menschen im Iran (und andernorts) münden in Haydns überraschenden Schluss, der musikalischen Gestaltung eines Erdbebens: Ein furioser, gerade einmal zweiminütiger Ausbruch, 'und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf'. Die Welt ist nach all dem damals und heute Erlebten eine andere, eine gänzlich neue, eine schreckliche auch. Es gab ja wahrlich schon hoffnungsvollere Zeiten als unsere. Aber vielleicht ist gerade dies die wertvollste Aussage dieses herausragenden Konzertabends, eine Art Flaschenpost: Dass wir trotz 'Pessimismus des Verstandes' dank des 'Optimismus des Willens' (Gramsci) zum Weitermachen verpflichtet sind." Eine Aufnahme des Konzerts steht bei Arte online.

Außerdem: Ueli Bernays schreibt in der NZZ über den russischen Schlagersänger Shaman, dessen patriotisches Pathos bei Putin bestens ankommt. Sven Regener kann mit Protestsongs nichts anfangen, gesteht er im Standard-Plausch anlässlich des neuen Albums seiner Band Element of Crime: "Aus dem Umstand, dass Campino bei den Toten Hosen singt, ergibt sich keine spezielle politische Kompetenz." In der NMZ resümiert Michael Ernst die Orchesterkonzerte der Salzburger Osterfestspiele - ein "insgesamt absolut erfolgreicher Jahrgang". Trotz Playlist-Streaming sind Alben im Pop weiterhin wichtig, erklärt Nadine Lange in ihrer Popkolumne für den Tagesspiegel.
 
Besprochen werden das von Daniel Barenboim dirigierte Debütkonzert des neuen Studierendenorchesters der Barenboim-Said-Akademie (Tsp), neue Alben von den Screaming Females und von Jaimee Harris (FR) sowie die Compilation "London Brew" auf der sich die Londoner Jazzszene vor Miles Davis verneigt (FAZ).

Archiv: Musik