Efeu - Die Kulturrundschau

Kommunikation mit den Toten

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25.03.2023. Die Berliner Zeitung begeistert sich für die fliegenden, orgiastischen Körperteile der amerikanischen Künstlerin Christina Quarles. Zuviel Obsession für den weiblichen Körper kann aber auch nerven, bemerkt die nmz in einer Genter Inszenierung von "Tristan und Isolde". Die taz hofft, dass demnächst KI strunzlangweilige Musikerinterviews aufpeppt. Die Welt trifft sich mit Georg Klein auf der Reeperbahn, um über das Jenseits zu plaudern. Die FAZ fordert einen sofortigen Baustopp für den geplanten Erweiterungsbau des Kanzleramts. Die SZ schwelgt in "Garden Futures".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.03.2023 finden Sie hier

Kunst

Christina Quarles, For Whom Tha Sunsets Free, 2019, © Christina Quarles. Courtesy the artist, Hauser & Wirth and Pilar Corrias, London


Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) ist hin und weg von der queeren amerikanischen Künstlerin Christina Quarles, die sie anlässlich ihrer Ausstellung im Hamburger Bahnhof in Berlin getroffen hat: "'Du kannst komplizierter und widersprüchlicher sein, wenn du nicht versuchst, die Leute dazu zu bringen, die Kurzschriftversion von dir zu verstehen', sagt sie. 'Du kannst einfach in deinem Körper sein.' Dieses 'in seinem Körper sein' ist das zentrale Thema ihrer Malerei, in der die Farben verschmelzen und ambivalente Figuren - mit Brüsten, Vagina oder Penis oder auch alles in einem Körper - in anatomisch unmöglichen, geradezu äquilibristischen Positionen agieren. Sie scheinen durch den Raum zu fliegen, weil sie sich von nichts und niemandem, auch nicht vom Museumswänden, eingrenzen lassen. Das mag obsessiv, ja orgiastisch aussehen. Doch pornografisch ist hier gar nichts. Dazu sind zu viel körperliches Leid und seelischer Schmerz im Spiel der Körper präsent, die keinem traditionell normierten Leben folgen wollen oder können und akzeptiert werden wollen und sollen, wie sie eben sind."

Marcus Boxler unterhält sich für monopol mit einem Mitglied des Kollektivs Broke.Today über Künstler, ihren Anteil an der Gentrifizierung und die anschließende Verdrängung der Kunstszene. Derzeit hat das Kollektiv ein Haus in der Münchner Maxvorstadt für ein Kunstprojekt "besetzt" (mit Einwilligung der Eigentümer): "Kurz bevor gentrifiziert wird, sind wir da, sind Künstler da. Das war auch schon immer so in dieser Stadt - und wahrscheinlich auch überall sonst. Bis sich kein Künstler mehr leisten kann, in dem Viertel zu leben. Und dann zieht man halt weiter. Wir treiben diese Hyperdynamik auf die Spitze und haben diese Gentrifizierungsprozesse zu unserer Projektbasis gemacht."

Besprochen werden Ursula Schultze-Bluhms Ausstellung "Ursula: Das bin ich. Na und?" im Kölner Museum Ludwig (FAZ) und eine Ausstellung der Künstlerin Lap-See Lam im Portikus in Frankfurt am Main (monopol).
Archiv: Kunst

Architektur

In der FAZ fordert Claudius Seidl einen sofortigen Baustopp für den geplanten Erweiterungsbau des Kanzleramts: Nicht nur, weil es so schon ohne die Erweiterung der "größte Regierungssitz der Welt ist" oder weil die Baukosten "garantiert auf eine Milliarde steigen" werden, sondern vor allem, weil die Erweiterung "völlig unzeitgemäß und aus ökologischer Sicht geradezu ein barbarischer Akt wäre, eine böse Klimasünde; es ist, als würde die Laufzeit deutscher Kohlekraftwerke noch einmal um fünfzehn Jahre verlängert: Vergesst unsere ambitionierten Klimaziele, es ist uns egal, welchen Dreck wir machen."

Außerdem freut sich Matthias Alexander in der FAZ über die Rekonstruktion des historischen Helms des Turms des Frankfurter Römers.
Archiv: Architektur

Bühne

Szene aus "Tristan und Isolde" in Gent. Foto: Annemie Augustijns


Zwei fantastische Sänger - Samuel Sakker und Carla Filipcic Holm - in den Titelpartien hat nmz-Kritiker Joachim Lange in Wagners "Tristan und Isolde" in Gent gehört, aber angesichts der Inszenierung von Philippe Grandrieux ging ihm der Hut hoch: "Bevor Alejo Pérez den Taktstock für die ersten Töne des Vorspiels hebt, taucht im Dunkel der Bühne andeutungsweise eine Person auf und verschwindet wieder. Mit dem Einsetzen der Musik aber wird dann eine filmische Studie über den weiblichen Körper und seine Obsessionen im bühnenfüllenden Großformat auf einer Gazewand entfesselt. Ambitioniert verwackelt und unscharf wird das als ein Overkill des Begehrens mit oft offensiv gespreizten Schenkeln und Blick auf das Geschlecht, der Verkrümmung des Körpers, obendrein mit einem Dauerzittern zelebriert. So wie man manchmal den Doppeltitel Wagners auf 'Tristan' verkürzt, macht Grandrieux daraus 'Isolde'. Eigentlich einen 'Fall Isolde'. Könnte gut sein, dass es aber nur ein 'Fall Grandrieux' ist."

