Efeu - Die Kulturrundschau

Der Skandal einer liberalen Ordnung

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20.01.2023. In der SZ erklärt der Verfassungsrechtler Christoph Möllers: Die Kunst - auch die staatlich finanzierte - ist frei, selbst wenn sie rassistisch oder antisemitisch ist. Die Kritik daran muss sie dann aber auch aushalten. Die taz hört eine Compilation mit Gospels und lernt, dass diese Musik nicht nur vom Leiden, sondern auch vom Kämpfen handelt. Die Welt fragt, warum Amazon mit der "German Crime Story: Gefesselt" die Opfer des Frauenmörders Lutz Reinstrom erneut erniedrigen muss. Die SZ porträtiert den Mangaka Juko Matsudo, der mit einem Duell zwischen ukrainischen und russischen Fliegern plötzlich zu Ruhm gelangte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.01.2023 finden Sie hier

Kunst

Claudia Roth hatte nach der Documenta ein Gutachten bei dem Berliner Verfassungsrechtler Christoph Möllers, der auch die "Initiative Weltoffenheit" juristisch beriet, in Auftrag gegeben, um juristisch zu klären, wie der Staat und seine Kultureinrichtungen mit antisemitischen und rassistischen Werken umgehen sollen. In der SZ liest Jörg Häntzschel das fünfzigseitige Dokument nicht ohne Erstaunen, denn eine von Möllers' Thesen lautet: "Auch antisemitische und rassistische Werke und Äußerungen sind von der Meinungs- und Kunstfreiheit geschützt, auch in staatlich finanzierten Institutionen." Auch der "BDS-Beschluss hat für ihn 'keine rechtliche Bindungswirkung', und würde er sie beanspruchen, sagt er, verstieße er gegen die Meinungsfreiheit. Die Frage sei vielmehr: Wer kann in der Kulturbranche Meinungs- und Kunstfreiheit für sich beanspruchen - und mit welchen Konsequenzen? Meinung- und Kunstfreiheit sind laut seinem Gutachten nicht zu haben ohne den 'freiheitlichen Skandal der grundgesetzlichen Ordnung'. In anderen Worten: Wer in einem freien Land leben will, muss auch Dinge ertragen, die ihm nicht gefallen." Generell gilt laut Möllers: "Der Staat kann grundsätzlich keine Vorgaben zu Programmen oder zur Auswahl von Künstlerinnen in eingerichteten Institutionen wie Theatern oder Museen machen."

"Dass man sich antisemitisch oder rassistisch äußern darf, wirkt vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte wie ein Skandal, aber es ist der Skandal einer liberalen Ordnung, die nicht alles rechtlich sanktioniert, was sie politisch verurteilt", bekräftigt Möllers im SZ-Gespräch mit Häntzschel. Die Debatte müsse die Kunst dann aber auch aushalten: "Der Bundespräsident hat klargemacht, dass es eine bestimmte Art von politischen Äußerungen im Kontext der Kunst gibt, die man nicht schweigend tolerieren kann. Das war nach meinem Verständnis eine politische Kritik, kein staatliches Kunstrichtertum. Viele Künstler beanspruchen heute politische Relevanz - und wundern sich dann über politische Reaktionen. Ich verstehe nicht ganz, warum." Gleichwohl räumt er ein: "Wir werden, glaube ich, eine größere Diskussion darüber führen, ob im Kampf gegen Diskriminierungen der Meinungs- und Kunstfreiheit engere Grenzen gesetzt werden sollten. Das ist keine ungefährliche Diskussion für diese Freiheiten, aber sie wird kommen."

