Efeu - Die Kulturrundschau

Verschwörung der Sanftmut

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2023. Die Zeit porträtiert den russischen Dichter Artyom Kamardin, der bei einer Lesung "Ehre der Kiewer Rus! Neurussland - fick dich" gerufen hat und deshalb vergewaltigt und inhaftiert wurde. Die Filmkritiker bewundern Mikhaël Hers' positive Emanzipationsgeschichte "Passagiere der Nacht". Monopol feiert iranische Rebellinnen, deren Porträts und Geschichten Soheila Sokhanvari im Londoner Barbican Centre zeigt. Die FAZ quält sich in Münster durch eine "Elektra" in SS-Uniform.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.01.2023 finden Sie hier

Literatur

In der Zeit macht Valerie Schönian auf die Lage des russischen Dichters Artyom Kamardin aufmerksam, der in Russland seit knapp einem Vierteljahr inhaftiert ist - weil er bei einer Lesung "Ehre der Kiewer Rus! Neurussland - fick dich" gerufen hat. Zuvor hatte er sich um seine Freundin Sascha Popowa gekümmert, die wegen Teilnahmen an Mahnwachen hinter Gittern saß. Schönian hält in dieser Zeit via Telegram Kontakt zu ihm und beobachtet wie das letzte bisschen Vertrauen in den Staat zerbröselt. Dann der schwere staatliche Übergriff: "Etwa drei Stunden sind die Polizisten in der Wohnung, schätzungsweise mehr als ein Dutzend. Die Männer treten und schlagen sie. Den Mitbewohner überkippen sie mit Benzin, das er für sein Zippo-Feuerzeug in seinem Zimmer lagert, und drohen ihm damit, ihn anzuzünden. Popowa schmieren sie Sekundenkleber ins Gesicht, schlagen sie mit einem ihrer Bücher, in dem es um Homosexualität in der Kirche geht, und drohen ihr damit, sie zu vergewaltigen, einer nach dem anderen. ... Die Polizisten schlagen Kamardin und drohen ihm damit, ihn zu töten. Sie beschimpfen ihn als Nazi. Sie zwingen ihn, sich auszuziehen. Dann nötigen sie ihn, sich mit der Eisenstange, an der seine Hanteln befestigt sind, selbst zu vergewaltigen. ... Die Menschenrechtsorganisation Memorial betrachtet Kamardin als politischen Gefangenen. Amnesty International nannte die Festnahme Kamardins 'selbst gemessen an der haarsträubenden Menschenrechtsbilanz' Russlands erschreckend."

Außerdem: In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Besprochen werden unter anderem Peter Kurzecks Nachlass-Fragment "Und wo mein Haus? Kde domov muj" (taz), Katie Kitamuras "Intimitäten" (ZeitOnline), Annie Dillards Essaysammlung "Einen Stein zum Sprechen bringen" (FR) sowie neue, literarisch hochambitionierte Comics von Nick Drnaso und Jordan Crane (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Verschwörung der Sanftmut: "Passagiere der Nacht" von Mikhaël Hers

In Mikhaël Hers' Film "Passagiere der Nacht" spielt Charlotte Gainsbourg eine geschiedene Frau in den Pariser Banlieues der Achtzigerjahre, die eine Streunerin bei sich aufnimmt. "Ein Gefühl der Ernüchterung, der Ohnmacht, der tiefen Melancholie", zieht sich durch diesen Film, schreibt Jonas Nestroy im Perlentaucher. Es geht um "zwischenmenschliche Solidarität. Hers entwirft einen Film der heilenden Fürsorge: Nicht nur im Bild zwischen den Figuren, sondern auch zwischen Kino und der französischen Gesellschaft nach Mitterand. Zu diesem Gestus will Hers, wenn die Krisen zwar permanent an der Tür klopfen, aber konsequent von der Erzählung ausgeschlossen bleiben. ... Dass das alles nicht so naiv wirkt, wie es klingt, liegt daran, wie bewusst Hers ein Kino aus der Vergangenheit, eine filmische Fiktion heraufbeschwört." Einen Rückzug ins Private beobachtet auch Valerie Dirk vom Standard: "Das politische Außen ist vor allem bläulich-kühle Kulisse: Hers arbeitet mit zahlreichen Archivaufnahmen, filmische Formate wechseln, und die Körnung, die Farben des Bildes bleiben dem Gefühl der Ära treu. Halt finden die Protagonisten nicht im meist nächtlichen Außen, sondern in Élisabeths warmer Plattenbauwohnung. Die ist zwar in einer Banlieue gelegen, aber in einer, die lebenswert und architektonisch inspirierend wirkt, und der Blick aus den großen Fenstern ist niemals trist, sondern ungemein poetisch."

