Efeu - Die Kulturrundschau

Irgendetwas ist immer am Klöppeln

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18.02.2023. Auf der Berlinale erzählt Regisseurin Steffi Niederzoll der taz, wie es kam, dass ausgerechnet sie eine Doku über die in Teheran hingerichtete Studentin Reyhaneh Jabbari drehen konnte. Die Berliner Zeitung lernt aus Sepideh Farsis Animationsfilm "La Sirène" (Panorama), dass selbst der Krieg manchmal schön aussehen kann. Die SZ sieht den Frühling auf der Bühne - in Gestalt der Sopranistin Vera-Lotte Boecker als "Daphne". Die taz porträtiert das koreanische Duo Salamanda als Alternative zum K-Pop.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.02.2023 finden Sie hier

Film

Kampf gegen die Willkür: "Sieben Winter in Teheran"


Steffi Niederzoll hat mit "Sieben Winter in Teheran" einen nun in der "Perspektive" der Berlinale gezeigten Dokumentarfilm über die sieben Jahre in Teheran inhaftierte Studentin Reyhaneh Jabbari gedreht, die am Ende ihrer Haftzeit hingerichtet wurde. Dafür war die Filmemacherin auf Hilfe angewiesen, erzählt sie im taz-Gespräch: "Es ist Wahnsinn, wie viel diese Menschen riskiert haben, indem sie Handys rein- und Fotos rausgeschmuggelt haben." Jabbaris Angehöre hatten sie "gefragt, ob ich nicht aus den Ton- und Videoaufnahmen aus Reyhanehs Haftzeit einen Film machen möchte. In Iran haben sie niemanden gefunden, der sich das traute, für mich als Deutsche war es sehr viel weniger gefährlich. Das war ein ziemlicher Vertrauensvorschuss. 2017 habe ich dann Shole Pakravan kennengelernt, Reyhanehs Mutter. In dem Moment wusste ich, dass ich diesen Film unbedingt machen möchte und muss." Sie "hat nach der Hinrichtung ihrer Tochter weiter gegen die Todesstrafe gekämpft. Zusammen mit anderen Müttern, deren Kinder teilweise auf Demonstrationen während der grünen Bewegung 2009 erschossen worden sind, hat sie sich gegen willkürliche Verhaftungen eingesetzt."

Die Zwänge der Inszenierung: Emily Atefs "Irgendwann werden wir uns alles erzählen"

Emily Atefs Wettbewerbsbeitrag, eine gleichnamige Verfilmung von Daniela Kriens Debütroman "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" hat Perlentaucher Thierry Chervel insbesondere in den Sexszenen genervt: Der Film erzählt vor dem Hintergrund der Wende, wie eine junge Frau vor dem Hintergrund der Wende ihren Freund mit einem doppelt so alten Mann betrügt, welcher im Bett zum Grobian wird - was die Frau gerade seine Nähe suchen lässt: "Das war immer schon das Problem dieser Filme. Sie basieren auf einem Roman, aber Sex in einem Roman, in dem die Leser ihre eigenen Fantasien mit der Erzählung des Autors verknüpfen können, ist etwas ganz anderes als die äußerliche Inszenierung von Sex, die so gut wie immer peinlich ist. Nichts durchbricht den guten Willen eines Filmzuschauers mehr als eine Sexszene, der man plötzlich all die Zwänge der Inszenierung anmerkt. Die meisten Regisseure der Filmgeschichte von Hitchcock bis Godard waren klug genug, niemals eine Sexszene zu inszenieren. Wem (außer vielleicht David Lynch) ist je eine gelungen? Was in der Beschreibung pulsierende Lust ist, wird im Film zu einem Schnaufen und Hecheln und eruptiven Gebaren, gegen das man im Kino nicht mal eine Fast-Forward-Taste zu Hilfe nehmen kann."

Flächig im Dreidimensionalen: "La Sirène" von Sepideh Farsi

Sepideh Farsis Animationsfilm "La Sirène" (Panorama) erzählt vom Aufwachsen zur Zeit des Kriegs zwischen Iran und Irak. "Farsi inszeniert den Film zügig, mit viel Musik und einer Prise Humor, zeichnet dabei dennoch ein differenziertes Bild der iranischen Gesellschaft", berichtet Simon Rayß im Tagesspiegel. "Die Animationen von Zaven Najjar sind einfach gehalten. Realitätsbezug und künstlerische Verfremdung treten bei ihm in ein Spannungsverhältnis: Die Figuren wirken flächig, doch durch die vielen beweglichen Details entsteht um sie herum ein dreidimensional anmutender Raum." Sören Kittel staunt in der Berliner Zeitung: "Dieser beeindruckende Animationsfilm schafft etwas, das eigentlich unmöglich sein sollte: Er bringt schöne Bilder des Krieges auf die Leinwand. Da ist gleißendes Orange, wenn ein Ölturm in die Luft fliegt, da sind die großen Augen von Omid, die in allem ein Abenteuer sehen, und da ist die Distanz, die entsteht, wenn der Nebel sich verzieht und der Junge vor einem  Leichenfeld steht, das immer größer wird."

