Efeu - Die Kulturrundschau

Instabile Übergangszonen

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26.01.2023. Die FR empfiehlt Lukas Dhonts Filmdrama "Close" als Meisterwerk des Coming-of-Age-Films. In der Zeit verabschieden der Philosoph Markus Gabriel und der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich ohne großes Bedauern die Autonomie der Kunst - jedenfalls wenn sie "unhöflich" oder "moralisch verwerflich" ist. Auf Zeit online ermuntert uns der Autor Jan Brandt, den Schriftsteller Paul La Farge zu entdecken, der leider gerade gestorben ist. Der Tagesspiegel sieht keinen Grund, den Dirigenten Teodor Currentzis nicht zu feiern, nur weil er sich nicht von Putin distanziert. Anna Netrebko hat in Wiesbaden weniger Glück, berichtet die NZZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.01.2023 finden Sie hier

Film

Porträt einer Freundschaft: "Close"

Lukas Dhont schildert in seinem Oscar-nominierten Drama "Close", wie eine unbeschwerte Freundschaft zweier Jungs am Vorabend der Pubertät von einer unbedachten Frage ("Seid ihr ein Paar?") zerrissen wird. Wie das erzählt und inszeniert ist, damit hat Tagesspiegel-Kritiker Jan Künemund durchaus Probleme: Er vermisst einen "kritischen, systemischen Ansatz, mit dem man zeigen könnte, wie Männlichkeit in Familien und auf Schulhöfen sozial konstruiert wird; wie Normen über das Näheverhältnis von zwei Jungen entstehen und vermittelt werden; wie die normative Fremdwahrnehmung plötzlich das eigene Erleben dominiert. Aktuelle Untersuchungen aus Deutschland zum Beispiel zeigen, dass fast die Hälfte aller queeren Jugendlichen an Schulen gemobbt wird, sie kaum Hilfe von Eltern und Lehrer:innen erhalten, ein viel größeres Suizid-Risiko tragen. 'Close' schaut nicht da so genau hin. ... Aus queerer Perspektive wären da noch andere Geschichten zu erzählen." Zufriedener ist Perlentaucher Jochen Werner: Dhont "widmet sich einer kindlichen Trauerarbeit. Getragen wird das vor allem von seinem großartigen jungen Hauptdarsteller Eden Dambrine, in dessen großen Augen sich Zuneigung und Vertrautheit ebenso wie Zweifel und Verzweiflung spiegeln. Überhaupt ist dies - nicht nur inhaltlich, sondern auch formal - ein Film der Blicke mehr als einer der Dialoge."

Daniel Kothenschulte von der FR hält den Film für ein Meisterwerk des Coming-of-Age-Films. Mit psychologischem Realismus darf man hier zwar nicht rechnen, "doch hier gilt das Gesetz der Kunst: Dhont, ein Virtuose seines Handwerks, arbeitet mit sinnlichen Ereignissen, die in anderen Händen leicht ins Geschmäcklerische abgleiten würden - schwelgerischen Landschaftsbildern, wie von dem Blumenfeld, auf dem Léo arbeitet, oder einer zwar minimalistischen, aber doch hochemotionalen Filmmusik (Valentin Hadjadj). Nichts aber ist so eindringlich wie das Spiel des Hauptdarstellers Eden Dambrine in seiner ersten Rolle." Auch Standard-Kritikerin Susanne Gottlieb hat nichts als Lob für die beiden Kinderdarsteller Eden Dambrine und Gustav de Waele, denen es gelingt, "diese herzzerreißende Entfremdung mit sparsamen Emotionen umzusetzen".

In der FAZ ärgert sich Andreas Kilb über den erstaunlichen Erfolg von Edward Bergers deutscher Netflix-Produktion "Im Westen nichts Neues" bei den Oscar-Nominierungen (unser Resümee): Der Regisseur "biegt die Geschichte so zurecht, dass man sie wie einen Tornado hinter Glas schaudernd genießen kann. Er macht aus einem Buch, das die Nationalsozialisten verdammten und die Kommunisten verhöhnten, weil es ihre Ideologien ad absurdum führte, ein Spektakel. ... Das Kino kann auch eine Kunst sein. Sie sieht anders aus." Und überhaupt: das deutsche Kino. Neun Oscarnominierungen und fünf deutsche Produktionen im Berlinale-Wettbewerb (unser Resümee). Das "klingt schon recht selbstbewusst für ein Filmland, das in den letzten Jahren kaum international wahrgenommen worden ist", kommentiert Daniel Kothenschulte in der FR. "Da darf man schon erwarten, dass die Beiträge diese Überrepräsentanz in einem internationalen Wettbewerb durch ihre Qualität rechtfertigen."

