Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Lesen wie ein Singen

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16.01.2023. Auf ZeitOnline erklärt Bret Easton Ellis, wie cool er einst die Gefühlstaubheit verwöhnter Slacker in Los Angeles fand. Einen Hauch von Nihilismus spürt die Nachtkritik in Stefan Böschs Stuttgarter Inszenierung von Schillers "Don Karlos". Die FAZ besichtigt den Novartis-Campus von Basel, mit dem Vittorio Magnano Lampugnani die Ideale der europäischen Renaissance-Stadt wiederbelebte. Außerdem ärgert sich die FAZ, dass das Forum der Berlinale nicht Hans-Jürgen Syberbergs "Demminer Gesänge" zeigen will.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.01.2023 finden Sie hier

Bühne

Schillers "Don Karlos" am Schauspiel Stuttgart. Foto: Thomas Aurin 


Stark besetzt findet Nachtkritiker Steffen Becker Stefan Böschs Inszenierung von Schillers "Don Karlos" am Schauspielhaus Stuttgart, aber er spürte an dem Abend auch einen Hauch von Nihilismus wehen: "Weltensturm und Politik - auf Spurenelemente reduziert. Der Pathos des Sturm und Drang - entsorgt. Bösch konzentriert sich auf die Menschen - in der Kleinheit ihrer (verhinderten) emotionalen Bedürfnisse. Das Ambiente - so spartanisch wie es nur geht: Neon-Röhren, Stühle, ein Schreibtisch. Das Figurentableau - auf den Kern reduziert. Die Ideale der Figuren schrumpeln im fahlen Bühnenlicht der Inszenierung in die 'das funktioniert doch eh nie-Kategorie. Sie haben die Wünsche, etwas zu verbessern an der Welt. Aber es ist von vorneherein klar, dass diese Aufgabe zu groß ist für sie. Und sie scheinen es selbst zu wissen. Auch der Kindskopf Don Carlos. Regisseur Bösch stattet ihn mit einem schwarzen Federbusch um die Schultern und Kajal um die Augen aus. Aber diese Insignien der Rebellion sind aufgesetzt... Felix Strobels Carlos will nicht lange sinnieren über Ehre, Treue, Freiheitskampf. Er will sich fühlen - in der Liebe zu seiner Stiefmutter. Eine Witzfigur ist er trotzdem nicht." In den Augen von FAZ-Kritiker Jürgen Kaube legt Böschs Inszenierung vor allem die Schwächen der Schiller'schen Vorlage frei: "Schon bei Schiller zerfallen Staats- und Liebesaktion. Das Drama ist durchwirkt mit Jungsphantasien... Und der Marquis von Posa ist kein spanischer Politiker, sondern ein deutscher Idealist. Sein Aufstand fällt sofort in sich zusammen."

Einen großartigen Abend mit dem tollen Titel "Fast ein Hamlet mein Mephisto, ein Ödipus für Jedermann" verbrachte SZ-Kritiker Egbert Tholl mit Klaus Maria Brandauer in der Münchner Isarpilharmonie. Brandauer liest Shakespeare, Goethe etc.: "Es folgt eben dies: eine Stunde Dostojewski, das Kapitel 'Der Großinquisitor' aus dem Roman 'Die Brüder Karamasow', eine Stunde Ethik, Religion, Philosophie und das - wenig optimistische - Nachdenken über das Menschsein an sich. Keine Anekdote, nirgends. Aber freilich: eine Stunde Brandauer-Sound. Alterslos im Klang. Es ist ein Lesen wie ein Singen, zurückgenommen, sehr konzentriert."

Weiteres: In der SZ bringt uns Cathrin Kahlweit auf den Stand in der Affäre um den Wiener Burg-Schauspieler Florian Teichtmeister, der wegen des Besitzes von Kinderpornografie angeklagt ist. Er spielt auch in Marie Creutzers Oscar-nominierten Film "Corsage" mit. Auch der Standard berichtet ausführlich.

Besprochen werden Rieke Süßkows Inszenierung von Hans Henny Jahnns Anti-Atom-Stück "Der staubige Regenbogen" im Staatstheater Mainz (die zum Leidwesen des taz-Kritikers eine lineare Erzählung als patriarchal ablehnt und deswegen jedes Drama verspielt und nur einen "faden Eindruck des Schauerlichen" hinterlässt, FR), der Tanzabend "On the Move", mit dem sich Ballettdirektor Christian Spuck von Zürich nach Berlin verabschiedet (NZZ), Mina Salehpours Hommage "Die fünf Leben der Irmgard Keun" am Schauspiel Düsseldorf (SZ), Nikolaj Rimski-Korsakows "Märchen vom Zaren Saltan" an der Staatsoper Hannover (FAZ) und Verdis "Aida" fast wiegehabt mit Anna Netrebko, Elina Garanča und Jonas Kaufmann an der Wiener Staatsoper (Standard).
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Literatur