Weiteres vom Festival: Im Tagesspiegel dankt Till Kadritzke dem Forum für den nunmehr dritten Schwerpunkt "Fiktionsbescheinigung" mit migrantischen Perspektiven in der deutschen Filmgeschichte: Es sind gerade diese "marginalisierten Perspektiven, die deutsche (Film-)Geschichte nicht nur bereichern, sondern tradierte Vorstellungen davon, was damit eigentlich gemeint ist, fundamental in Frage stellen". Moritz Baumstieger wirft in der SZ anlässlich des Ukraine-Schwerpunkts der Berlinale einen Blick auf die ukrainische Filmindustrie, die versucht, im Kriegswahnsinn zu einem Produktionsmodus zurückzufinden: Zwar wird wieder produziert, doch viele Regisseure kämpfen im Krieg oder sind geflohen. Christian Schröder empfiehlt im Tagesspiegel Dominik Grafs heute in der (das Festival flankierenden) "Woche der Kritik" gezeigtem Essayfilm "Jeder schreibt für sich allein" über Schriftsteller, die in Nazi-Deutschland geblieben sind. Kirsten Taylor hat für den Tagesspiegel Filme aus der Jugendfilmsektion gesichtet. Dlf Kultur spricht hier mit Hannes Hirsch über dessen schwulen Club-Film "Drifter" und dort mit Frauke Finsterwalder über deren "Sisi und ich". Andreas Scheiner amüsiert sich in der NZZ über die desaströse Infrastruktur Berlins (überhaupt erst seit gestern Nacht ist der Potsdamer Platz wieder anders als zu Fuß oder per Bus zu erreichen) und die teils in blumigem Kitsch und Stilblüten versinkenden Filmbeschreibungen des Festivals.

Aus dem Festivalprogramm besprochen werden außerdem Tatiana Huezos Dokumentarfilm "El eco" über das Leben und Arbeiten in einem mexikanischen Bergdorf (taz), Matt Johnsons "Blackberry "(taz, Perlentaucher), Rolf de Heers Wettbewerbsbeitrag "The Survival of Kindness" (Perlentaucher) und Mario Martones "Massimo Troisi: Somebody Down There Likes Me" (taz). Daneben liefert Artechock kontinuierlich Kurzkritiken und längere Texte vom Festival. Und für den schnellen Pegelstand beim Festival unverzichtbar: Der Kritikerinnenspiegel von critic.de.

Außerdem: Im Tagesspiegel-Gespräch reagiert die Regisseurin Barbara Eder auf Frank Schätzings öffentliche Geringschätzung ihrer ZDF-Adaption seines Bestsellers "Der Schwarm": "Ich hab' das Gefühl, dass er am Ende doch nicht loslassen konnte". Der Standard plaudert mit dem Schauspieler Paul Rudd, der sich für die Marvel-Superheldenreihe erneut ins "Ant Man"-Kostüm gezwängt hat.

Besprochen werden  Mark Cousins' "The Story of Looking" (Filmfilter), Jörg Adolphs Dokumentarfilm "Vogelperspektiven" (FAZ) und die Klimaaktivisten-Serie "A Thin Line" (ZeitOnline).
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Literatur

Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Im "Literarischen Leben" der FAZ erinnert Tilmann Spreckelsen an Otfried Preußlers Reise in die Sowjetunion 1972.

Besprochen werden unter anderem Salman Rushdies "Victory City" (NZZ), Sunjeev Sahotas "Das Porzellanzimmer" (FR), Sylvie Schenks "Maman" (Tsp), Peter von Matts Essayband "Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten. Die Möglichkeiten der Literatur" (NZZ), Imani Perrys "South to America" (FAZ), eine limitierte Sonderausgabe von Georg Büchners "Woyzeck" (taz), Karl Ove Knausgårds "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" (SZ) und Birgit Birnbachers "Wovon wir leben" (FAZ).
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Bühne

Vera-Lotte Boecker als "Daphne". Foto: Staatsoper Berlin


SZ-Kritiker Egbert Tholl sieht im Schneetreiben den Frühling auf der Bühne - in Gestalt der Sopranistin Vera-Lotte Boecker als "Daphne", die morgen Premiere hat. Boecker singt "die Titelpartie der Oper von Richard Strauss hier an der Staatsoper Berlin. Singt mit betörender Präzision, mit einer quecksilbrigen Stimme, die aber stets über Kontur verfügt, heller Klang, fast schon irritierend leichte Koloraturen, wie nebenbei eingeflochten in Strauss' lange Monologe. Alles an dieser Stimme wirkt selbstverständlich, nichts wirkt gemacht, sondern ist stets der authentische Ausdruck der Figur, die auf der Bühne steht. Nach dieser Generalprobe kommt Boecker in die Kantine, durchquert diese ohne viel Aufhebens, doch [Regisseur Romeo] Castellucci sieht sie, springt auf und kniet sich vor sie auf den Boden, voller Bewunderung und vielleicht auch, weil er weiß, dass das, was er hier, an der Staatsoper unter den Linden, inszeniert, nur funktioniert, weil Vera-Lotte Boecker die Daphne singt, spielt." Boecker hat im übrigen auch ein eindrucksvolles Repertoire: von Henze bis Bizet.