Die Verantwortlichen der letzten Documenta sehen jedenfalls keinen Anlass für eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Arbeit, fürchtet Peter Richter auf SZ online. "Schon ist auch zu hören, dass da ein ärgerlicher Nebenaspekt lediglich in den Medien aufgebauscht werde. Man kann vermutlich bereits jetzt Wetten darauf abschließen, dass bald irgendwer den Juden die Schuld geben wird am Untergang der schönen Documenta." Aber vielleicht hat ja auch Hito Steyerl recht und eine "Weltkunstausstellung" ist eh eine imperialistische Idee von gestern, überlegt Richter. "Die Biennale von Venedig ist am Ende wiederum die gültigere 'Weltkunstschau' in dem Sinn, dass hier neben den thetischen Setzungen des Kurators der Hauptausstellung in den davon unabhängigen Länderpavillons ein wirklich diverses Bild davon vermittelt wird, was rund um den Globus gerade jeweils so als relevant angesehen wird."

Besprochen werden eine Ausstellung von Matthias Groebel im Düsseldorfer Kunstverein (taz), die Ausstellung "Sunset. Ein Hoch auf die sinkende Sonne" in der Kunsthalle Bremen (Tsp) und eine Ausstellung mit Werken von Karel Appel in der Berliner Galerie Hetzler (BlZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Ueli Bernays berichtet in der NZZ von einem Publikumsgespräch am Theater Zürich angesichts des Rückgangs der Zuschauerzahlen: "Ein wenig war's wie bei einem Blinddate: Wer würde kommen? Wie würde man sich verstehen? Und irgendwo im Hinterkopf die Hoffnung auf eine große Liebe." Daraus wurde dann allerdings nichts.

Besprochen werden Elias Perrigs Inszenierung von Anna Zieglers Familienmelodram "The Wanderers" am Ernst Deutsch Theater Hamburg (nachtkritik) und Olivier Kellers Inszenierung von Alexander Stutz' "Die Entfremdeten" am Theater St. Gallen (nachtkritik).
Archiv: Bühne
Stichwörter: Theater St. Gallen

Literatur

Für die SZ porträtiert Thomas Hahn den ziemlich verschüchterten japanischen Mangaka Juko Matsuda, der eigentlich nur Hintergrundzeichner für etablierte Mangaka ist, aber mit auf Twitter veröffentlichten Zeichnungen von Kampfjets die Aufmerksamkeit eines ukrainischen Verlegers auf sich zog und nun mit der Geschichte "Der Geist von Kiew" über ein Duell zwischen ukrainischen und russischen Fliegern einen Hit in der Ukraine feiern kann. Als großen Künstler sieht er sich dabei nicht. "Wahrscheinlich ist genau das der Grund für den Erfolg: diese Manga-Routine in Schwarz-Weiß, die den Krieg ohne nationalistische Feindseligkeit als Drama für alle darstellt. ... Seine Hefte sind Plädoyers gegen die Gewalt. Juko Matsuda erzählt 'Geist von Kiew' aus der Perspektive der russischen Armee, die ein geisterhaft am Himmel auftauchender ukrainischer Jet überrumpelt. Einmal lässt er einen russischen Soldaten sagen: "Gegen was kämpfen wir überhaupt?" Auf den wenigen Seiten gelingt es Matsuda, die Verzweiflung der Angreifer vor der Unwägbarkeit des Kampfes in Szene zu setzen. Russische Verwundbarkeit betrachtet aus japanischer Distanz - das gefällt in der Ukraine."

Weiteres: In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Thomas Hummitzsch wirft in seinem Intellectures-Blog einen Blick auf Bücher über Susan Sontag, die am vergangenen Montag 90 Jahre alt geworden wäre. Willi Winkler schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Schriftsteller Jonathan Raban. Julia Genazino erinnert sich in der FAZ an ihren Vater, den Schriftsteller Wilhelm Genazino, der kommenden Sonntag 80 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden Annie Ernaux' "Ein junger Mann" (Dlf Kultur), Tom Lins Krimi "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu" (Dlf Kultur), Marko Pajevićs "Poetisch denken: Jetzt" (Tell), Philipp Schönthalers "Die Automatisierung des Schreibens & Gegenprogramme der Literatur" (54books), Donald Antrims "An einem Freitag im April" (FR), der von Anne Hartmann und Reinhard Müller herausgegebene Band "Tribunale als Trauma. Die Deutsche Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbandes" (Welt), Dolly Partons "Run, Rose, Run" (TA) und Vladimir Jankélévitchs Studie "Henri Bergson" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Filmkunst trifft Porno: "Change pas de Main" von Paul Vecchiali