Auf FR-Kritiker Daniel Kothenschulte "wirkt der Film wie eine Art gegenläufiges Melodram, das sich langsam zum Guten wendet. Die Traurigkeit ist nicht mehr als ein leiser, tiefer Grundton in dieser ungewöhnlichen Emanzipationsgeschichte einer nicht mehr ganz jungen Mutter." Und vor diesem "Hintergrund unterschwelliger Melancholie entwickelt dieser auf den ersten Blick unscheinbare Film ein geradezu unverschämtes Glück." Freitag-Kritiker Gerhard Midding bezeugt in diesem Film "eine Verschwörung der Sanftmut. ... Das Einverständnis mit dem Leben lässt der Film in einem Tanz zu viert kulminieren, in dem Innigkeit und Abschied verschlungen sind." Diese "nostalgische Reise in die Achtzigerjahre tastet sich an das Zeitkolorit heran, nicht als verlorenes Paradies, sondern als Epoche der Umbrüche, die Anker wirft in die Zukunft. Es ist eine Nostalgie im eigenen Namen - nach den Wurzeln der eigenen Cinephilie -, die sich aber nie vor die Figuren drängt."

Zeit und Raum in der kapitalistischen Moderne: "Unruh"

Cyril Schäublin erzählt in seinem Film "Unruh" davon, wie in den 1870er-Jahren der Anarchismus in einer Schweizer Uhrenmacherstadt Einzug hielt. Der Film handelt "von Fabrikation und Vermessung, von Zeit und Raum in der kapitalistischen Moderne", schreibt Philipp Stadelmaier in der SZ. Doch "insgesamt ist Schäublins Film zu kalkuliert, kontrolliert und beherrscht, um einen revolutionären Elan freizusetzen. Die Beziehungen zwischen Anarchie und Ordnung bleiben dank der Präzision, mit der der Filmemacher vorgeht, dann doch allzu geordnet. Und letztlich ist diese Art von Geschichts-Reenactment und Vergangenheitstheater immer auch eine Praxis, um nicht über die Gegenwart sprechen zu müssen." Hingegen "herausragend" findet FAZ-Kritiker Bert Rebhandl den Film. "Liebe und Anarchie fallen hier vielleicht für einen Moment zusammen, wie auch Politik und Kunst". Zu sehen "ist ein Revolutionsfilm, der sein Interesse dadurch deklariert, dass er einen historischen Moment aufsucht, in dem konkurrierende Regimes (Vaterlandsdemokratie und Internationalismus) und konkurrierende Agenden (bürgerliche Ordnung und deren proletarische Subversion) so aufeinandertreffen, dass man von einem Schlüsselmoment für die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit seinen gesellschaftsverändernden, totalitären Projekten sprechen kann." In der taz spricht der Regisseur über die Hintergründe seines Films.

Außerdem: Die Agenturen melden, dass die iranische Schauspielerin Taraneh Alidoosti gegen eine Kaution aus dem Ewin-Gefängnis entlassen wurde (unser Resümee). Der Tagesspiegel plaudert mit der Schauspielerin Anna Maria Mühe über ihre auf Netflix gezeigte (und in der FAZ besprochene) Thrillerserie "Totenfrau". Die Schauspielerin Olivia Hussey und ihr Kollege Leonard Whiting verklagen die Paramount-Studios auf 500 Millionen Dollar Schadensersatz, weil sie als damals Minderjährige in Franco Zeffirellis "Romeo und Julia" von 1968 eine (äußerst zahme) Szenen ohne Kleidung spielen mussten, meldet Claudia Reinhard in der Berliner Zeitung. In der FAZ gratuliert Claudius Seidl dem Schauspieler Günther Maria Halmer zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Martin McDonaghs "The Banshees of Inisherin" (FR, Freitag, Standard, ZeitOnline, taz, mehr dazu bereits hier) und die DVD-Ausgabe von Eric Brehmers "Wer wir gewesen sein werden" ("Leben und Tod, Präsenz und Für-immer-Vorbeisein sind hier auf eine Weise ineinander verschlungen, wie sie es nur im Kino sein können", schreibt Ekkehard Knörer in der taz). Außerdem weiß die SZ, welche Filme sich lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Kunst



Soheila Sokhanvari: Eve (Portrait of Katayoun (Amir Ebrahimi)), 2021 and Tobeh (Portrait of Zari Khoshkam), 2020 © Soheila Sokhanvari. Courtesy of the artist and Kristin Hjellegjerde Gallery