Im ZeitOnline-Gespräch seziert Dirk Peitz gemeinsam mit Bret Easton Ellis dessen neuen Roman "The Shards", der mit autobiografischer Grundierung ins Milieu der verwöhnten L.A.Kids der frühen Achtziger zurückkehrt, wo auch schon Ellis' Debüt "Unter Null" spielte. Es geht auch um die Gefühlstaubheit abgestumpfter 17-Jähriger, erfahren wir: "Ich fand die Taubheit cool", erklärt Ellis. "Und die Zeit war ja wirklich so, die späten Siebzigerjahre, frühen Achtzigerjahre besaßen eine gewisse Taubheit. Das Minimale, Kantige, Verknappte, das einem in der Literatur, der Musik begegnete, in Punk und New Wave, sprach zu mir. Ich mochte es. Ich mochte Punk. Punk war wie Hemingway-Sätze, absolut verknappt aufs Notwendige, in gewissem Sinne war auch Didion so, und dieses Verknappte wurde zu einem integralen Bestandteil meiner Ästhetik."

Die Feuilletons trauern um den Wiener Literaturkritiker und Feuilletonisten Ulrich Weinzierl, der, von Marcel Reich-Ranicki ins Blatt geholt, lange für die FAZ und schließlich für die Welt gearbeitet hat. Lothar Müller blickt in der SZ zurück auf "einen der markantesten Stilisten seiner Generation im Feuilleton der großen Zeitungen, eine Stimme im Blätterwald wie im mündlichen Diskurs". Er "war ein Goldschmied des Wortes", schreibt Jacques Schuster in der Welt. Gerhard Stadelmaier verabschiedet sich in der FAZ von einem Kulturmenschen, der in Lebensästhetik und Habitus wie aus einer anderen Zeit wirkte: "Man fühlte sich ihm gegenüber überhaupt immer wie in gerade vergegenwärtigten Vergangenheiten."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Peter B. Schumann wirft für das Literaturfeature für Dlf Kultur einen Blick auf die argentinische Literatur. Thomas Ribi von der NZZ hat viel Freude am Twitter-Account DailyMann, der zum Tag herausgesuchte Sentenzen aus Thomas Manns Tagebüchern bringt. In der FAZ gratuliert Tilman Spreckelsen dem Schriftsteller Reinhard Jirgl zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Jean Staffords "Das Leben ist kein Abgrund" (FR) und neue Hörbücher, darunter eine neue WDR-Adaption von "Vom Winde verweht" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Mayer über Marie Luise Kaschnitz' "Alles":

"Sprecht sie nicht aus, die Schönheit,
Verschweigt die Liebe ..."
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Architektur

Klaus Englert besichtigt für die FAZ den Novartis-Campus in Basel, bei dem sich auch die flamboyantesten Stararchitekten strikt an die Vorgaben des Architekturtheoretikers Vittorio Magnano Lampugnani halten mussten. Ein bisschen gediegen wirkt das Ergebnis vielleicht, meint Englert, aber Lampugnanis Klarheit besteche: "Ihm gelang es, den Novartis-Campus von architektonischen Gespreiztheiten freizuhalten, den beauftragten Architekten aber dennoch innerhalb der vorgegebenen Grenzen genug Raum zu geben, um ihre eigene Handschrift zu entwickeln. Der Architekturhistoriker wollte mit diesem Ansatz zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch einmal die Vorzüge der europäischen Stadt zelebrieren, deren Ursprünge in der italienischen Renaissance liegen... Dabei fallen schnell die städtebaulichen Vorlieben Lampugnanis auf: der durch ein orthogonales Straßenraster klar strukturierte Stadtraum, die räumliche Gliederung nach Hauptachse und kleinen Nebenstraßen, die mediterran anmutenden Arkaden entlang der Fabrikstraße, die dem Modell der fußgängergerechten Stadt folgen. Nicht zuletzt geht es ihm um die Auflockerung des urbanen Raums durch große und kleine, baumbepflanzte und offene Plätze. Auch der kleine schattenspendende Park, der sich ans Rheinufer schmiegt, entspricht Lampugnanis Stadtideal. Er gehört, ebenso wie die Liegewiese am Rhein, an wärmeren Tagen zu den beliebtesten Rückzugsorten der Novartis-Mitarbeiter."
Archiv: Architektur