Der französische Autorenfilmer Paul Vecchiali ist bereits am 17. Januar gestorben. Cargo hat daher einen Text von Ekkehard Knörer aus dem Jahr 2011 über diesen großen Eigensinnigen online gestellt: "Alles hat Platz in Vecchialis Filmen. Es steht sich großartigerweise dabei nichts im Weg. Gerät nur aneinander auf der fröhlich-vergeblich unverdrossenen Suche nach der Dialektik des Heterogenen. Die Figuren und Szenen fallen sich in den Arm, manches fällt dem Zuschauer auf die Nerven, man singt melancholische Lieder, Verhältnisse werden zum Tanzen gebracht, was nicht gesagt werden kann, wird gesungen, die Dinge nehmen brutal unerwartet eine Wendung, Szenen und auch die Musik beginnen plötzlich und enden abrupt. Wie schlug das jetzt nochmal um? Wie sind wir hierhin geraten? Wo das Disruptive Gesetz ist, ist erst einmal kein Element per se fremd. Das ist vielleicht die entscheidende innere Ökonomie dieses Werks: Es geht alles. Was auch heißt: Man fliegt immer wieder raus, aus der Stimmung, die eben noch herrschte, aus der Geschichte, auf die diese Szene noch zulief, denn die nächste will schon wieder anderswo hin."

Verzerrender Spiegel: "German True Crime: Gefesselt" (Amazon)

Mit "German Crime Story: Gefesselt" buttert nun auch das deutsche Amazon ins True-Crime-Geschäft und erzählt die Geschichte des realen Serienmörders Lutz Reinstrom, der in den Achtzigern mehrere Frauen ermordete - wenngleich die Geschichte im Zugriff aufs Material sehr frei erzählt ist, wie Elmar Krekeler in der Welt anmerkt. "Was die beiden Grimme-Preis-gekrönten Head-Autoren Michael Proehl und Dirk Morgenstern mit dem Fall gemacht haben, kann man vielleicht mit einem verzerrenden Spiegel vergleichen, den sie vor Reinstroms Mordgeschichte gehalten, dann fallen gelassen und kunstvoll versetzt neu zusammengebaut haben." Die Rechnung geht aber offenbar nicht auf: "Zusammen mit dem völlig unnötigen exzessiven Austeilen dessen", was den Frauen angetan wurde, "stellt sich ein ganz horrendes Gefühl ein: dass hier nämlich zur Herstellung von billigem Horror Opfer zur höheren Ehre der Quote erneut erniedrigt werden."

Weitere Artikel: Fatal und frustrierend findet es Roland Teichmann, Leiter des Österreichischen Filminstituts, im Standard-Gespräch, dass mit dem Fall Teichtmeister und dessen als Verdacht im Raum stehende Deckung durch die Filmbranche "für die Verfehlungen einiger weniger eine ganze Branche in Misskredit gerät". Die Welt plaudert mit Charlotte Gainsbourg. Der Tagesspiegel plaudert mit Fahri Yardım. In der FAZ gratuliert Freddy Langer der Schauspielerin Marita Breuer zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Damien Chazelles "Babylon" (Standard, Welt, Artechock, unsere Kritik) und Andrea Davids Buch "Szene für Szene die Welt entdecken" über ihre Reisen zu Drehorten (taz).
Archiv: Film