Außerdem melden die Agenturen, dass der Schauspieler und Sprecher Wolfgang Draeger, die deutsche Stimme von Woody Allen, gestorben ist. Besprochen werden Davy Chous Adoptionsdrama "Return to Seoul" (Perlentaucher, taz), Kirill Serebrennikows Groteske "Petrov's Flu" (taz), Tine Kuglers und Günther Kurths Langzeit-Dokumentarfilm "Kalle Kosmonaut" über eine Jugend in Berlin-Hellersdorf (Freitag), die Komödie "Caveman" mit Moritz Bleibtreu (Standard), Chinonye Chukwus Lynchdrama "Till - Kampf um die Wahrheit" über die Ermordung Emmett Tills (taz) und Florian Zellers Depressionsdrama "The Son" (SZ). Außerdem weiß die SZ, welche Filme sich lohnen und welche nicht.
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Architektur

In der FAZ schreibt Niklas Maak zum Tod des indischen Architekten und Pritzkerpreisträgers Balkrishna Vithaldas Doshi, auf den Le Corbusier "großen Einfluss" gehabt haben soll: "Aber war es so einfach? Wenn man Le Corbusiers (und auch Louis Kahns) Architektur der Fünfziger- und Sechzigerjahre sieht, kann man darin auch sehr deutliche Einflüsse außereuropäischer und vor allem indischer Bauformen erkennen. Vielleicht muss man eher von einer Wechselbeziehung sprechen. In seinen eigenen Arbeiten passte Doshi, der 1927 im indischen Pune als Sohn eines Handwerkers geboren wurde, die europäische Moderne dem Klima des Subkontinents an, was ihr gut bekam. Der Komplex, in dem sein eigenes Büro residiert, hat luftige, offene Tonnengewölbe, die Schatten spenden und teilweise in den Boden eingesenkt sind, was ganz ohne Klimaanlage kühle Arbeitstemperaturen verspricht und somit Vorreiter einer klimaorientierten Architektur war, die man sich in Zukunft noch häufiger anschauen wird."

In der SZ erinnert sich Johanna Adorján daran, wie ein Tuktuk-Taxifahrer sie durchs indische Ahmedabad kutschierte auf der Suche nach Doshi. Hier ein kurzes Video über sein Bürogebäude:

Archiv: Architektur

Literatur

Es gibt eine nachträgliche Entdeckung zu machen: Der vor wenigen Tagen im Alten von 52 Jahren an Krebs gestorbene Schriftsteller Paul La Farge ist zumindest hierzulande ein Übersehener, schreibt der Schriftsteller Jan Brandt in seinem schwärmerischen Nachruf auf ZeitOnline. La Farges Romane versenken sich tief in der Weird Fiction - handeln von Städten, in denen Verschwundene Verschwunde suchen, von Pariser Stadtplanern des 19. Jahrhunderts oder den Abgründen des Horrorpioniers H.P. Lovecraft. "Ästhetisch stehen seine vielfach verschachtelten Romane zwischen denen von Jorge Luis Borges, Roberto Bolaño und Mohamed Mbougar Sarr und zeichnen sich durch Metafiktion und Intertextualität, üppige Fantasie und einen leidenschaftlichen Hang zur Romantik aus. Es sind einfallsreiche, bisweilen wahnsinnig unterhaltsame Vexierspiele, Labyrinthe aus Worten, echte mindfucks. Bei jedem erneuten Lesen hoffte ich nämlich, etwas übersehen zu haben und das jeweilige Geheimnis doch noch zu entschlüsseln. Aber sobald wir versuchten, uns in einer seiner wunderbaren Welten zurechtzufinden, verloren wir uns in ihnen."