Film

Simon Strauß zeigt sich im kurzen FAZ-Kommentar fassungslos, dass der neue, dreineinhalbstündige Filme von Hans-Jürgen Syberberg vom Berlinale-Forum abgelehnt wurde: "Demminer Gesänge" wirft einen Blick auf das Städchen Demmin in MeckPomm, wo es 1945 angesichts der vorrückenden Russen zu Massensuiziden kam. Der Regisseur "hat die Schreckensnacht als Kind miterlebt" und fischt nun "in der Bilderflut seines visuellen Tagebuchs. Und stößt dabei auf Fotografien von NPD-Aufmärschen zum 8. Mai - dazu raunt er schüchtern: 'der Markt hat es ausgehalten', 'auch das gehört dazu'. Ist darin eine untragbare Gesinnung zu erkennen?" Strauß würde den Film auch nicht einer breiten Öffentlichkeit zeigen, aber im Rahmen einer "besonderen Vorführung" auf der Berlinale unbedingt: "Das geböte nicht nur der Respekt gegenüber einer prägenden Figur der deutschen Filmgeschichte, sondern entspräche der Eigenanzeige einer Festivalreihe, die sich angeblich für 'ästhetischen Eigensinn' interessiert."

Außerdem: In seiner Zeit-Kolumne über Serien erinnert Matthias Kalle an die britische Science-Fiction-Serie "Black Mirror". Besprochen werden Claudius Seidls Biografie über Helmut Dietl (Jungle World), Gerard Johnstones Horrorfilm "M3gan" (Standard) und die Serie "The Last of Us" nach dem gleichnamigen Computerspiel (FAZ, Tsp).
Archiv: Film

Kunst

In der taz trauert Martin Treml um den verstorbenen Kunsthistoriker und Medientheoretiker Hans Belting: "Allem Modernen und Technischem immer aufgeschlossen, war Belting gleichzeitig tief dem verpflichtet, was er das 'Bild vor dem Zeitalter der Kunst' genannt hat, so der Untertitel seines Hauptwerks 'Bild und Kult' von 1990. Dieses Bild zeige nicht die möglichst virtuose Darstellung des Wirklichen und sei kein Fenster in der Wand, sondern ein solches in der Welt als die perfekte Darstellung des Überwirklichen, weil Göttlichen. Inbegriff dieses Bilds ist bis heute die Ikone des östlichen Christentums. Dass sie ironischerweise in der Avantgarde der westlichen Kunst um 1900 wieder auftauchte, griff Belting ebenso auf, wie er immer darauf verwies, dass gerade in den neuen Medien viel Älteres, ja Archaisches steckt."

Weiteres: Martin Conrads schildert in der taz die Schwierigkeiten der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, eine Ausstellung über die Rezeption von Picassos "Guernica" zu gestalten, da sie weder das Bild noch Reproduktionen davon zeigen darf: das sind die Erbengemeinschaft und die VG Bild-Kunst vor. Für die FAZ besichtigt Peter Kropmanns Cézannes Landsitz bei Aix-en-Provence, den Jas de Bouffan, der für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll.
Archiv: Kunst

Musik

In der FAZ gratuliert Dietmar Dath dem Komponisten Brian John Peter Ferneyhough zum 80. Geburtstag. Dessen Musik ist so kompliziert wie Daths Texte: "Einige Handlungen, die Ferneyhough in seiner Klangliteratur anordnet, hat er selbst für undurchführbar erklärt; es herrschen Interferenzen zwischen Optionen, die aus den Ohren beim Lauschen Interferometer machen, lebendige Sensoren für Abstände, die der aus dem Theaterwesen bekannten Unterscheidung gleichen zwischen Sprachkunst (sagen wir: dem Text von Shakespeares 'Hamlet') und Sprechkunst (sagen wir: David Tennant in der Hamletrolle). Nur wer Ferneyhough im Bewusstsein unüberwindlicher Textverwirklichungsbeschränkungen spielt oder hört, wird ihm ästhetisch gerecht." Hier Nihan Atalays Aufnahme von Ferneyhoughs "Cassandra's Dream Song", den Dath so beschreibt: "Eine Gespensterspinne stakst auf einem Kissen voll heiß angehaltenen Atems herum und sticht dabei mit ihren Beinchen Lücken in die Wolke, bis Glutluft stoßweise pfeifend entweicht."



Außerdem: Wolfgang Schreiber staunt in der SZ über die Berliner Kirchenmusik-Reihe "NoonSongs", der es zum Samstagmittag verlässlich gelingt, dass in der Kirche am Hohenzollernplatz in Wilmersdorf die Hütte brennt. Besprochen wird ein Auftritt von Igor Levit (FR).
Archiv: Musik