In der NZZ ist Lilo Weber froh, dass viele Bühnen, allen voran in Berlin, die Choreografien Marco Goeckes weiter zeigen. Goecke hatte seine Stelle als Ballettdirektor der Staatsoper in Hannover verloren, nachdem er einer Tanzkritikerin Hundekot ins Gesicht geschmiert hatte. Das ist kein Grund, ihn zu canceln, findet Weber, schließlich sei der Mann ja so begabt: "Goeckes Stück 'Petruschka' weiß nichts von der abstoßenden Tat des Hundekot-Werfers Goecke, und das nicht nur deshalb, weil es zu einer Zeit entstand, da sein Erschaffer für die Öffentlichkeit noch frei von Schuld war. Sondern vielmehr, weil sich Kunstwerke von ihrem Urheber loslösen und im besten Fall ein Eigenleben führen. Dann sprechen sie zu uns, vielstimmig, wenn sie gut sind, und vermögen in jedem andere Saiten zu berühren. Sofern wir uns - auch in einem moralisch schwierigen Fall wie diesem - darauf einlassen wollen. Genau das wollen offenbar die Tanzinteressierten. Ballettabende mit Goecke-Stücken sind derzeit auffällig gefragt, etliche Vorstellungen ausverkauft." Fragt sich nur, ob das wirklich mit Goeckes Choreografenkünsten zu tun hat.

Weitere Artikel: In der nachtkritik berichtet Andreas Thamm über Streit am Theater Bamberg vor dem Hintergrund der neuerlichen Vertragsverlängerung von Intendantin Sibylle Broll-Pape. In der FAZ fragt Jan Brachmann entgeistert, warum sich Bernd Loebe mit Lebenslauf und allem pipapo neu für die Leitung der Tiroler Festspiele in Erl bewerben soll, obwohl er sie seit 2018 erfolgreich leitet.

Besprochen werden Reiner Holzemers Dokumentarfilm über Lars Eidinger (nachtkritik) und die Uraufführung von Marc Schubrings Musical "Mata Hari" im Münchner Gärtnerplatztheater (nmz).
Archiv: Bühne

Film

Winnie the Pooh: Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig


Rhys Frake-Waterfields Horrorfilm "Winnie the Pooh: Blood and Honey" wurde in den Kinos von Hongkong abgesetzt. Warum? "In Festlandchina ist der tapsige Held aus den weltbekannten Gutenachtgeschichten seit Jahren eine Persona non grata", erklärt Lea Sahay in der SZ: "Grund ist die angebliche Ähnlichkeit zwischen Pu und dem chinesischen Parteichef Xi, die Internetnutzer zum ersten Mal 2013 bei einem Staatsbesuch in den USA entdeckten. Auf einem Foto spazierte Xi etwas nach hinten gebeugt mit rundem Bäuchlein neben dem schlaksigen US-Präsident Barack Obama - viele sahen darin Pu der Bär an der Seite von Tigger, seinem gestreiften Tigerfreund. ... Ein dicklicher Bär mit erklärtermaßen geringem Verstand - die Veralberung ihres großen Führers finden Chinas Zensoren naturgemäß gar nicht witzig."

Edward Bergers Film "Im Westen nichts Neues" wurde zwölf mal für den Deutschen Filmpreis Lola nominert. Einerseits verdient, findet Andreas Busche im Tagesspiegel. Andererseits "wird der Siegeszug von 'Im Westen nichts Neues' wieder das alte Problem des Filmpreises aufzeigen: dass sich die wichtigsten Auszeichnungen um einen Titel konzentrieren. Keine gute Voraussetzung, um die Vielfalt des deutschen Films zu feiern. Genau das aber hat das Kino, drei Jahre nach der Pandemie, gerade nötig."