Gina la Mela besucht für die FAZ die Proben zu "Kampf um Augsburg", eine Wrestling-Show, die im Rahmen des Brecht-Festivals im Augsburger Veranstaltungssaal der Alevitischen Gemeinde aufgeführt werden soll. "Und was hat das nun mit Brecht zu tun? Das klassische Wrestling folgt einer einfachen Gut-gegen-Böse-Logik. Selina Nowak tritt sonst als 'Face' an, so nennen sich die Guten. Jazzy Gabert machte Karriere als 'Heel', ging also immer wieder als Bösewicht in den Ring. Die klare Rollenverteilung sorgt für unmissverständliche Reaktionen. Applaus und Gejubel für die einen, Buhrufe für die anderen. Im Ring gibt es keine Grautöne. Selina Nowak gefällt diese Spannung: Als 'Nature Girl' soll sie zwar eine der Guten darstellen. Aber nicht alle Bewohner Augsburgs unterstützen das Klimacamp. Für [Festivalleiter] Julian Warner beginnt bei der Wrestling-Logik von 'Face' und 'Heel' die Überschneidung mit der Brecht'schen Idee des dialektischen Theaters: 'Wir fragen uns: Was passiert eigentlich, wenn ich versuche, die Probleme einer Stadt durch zwei völlig unvereinbare Linsen zu betrachten? Ist das produktiv?'"

Außerdem: Ingeborg Ruthe schreibt in der Berliner Zeitung zum Tod des Theaterregisseurs Friedo Solter.
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Kunst

Birgit Rieger unterhält sich im Tagesspiegel mit der Kuratorinnen Meg Onli über den heute 77-jährigen afroamerikanischen Videopionier Ulysses Jenkins, dessen von Onli und Erin Christovale kuratierte Retrospektive  "Without Your Interpretation" in der Julia Stoschek Collection in Berlin zu sehen ist. Zum neunzigsten Geburtstag von Yoko Ono gratulieren Katja Kullmann in der taz, Harry Nutt in der Berliner Zeitung, Saskia Trebing in monopol, Willi Winkler in der SZ Und Wolfgang Sandner in der FAZ.
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Stichwörter: Ono, Yoko

Musik

Hans Nieswandt porträtiert für die taz das koreanische Duo Salamanda, die ihm "aufgrund ihres selbstbestimmten Habitus und ihres autorinnenhaften Arbeitsprinzips wie eine überfällige, moderne Alternative zum omnipräsenten K-Pop und seines industriell erzeugten Mainstreams erscheinen". Streamingdienste packen deren Musik gerne unter Ambient, was die beiden "eher schulterzuckend an sich abperlen lassen. Analog zu den vielen kleinen Plätschergeräuschen, zart platzenden Bubbles, tröpfelnden Tropfen und anderen liquiden Klängen, die eine primäre Klangfarbe ihrer indigen-perkussiven Rhythmusgerüste sind. Bei aller Schaumbadhaftigkeit des Salamanda-Sounds handelt es sich doch um eindeutig mehr als nur stehende Drones und rauschende Soundcapes, wie sie handelsüblicher Ambient-Wohlklang ausmacht. Irgendetwas ist immer am Klöppeln." Hier spielen die beiden Musikerinnen ätherische Musik fürs Radio:



Außerdem: Mit dem Ehrbar-Saal versteckt sich in Wien eine echte Konzertsaal-Perle, schwärmt Miriam Damev im Standard. In ihrer Popkolumne für den Tagesspiegel denkt Nadine Lange über Popstars, die sich in der Öffentlichkeit rar machen, nach. Jan Feddersen (taz) und Harry Nutt (FR) schreiben Nachrufe auf Tony Marshall.

Besprochen werden das neue Album von Deichkind (Welt, mehr dazu hier), ein von Matthias Pintscher dirigiertes Ligeti-Konzert der Berliner Philharmoniker (Tsp), ein "Winterreise"-Abend mit Julian Prégardien und Michael Gees (FAZ), Derya Yıldırıms und Graham Mushniks Album "Hey Dostum, Çak!" (Freitag), das neue Album von Pink (Standard) und Johannes Schilds Buch "'In meinen Tönen spreche ich'. Brahms und die Symphonie" (FAZ).
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