Efeu - Die Kulturrundschau

Ein von oben kommendes Pochen

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04.01.2023. Der Tagesspiegel erkennt im inzwischen berüchtigten Gespräch zwischen Michel Onfray und Michel Houellebecq auch ein Ringen mit der eigenen Lüsternheit. Dass gegen Houellebecq jetzt Strafanzeige gestellt wurde, findet die FAZ nicht abwegig. Im Filmdienst erklärt Daniel Kothenschulte, warum die Filmförderung nicht nur künstlerisch dem deutschen Kino schadet, sondern auch kommerziell. Die FR genießt in der Bonner Bundeskunsthalle die Oper als aristokratisches, glamouröses und bizarres Spektakel. Die taz bietet im Kunstmuseum Krefeld poetischen Klangmonstern die Stirn.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.01.2023 finden Sie hier

Literatur

Gregor Dotzauer beugt sich für den Tagesspiegel über das umfangreiche, in Frankreich erschienene Gespräch zwischen dem Philosophen Michel Onfray und Michel Houellebecq, das bei Erscheinen wegen einiger ziemlich rechter Positionen bereits für Aufsehen sorgte (unser Resümee) und nun auch in eine Anzeige gegen Houellebecq mündete: Chems-Eddine Hafiz, Rektor der Großen Moschee von Paris, bezichtigt den Schriftsteller wegen einiger Passagen, in der er sich eine Zukunft mit "umgekehrten Bataclans" ausmalt, der Anstachelung zum Hass gegen Muslime. "Weder Onfrays noch Houellebecqs Position sind neu. Sie stehen für Onfrays Entwicklung vom linkslibertären Nietzscheaner, der einst die staatsunabhängige Université populaire de Caen aufbaute, zum rechtsnationalen Unterstützer eines souveränen Frankreich - und für Houellebecqs ewige Provokationslust. ... Dabei spielt wohl auch ein Stück Ringen mit der eigenen Lüsternheit eine Rolle: Selbsthass eines Hedonisten, der mit dem Asketentum kokettiert. Houellebecqs Romane, allen voran 'Unterwerfung', wissen davon weitaus ambivalenter zu erzählen, als seine Äußerungen als öffentlicher Intellektueller es tun."

Schon vor zwanzig Jahren hatte Hafiz einen Prozess gegen Houellebecq angestrengt - damals ging es um den Roman "Plattform", Houellebecq hatte unter viel solidarischer Anteilnahme gewonnen. FAZ-Kritiker Niklas Bender hält es indessen für "unwahrscheinlich, dass Houellebecq wieder prominente Fürsprecher mobilisieren kann". Ihm "werden nach den Attentaten auf Bali und Charlie Hebdo sowie den 'Gelbwesten'-Protesten - Ereignissen, die jeweils Pendants in kurz zuvor veröffentlichten Houellebecq-Romanen hatten - geradezu hellseherische Fähigkeiten zugeschrieben. Kurz nach dem Gespräch mit Onfray wurden in Paris drei Kurden von einem bekennenden Rassisten ermordet. Es ist eine Sache, Attentate oder Proteste als wahrscheinlich anzukündigen, und eine andere, durch eindeutige Sympathie potenzielle Attentäter zu ermutigen und so Gewalttaten herbeizureden. Auch wenn der Mörder wohl kaum Houellebecqs Äußerungen rezipiert hat, scheint der Schriftsteller dieses Mal an einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung gewerkelt zu haben: durch Einlassungen, die Ressentiment und Gewalt rechtfertigen."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Besprochen werden unter anderem Timur Vermes' "Comicverführer" (taz), Finn Jobs Debütroman "Hinterher" (ZeitOnline), Bette Westeras und Sylvia Weves Kinderbuch "Auseinander" (Tsp), Tom Kummers "Unter Strom" (Standard), Peach Momokos Manga-Serie "Demon Days" (Tsp), Roland Barthes' "Proust. Aufsätze und Notizen" (SZ) und Hartmut Langes Novellensammlung "Am Osloer Fjord" (FAZ).
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Film