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. In der NZZ gratuliert Ilma Rakusa dem Schriftsteller Dževad Karahasan zum Siebzigsten. Besprochen werden unter anderem Andrea Giovenes "Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero" (taz), Tillie Olsens "'Was fehlt'. Unterdrückte Stimmen in der Literatur" (online nachgereicht von der FAZ) und Franzobels "Einsteins Hirn" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Politik ist etwas aus der tiefen Vergangenheit, in der Gegenwart zählt vor allem die Kunst. So könnte man vielleicht Gregor Dotzauers Tagesspiegel-Kritik zu einem Berliner Schostakowitsch-Abend mit dem SWR-Symphonieorchester unter dem zuletzt für sein Schweigen zum russischen Krieg gegen die Ukraine sehr kritisierten Teodor Currentzis interpretieren. Versuchte der Komponist mit der gespielten Achten, die Gunst Stalins wiederzuerlangen? "Wer überhaupt Schostakowitsch spielen will, könnte man den Gründer der weltberühmten MusicAeterna im Perm interpretieren, muss akzeptieren, dass es nur eine Welt gibt, aus der diese Musik stammt.  Wie sollte man in den Wechselbädern des Grellen, Grotesken und Entrückten, des Hoffen und des Bangens, des Triumphs und des Verzagens, die die im Sommer 1943 komponierte Achte prägen, das Universelle auch nicht mit den Umständen der Entstehung in Verbindung bringen. ... Mit Currentzis' Gespür für dynamische Kontraste ergibt das eine Klanggewalt, die ihre Wirkung tut, dem Orchester aber noch in den fahl leuchtendsten Passagen regelrecht Glanz verleiht."

Hartmut Welscher spricht für das VAN-Magazin mit Stephan Mai, den Gründer der Akademie für Alte Musik Berlin, die er nach vierzig Jahren verlässt. Die Anekdote, dass er bei Konzerten in der Humboldt-Universität in den Achtzigern stets Honecker von der Wand nahm, kann er bestätigen: "Das stimmt wirklich. Die Genossen haben sich einfach einen Scheißdreck darum gekümmert, was in ihren Räumen stattfand. Ein Staat, der so festgefahren ist, der strotzt ja auch vor Desinteresse. Der Senatssaal ist ein Raum aus der Stalin-Zeit, aber sehr repräsentativ mit einer sehr guten Akustik. Wir haben dort gerne gespielt, aber gesagt: 'Wenn wir hier Musikalisches Opfer machen, dann gehen diese Bilder und Fahnen nicht.' Also haben wir die Fahnen hinter das Podium gelegt, die DDR-Fahne, die Fahne der Arbeiterklasse, die FDJ-Fahne … und den Erich abgehängt, hinter den Flügel gelegt und umgedreht."

Außerdem: Corina Kolbe berichtet für den Tagesspiegel vom Festival in Sils Maria. Arno Lücker spricht für das VAN-Magazin mit Ulrich Krämer zum Stand der Dinge in der Schönberg-Forschung. Außerdem schreibt Lücker in seiner Komponistinnen-Reihe für VAN hier über Esther Rofe und dort über Alicia Ann Spottiswoode. Wer in diesem Jahr musikalisch mitreden will, muss die Rapalben von Ice Spice und Glorialla hören, ist sich Julian Brimmers auf ZeitOnline sicher.



Besprochen werden Esa-Pekka Salonens neues Stück "Sinfonia concertante for organ and orchestra" (VAN), ein Auftritt von Bernd Begemann in Berlin (Tsp), Gaz Coombes' Soloalbum "Turn The Car Around" (Tsp) und eine Box mit Aufnahmen aus den Achtzigern von Mona Mur (taz).
Archiv: Musik

Bühne

In der NZZ schildert Christian Wildhagen, wie vehement der Intendant des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, Uwe Eric Laufenberg, das Engagement Anna Netrebkos für die Rolle der Abigaille in Verdis "Nabucco" verteidigt. Leicht ist es nicht: "Das hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst bezeichnete die Einladung Netrebkos auf Anfrage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung inzwischen als 'unangemessen' und nannte ihr Engagement eine 'Provokation' all derjenigen, 'die unter den täglichen Angriffen Russlands auf die Ukraine' zu leiden hätten 'oder bei uns davor Schutz suchen'. ... Laufenberg und das Hessische Staatstheater halten jedoch an dem geplanten Engagement Netrebkos fest. Das passt zum bisherigen kulturpolitischen Kurs des streitbaren Intendanten, der schon während der Corona-Pandemie angesichts von Aufführungsverboten und Theaterschliessungen immer wieder vehement auf die vom deutschen Grundgesetz garantierte Freiheit der Kunst gepocht hatte."

Weiteres: Susanne Lenz unterhält sich für die Berliner Zeitung mit Barrie Kosky über dessen Inszenierung von "La Cage aux Folles" an der Komischen Oper und die queere Szene. Rahel Zingg berichtet in der NZZ über die Generalversammlung des Schauspielhauses Zürich, die den Geschäftsbericht der Spielzeit 2021 und 2022 vorlegte, der einen Verlust von 2,05 Millionen Franken aufweist.