Musik

Antonio Pappano verlässt in diesem Jahr seinen Posten als Chefdirigent des Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom - wird er Daniel Barenboims Nachfolger an der Berliner Staatsoper? Clemens Haustein von der FAZ fallen dafür jedenfalls nichts als gute Gründe ein (auch wenn die Tatsache, dass Pappano ab kommender Saison Simon Rattle beim London Symphony Orchestra beerbt, vielleicht ein Gegenargument wäre): "Pappano kennt Haus und Orchester, wird vom Publikum geschätzt, von den Sängern geliebt, ist musikalisch ebenso unnachgiebig wie menschlich verbindlich und könnte an der Staatsoper das italienische Repertoire stärken, das an den Berliner Opernhäusern mehr oder weniger brachliegt. Nach wie vor hat Pappano - auch und gerade in diesen Tagen - engen persönlichen Kontakt zu Barenboim, dessen Assistent er einst war und der bei der Suche nach seinem Nachfolger ein gewichtiges Wörtchen mitreden dürfte."

Mit der Vorstellung dass die Sklaven in den USA in ihren Liedern ihr Leid fügsam besungen haben, woraus dann frommer Gospel wurde, räumt Mat Callahans sich über ein Buch, eine Compilation mit Neuaufnahmen historischer Fundstücke und einen Dokumentarfilm erstreckendes Projekt "Songs of Slavery and Emancipation" gründlich auf. "Zu entdecken gibt es in diesem Materialberg viel", schreibt Benjamin Moldenhauer in der taz. Zu hören gibt es "31 Songs: 16, die von Sklav:innen geschrieben und gesungen worden sind, und 15, die als 'Abolitionist Songs' firmieren. Von den Betroffenen wie auch von den über das Unrecht Empörten wird die Sklaverei nicht mehr nur als Quell des Leidens angeprangert. Es geht um ihre Abschaffung, auch mit Gewalt." So wird "plausibel, dass von Beginn an Bilder einer kollektiven Befreiung selbstverständlicher Teil dieser Tradition waren", die auch in Blues, Jazz und HipHop münden. So will dieses Projekt "mehr sein als nur eine Ergänzung zum bestehenden Kanon der Musik von US-Sklaverei. Eher geht es darum, einen historisch fundierten Gegenkanon zu etablieren, der die eigene Konstruktionsarbeit nicht verbirgt und in dem die Versklavten als handelnde, bewusste und kämpferische Subjekte erscheinen, die ihren Peinigern moralisch und am Ende auch politisch überlegen waren." Die Compilation kann man auf Bandcamp hören und kaufen, der Dokumentarfilm steht auf Youtube:



Weitere Artikel: Im Standard staunt auch Karl Fluch (nach Joachim Hentschel in der SZ - unser Resümee) über den Erfolg von Bad Bunny, dem international größen Popstar, den außerhalb der spanischsprachigen Welt aber kaum jemand kennt. Hartmut Welscher spricht für das VAN-Magazin mit dem Tasteninstrumenten-Restaurator und Pianist Martin Helmchen. In Frankfurter Allgemeine Quarterly porträtiert Joachim Hentschel die Rapperin Ebow. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker in dieser Woche hier über Esmeralda Athanasiu-Gardeev und dort über Rosa Giacinta Badalla. Außerdem arbeitet sich Lücker für VAN durch diverse Interpretationen von Olivier Messiaens "Quatuor pour la fin du temps".

Und eine traurige Meldung aus der Nacht: "Mr Tambourine Man" David Crosby ist gestorben. Bei Vulture schreibt Devon Ivie einen ersten Nachruf. Vor ein paar Jahren lief der Porträtfilm "Remember My Name" über ihn - der Trailer verschafft ein paar schöne Archivmaterial-Eindrücke:



Besprochen werden Ryuichi Sakamotos neues Album "12" (taz, mehr dazu bereits hier), ein von Paavo Järvi dirigiertes Konzert des Tonhalle-Orchesters mit dem Flötisten Emmanuel Pahud (NZZ), ein Berliner Konzert von Igor Levit (Tsp), der Auftakt des Berliner Ultraschall-Festivals (Tsp, hier zum Nachhören) und "Mercy", das erste Album des früheren Velvet-Underground-Musikers John Cale seit elf Jahren (ZeitOnline, Standard, FAZ).

Archiv: Musik