Daniel Kothenschulte setzt im Filmdienst seine Essay-Reihe zur Geschichte der deutschen Filmförderung fort. Diese fährt zweigleisig, führt er aus: Sie versteht sich als Wirtschafts- und Kulturförderung - wobei sich der Fokus in den letzten Jahrzehnten vor allem auf die Wirtschaftsförderung verlegte, um dem deutschen Film zu mehr kommerziellen Erfolg zu verhelfen - zumeist ergebnislos. . Darunter leidet insbesondere auch der künstlerische Film, der international viel größere Chancen hätte, wenn er denn nur gepflegt würde: "Warum, muss man sich fragen, verzichtet die deutsche Filmförderung, international repräsentiert durch die Exportunion 'German Films', auf eine Etablierung einer solchen Marke? Liegt es daran, dass künstlerische Filme in einer Filmbranche schlechter angesehen sind, weil Produzenten und Produzentinnen defizitärer Unterhaltungsfilme auf Filme mit geringeren Budgets herabblicken? Je kleiner die Kalkulation, desto geringer ist auch die 'Producer's Fee'." Anders als in Dänemark "verfolgen deutsche Förderinstitutionen kein ästhetisches Programm. ... Aber könnte eine Filmförderung nicht dezidiert die ästhetischen Schulen des deutschen Films unterstützen, ohne dabei andere Positionen zu vernachlässigen?"

Stoik (Brendan Gleeson, li.) und Begriffsstutzigkeit (Colin Farrell, re.) in "The Banshees of Inisherin" 

Martin McDonaghs irisches, im Jahr 1920 angesiedeltes Drama "The Banshees of Inisherin" über eine Freundschaft, die mit einem Mal auseinander bracht, bietet oscarverdächtiges Schauspielerkino: Insbesondere Colin Farrell wird von der Kritik bejubelt. Anders als Sandra Kegel in der FAZ behauptet, war Farrell zuletzt zwar nicht als Batman zu sehen (sondern als Batmans Gegenspieler Pinguin), dennoch staunt sie, "was für ein Charakterdarsteller in ihm steckt, wenn er verzweifelt über die Zurückweisung bei seinen Tieren Trost sucht oder mit seinen buschigen Augenbrauen immer neue Ausdrücke auf sein Gesicht zu zaubern vermag. Was seine Mimik da Stück für Stück freigelegt, ist das Erschrecken über eine Bedürftigkeit, die dem jungen Mann bislang fremd war: die Scham, womöglich etwas falsch gemacht zu haben, weil er nie etwas anderes mit seinem Leben anzufangen mochte, als im Pub zu sitzen und es nett zu haben. ... Dass dieser zarte und sprunghafte, mitunter rätselhafte Film als Ganzes funktioniert, ist dem virtuosen Spiel seiner beiden Hauptdarsteller Colin Farrell und Brendan Gleeson zu verdanken."

Ähnliches schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel: "Der Begriffsstutzigkeit des Einen, versinnbildlicht in Farrells konzentrierter Monobraue, und der essentialistischen Stoik des Anderen, vom Buddha-haften Gleeson buchstäblich ausgesessen, verleihen die stumpfen Kadenzen in McDonaghs Dialogen (ungläubige Wiederholungen, Lakonie, verräterische Auslassungen) eine Eigendynamik. 'The Banshees of Inisherin' dreht sich im Grunde um eine moralische Frage, die gerade auch den Kulturbetrieb beschäftigt: Wie wägen wir menschliche Qualitäten gegenüber dem künstlerischen Schöpfungsakt ab?

Weitere Artikel: Andreas Hartmann berichtet in der taz von Tarifkonflikten bei der Berliner Yorck-Kinogruppe - was insofern pikant ist, da die betroffenen Kinos auch mit der Berlinale zusammenarbeiten und es nun zu Belegschaftsstreiks kommen könnte. Tobias Mayer sorgt sich im Tagesspiegel nach dem vorzeitigen Aus für die deutsche Netflixserie "1899" um den Fortbestand seiner Lieblingsserien.