Hin und weg ist Jan-Philipp Fruehsorge (monopol) von den Miniaturporträts, auf denen die iranische Künstlerin Soheila Sokhanvari im Barbican Centre in London die Rebellinnen ihres Landes verewigt hat: "Wand und Boden sind vollflächig mit islamischen Ornamenten versehen, während aus Lautsprechern ein Soundtrack klingt, den Mariuous Aristopoulos aus den berühmtesten Stimmen jener Jahre kompiliert hat. Den Titel der Show, 'Rebel Rebel', hat sich Soheila Sokhanvari von David Bowie geliehen, und dass es Frauen in Iran nicht gestattet ist öffentlich zu singen, ist dabei nur ein Aspekt in dieser Zelebrierung ihrer heroischen Dissidenz. ... Der Parcours aus 28 Miniatur-Portraits, dramatisch beleuchtet im Halbdunkel des Ausstellungssaals, präsentiert Sängerinnen, Schauspielerinnen, Tänzerinnen und Autorinnen. Allesamt Frauen, deren Biografien von den schmerzvollen Herausforderungen erzählen, die ihnen in den Jahrzehnten des Pahlavi-Regimes abverlangt wurden. Der historische Kontext schönt nichts. Zwar wurde ihnen eine gewisse Sichtbarkeit zugestanden, die in den Jahren nach 1979 abrupt und brutal genommen wurde, doch in dem konservativ-patriarchalischen System hatten diese Frauen um ihre Autonomie und Karrieren hart zu kämpfen."

Weiteres: André Görke berichtet im Tagesspiegel von einer "toxischen" Ausstellung in der Zitadelle Spandau, wo die von Josef Thorak für Adolf Hitler geschaffenen riesigen Bronzepferde zu sehen sind. Da die Pferde "mit historischer Einordnung gezeigt werden", bleibt unklar, was daran toxisch sein soll. Kosten spielen im Louvre Abu Dhabi keine Rolle, versichert uns Sabine B. Vogel in der NZZ, deshalb kann man dort jetzt eine Blockbuster-Impressionistenschau sehen, die im Westen kaum noch einer finanzieren könnte oder wollte. Im Tagesspiegel erzählt Frank Herold von einem Ukrainer, der ein Banksy-Graffiti in Hostomel, einem Vorort von Kiew, klauen wollte. Ingeborg Ruthe erzählt in der FR von einem Experiment in Irland: 2000 Kunstschaffende profitieren dort drei Jahre lang von einem staatlichen Grundeinkommen von 325 Euro pro Woche: "Allerdings müssen alle Ausgewählten ihre Arbeit während des Pilotprojekts begutachten lassen und sich verpflichten, für Forschungszwecke regelmäßig über ihr Schaffen zu berichten."
Archiv: Kunst

Bühne

"Elektra" mit Merkel-Klytemnästra am Theater Münster. Foto: Martina Pipprich


Alles Nazis, sogar Mutti! Paul Georg-Dittrich hat am Theater Münster Richard Strauss' Oper "Elektra" inszeniert, mit Elektra in SS-Uniform, die Bruder Orest, einen Neonazi, zum Mutter- beziehungsweise Kanzlerinnenmord anstiften will, stöhnt Luise Weidlich in der FAZ: "Klytämnestra und Ägisth sind Angela Merkel und Gerhard Schröder, im Hintergrund sieht man Flammen auf einer Deutschlandkarte - sie markieren Orte mit Flüchtlingsunterkünften. Elektra beendet das Stück als Beate Zschäpe und sinkt, anders als bei Hofmannsthal, nicht tot zu Boden. Die Rache siegt: Zu dritt triumphieren Orest, Elektra und Chrysothemis in der Mitte der Bühne. So dunkel die Botschaft, so eindimensional bleibt sie auch. Die Zusammenhänge sind wirr. Die Ursachen für den Nationalsozialismus und die bis heute vital gebliebenen rechten Ideologien, verkörpert von Reichsbürgern und NSU, werden - geradezu mythisch - im Wesen 'des Deutschen' gesucht und gefunden."

Weiteres: In der FR erinnert Arno Widmann an die Welturaufführung von Becketts "Warten auf Godot" vor siebzig Jahren im im Théâtre de Babylone in Paris. Katrin Bettina Müller berichtet in der taz von finanziellen Problemen des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz in Berlin. In der Berliner Zeitung schreibt Ulrich Seidler den Nachruf auf die Schauspielerin Christina Drechsler, die mit 41 Jahren gestorben ist. Besprochen wird Emmerich Kálmáns Operette "Csárdásfürstin" in Halberstadt (nmz).
Archiv: Bühne

Musik

Gestern feierte Rammstein-Sänger Till Lindemann seinen 60. Geburtstag. Eine aus diesem Anlass ihm zu Ehren in Rostock-Evershagen aufgestellte Bronzestatue wurde aber nach nur einem Tag von bislang Unbekannten auch schon wieder entwendet, meldet Cornelius Pollmer in der SZ und führt aus diesem Anlass knapp und augenzwinkernd durch die Geschichte von Denkmal- und Statuenentwendungen. "Und der Bestohlene? 'In stillen Nächten weint ein Mann / Weil er sich erinnern kann', heißt es in einem der schönen Gedichte Till Lindemanns. Vergessen ist so leicht, solange es nicht ans Eingemachte geht."
Archiv: Musik
Stichwörter: Lindemann, Till, Rammstein