Besprochen werden Nicolas Stemanns Adaption von Kamel Daouds Roman "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung" fürs Schauspielhaus Zürich ("ine mehrfach verspiegelte Sache", grübelt nachtkritiker Andreas Klaeui), Christa Wolfs "Der geteilte Himmel" als Musical am Theater Schwerin (Vielleicht etwas unterkomplex, aber "Erfolgreich ist das Ergebnis zu nennen, weil es das Theater füllt", findet Arndt Voß in der nmz), Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" an der Hamburgischen Staatsoper (Ute Schalz-Laurenze lobt in der nmz das exzellente Orchester unter Kent Nagano und den Chor, Regisseurin Angelina Nikonova erzähle immerhin gut und spannend, wenn auch etwas unklar), Andrea Moses' Inszenierung des Kaiser-Weill-Wintermärchens "Der Silbersee" am DNT Weimar (dieser Silbersee "glänzt mit einem Sarkasmus, der wie Lack einen ätzenden Pessimismus überlagert", lobt Roland H. Dippel in der nmz), Ayad Akhtars "The Who and the What" am Berliner Renaissance-Theater (Tsp), Antonín Dvoráks Oper "Rusalka" in Wiesbaden (FR), Leonie Böhms Inszenierung "Schwestern" am Schauspielhaus Zürich (FAZ), Peter Konwitschnys Inszenierung von Giuseppe Verdis Oper "Die Macht des Schicksals" am Musiktheater Linz (FAZ) und Philipp Stölzls Inszenierung von Finegan Kruckemeyers Stück "Der lange Schlaf" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg (FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst

In der Zeit verabschieden der Philosoph Markus Gabriel und der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich ohne viel Federlesens die Autonomie der Kunst, mit der es vorbei sei, gerade weil Kunst immer wichtiger werde: "Je mächtiger die Kunst wird, desto mehr muss sie sich anpassen" und "den jeweiligen Höflichkeitsregeln folgen", verkündet Ullrich. "Denn sie will ja ein Teil der Gesellschaft sein und keine Außenseiterposition einnehmen. Und anders als im Museum oder im Konzertsaal geht es jetzt nicht mehr darum, das Werk andächtig zu rezipieren. Viel wichtiger wird die Teilhabe, und es geht, wie gesagt, um Identifikation. Besonders ausgeprägt ist das etwa bei aktivistischer Kunst: Da stehe ich nicht als Betrachter am Rand, sondern bringe mich ein, weil die Kunst einem politischen Zweck folgt, den ich richtig und gut finde." Gabriel findet hingegen, die Kunst sei eigentlich immer noch frei, nur "moralisch verwerflich" dürfe sie nicht sein.

Mit einer Sonderausstellung, die mehr als hundert Quadrate von Josef Albers zeigt, feiert das gleichnamige Museum in Bottrop die Eröffnung seines Erweiterungsbaus und treibt Patrick Bahners (FAZ) fast ins Delirium: "Die optischen Effekte sind oft beschrieben worden, und bei jeder Begegnung mit einem Gemälde aus der Serie können sie von Neuem begeistern. Die Flächen drängen hinaus über die Umrisskonstruktion, überschwemmen oder unterlaufen die Linien, verschmelzen mit den Nachbarflächen, um wieder auseinanderzutreten, aber nicht fein säuberlich, sondern in Bewegungen eines Vor und Zurück wie Auf und Ab, die instabile Übergangszonen des Aufleuchtens und Abklingens von Mischtönen erzeugen und im Auge Flecken hinterlassen. Das sind Wirkungen der Farbe".

Weitere Artikel: Felix Lill erzählt in der Berliner Zeitung von seiner Führung durch das Nationale Palastmuseum in Taipeh. In der SZ berichtet Isabel Pfaff von zwei Dauerleihgaben, die aus dem Kunsthaus in Zürich verschwunden sind.

Besprochen werden eine Ausstellung der "exakten Malerei" Michael Bettes in der Berliner Galerie Luzán (Tsp), die Ausstellung zum Ukrainekrieg "Früchte des Zorns" im Berliner Haus am Lützowplatz (taz) sowie die Ausstellungen "Wonderwalls" im NRW-Forum Düsseldorf und "Susanna" im Wallraf-Richartz-Museum Köln (die SZ-Kritiker Alexander Menden für ihre Niedrigschwelligkeit lobt).
Archiv: Kunst