Weiters: Philipp Bovermann unterhält sich für die SZ mit John Malkovich über dessen Filmrolle als Seneca. Besprochen werden Lars Kraumes Film "Der vermessene Mensch" (taz), die Sky-Doku über den Relotius-Skandal (taz), Till Schweigers "Manta Manta Zwoter Teil" (den ein gerührter Hanns-Georg Rodek in der Welt überraschend gelungen findet) und Reiner Holzemers Filmdoku "Lars Eidinger - Sein oder nicht sein" (SZ).
Archiv: Film

Design

Céline Baumann, Das Parlament der Pflanzen, 2020. © Studio Céline Baumann


SZ-Kritiker Gerhard Matzig schwört seinem Moos-Killer ab nach dem Besuch der Ausstellung "Garden Futures - Designing with Nature" im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein. Der Vorschlag der Kuratoren, die ganze Erde als Garten zu verstehen, leuchtet ihm sofort ein: "Was ganz privat dazu führt, dass man sich nach vielen Jahren im Ringen um den perfekten Rasen von der albernen Nordkorea-Idee homogen gedrillter Halme in Reih und Glied verabschiedet. In diesem Frühjahr sieht der eigene Garten gelblich aus. Das anarchische Moos ist auf dem Vormarsch. Von der Textilkünstlerin Alexandra Kehayoglou ist im letzten Raum ein riesiger Teppich in der Anmutung einer kargen Landschaft zu sehen, die in ihrer Mooshaftigkeit auch reich ist. Karg, reich, im Werden, im Vergehen. Es geht um die Kunst der Balance. Als faschistoider Kleingärtner wird man, versprochen, nie wieder 'Moosfrei'-Rasendünger verwenden. Man wird das Moos umarmen. Irgendwo muss man ja mal anfangen mit dem Weltretten."
Archiv: Design

Literatur

Richard Kämmerlings hat sich auf der Hamburger Reeperbahn für die Welt mit Georg Klein getroffen, dessen neuer Erzählband "Im Bienenlicht" gerade erschienen ist. Der Tod und das Jenseits - in der Literatur wie im wirklichen Leben - sind ihr Thema: "In 'Bruder aller Bilder', seinem jüngsten Roman von 2021, hat Klein seine bayerisch-schwäbische Herkunftsprovinz als Gedächtnislandschaft voller Zeichen und Wunder entworfen, wo altmodische, funktionslos gewordene technische Geräte - ein Münztelefon, ein Röhrenfernseher - zur Kommunikation mit den Toten dienen. Das war auch eine literarische Form von Trauerarbeit. Doch dann sagt Georg Klein ganz ernst: 'Den technischen Medien traue ich unheimlich viel zu. Wenn das Telefon klingelt und mein verstorbener Bruder wäre dran, ich würde mich nicht wundern. Ich würde eher sagen: Du hast dir ja ganz schön Zeit gelassen, dich zu melden.'"

Weitere Artikel: Jan Wiele unterhält sich für die FAZ mit Bret Easton Ellis.

Besprochen werden Ilona Haberkamps Biografie der deutschen Jazzerin Jutta Hipp (taz), der Sammelband "Canceln - ein notwendiger Streit" (taz), Dominic Oppligers "Giftland" (NZZ), Mary Hunter Austins Essay über den amerikanischen Westen "Wo wenig Regen fällt" (taz), Teresa Präauers Roman "Kochen im falschen Jahrhundert" (Tsp), Fen Verstappens "Lebenslektionen meiner Mutter" (taz), Julia Trompeters Lyrikband "Versprengtes Herz" (FR), Shelly Kupferbergs Roman "Isidor. Ein jüdisches Leben" (SZ), Toni Morrisons "Rezitativ" (SZ), Witold Gombrowiczs von Rolf Fieguth neu übersetzter Roman "Ferdydurke" (FAZ), Andreas Maiers Roman "Die Heimat" (FAZ) und ein Band über "Die mutigen Frauen Irans" (FAZ).

In der Frankfurter Anthologie analysiert Norbert Hummelt Jürgen Beckers Gedicht "Anrufbeantworter":

"Zu spät vielleicht; da liegt noch
die Einladung, aber als die Stimme vom Band
kam, legte ich gleich auf.
..."
Archiv: Literatur

Musik

Interviews mit Musikern sind langweilig, aber die gequälten Journalisten kriegen das trotzdem immer noch besser hin als jede KI. Ganz anders sieht es mit den Musikern aus, spottet Detlef Diederichsen in der taz. Die könne KI jederzeit ersetzen: "Man könnte den Künstler-Bot auch noch realistischer machen, indem man ihm verschiedene Launen antrainiert, die dann per Zufallsgenerator zum Einsatz kommen. Richtig spannend würde es, wenn dieser brillante, aber launische Antwort-Bot von einem ebenso gut und komplex programmierten Frage-Bot gegrillt würde. Sicherlich ein Gewinn für den Musikjournalismus."

Weiteres: Doris Akrap unterhält sich für die taz mit Herbert Grönemeyer über dessen neues Album "Das ist los". Martin Scholz plaudert für die Welt mit Martin Gore von Depeche Mode.

Besprochen werden Sigrid Faltins Filmporträt der Geigerin Anne-Sophie Mutter (taz), das Grönemeyer-Album "Das ist los" (FR), Depeche Modes neue CD "Memento Mori" (FR, BlZ), Lana Del Reys Album "Did You Know That There's a Tunnel Under Ocean Blvd" (FR, Standard, SZ, Welt) und ein Konzert von Snoop Dog in Berlin (BlZ, Tsp).
Archiv: Musik