Besprochen werden Kaspar Kasics' Schweizer Portätfilm über die Feministin Erica Jong (NZZ), die britische Agentenserie "A Spy Among Friends" (taz) und die "Star Wars"-Animationsserie "The Bad Batch" (Welt).
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Kunst

Hermann Goepfert: Optophonium, 1961/62. Foto: Kunstmuseum Krefeld

Dass ausgerechnet Krefelds Kaiser-Wilhelm-Museum die experimentelle Klangkunst-Ausstellung "On Air" zeigt, gefällt taz-Kritiker Oliver Tepel, der sich mit Sinn für Ironie an der mechanischen Poesie der Klangmaschinen von Jean Tinguely und Güther Ueckers erfreut oder an der strengen Intellektualität von Bruce Nauman und John Baldessari: "Tatsächliche, unmittelbare, die Distanziertheit auch der antiakademischen Avantgarde durchbrechende Körpererfahrung suchen wenige Arbeiten. Gegen Ende der Schau trifft man auf Bernhard Leitners 'Vertical Space' aus dem Jahr 1975. Es erzeugt den Eindruck, man sei durchflossen von Klang, als würde man Teil der Töne, einem helleren, von oben kommendem Pochen und dunkleren, von unten aufsteigenden Sounds. Hermann Goepferts 'Optophonium' aus Holz, Metall, Farbe, Licht, Tonband, Lautsprechern und 57 Aluminiumplatten schafft, was sein Titel verspricht: eine audiovisuelle Science-Fiction-Fantasie der frühen 60er, so rauschhaft wie subtil."

Weiteres: Im Standard berichtet Olga Kronsteiner, dass die Erben des jüdischen Bankiers Paul von Mendelssohn-Bartholdy nun gerichtlich vom japanischen Versicherungskonzern Sompo Vincent van Goghs "Sonnenblumen" zurückverlangen. Monopol stellt die Personen vor, die im kommenden Jahr eine wichtige Rolle im Kunstbetrieb spielen werden. In Monopol erhebt Leonie Wessel grundsätzlichen Einspruch gegen die Wahl einer Farbe des Jahres durch die Farbe Pantone, besonders jedoch gegen das anstrengende Magenta.

Besprochen werden die Ausstellung "Kunst und Leben, 1918 bis 1955" zu rund zu fünfzig Künstlerbiografien im Münchner Lenbachhaus (FAZ) und die Rosemarie-Trockel-Retrospektive im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (Standard).
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Musik

Die Entscheidung des Rolling Stone, Aretha Franklin zur besten Sängerin aller Zeiten zu küren, stößt soweit auf nichts als Konsens - dass hingegen Celine Dion noch nicht mal unter den Top 200 dieser Liste geführt wird, auf viel Unverständnis, meldet Heide Rampetzreiter in der Presse. Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Schlagzeugers Fred White. In der SZ gratuliert Rammstein-Keyboarder Flake seinem Bandkollegen Till Lindemann zum Sechzigsten.

Besprochen werden neue Popveröffentlichungen, darunter "Ambient 23" von Moby ("Setzen, fünf", schimpft Christian Schachinger im Standard).
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Bühne

Félix Vallotton: "Au Francais, 3e balcón", 1909. Bild: Wikimedia



Nicht nur eine Ausstellung über die Oper, sondern über das opernhafte Wesen erlebt Judith von Sternburg (FR) in der Bundeskunsthalle in Bonn. Aber, baut sie etwaigen Erwartungen vor, die Schau diskutiert die Oper nicht kritisch, sondern sagt einfach Ja: "Zum Bizarren, zur Schönheit, zum Spektakel, zur Illusion, die angesichts des aufwendigen Gesamtgeschehens besonders unperfekt sein mag, aber vielleicht auch darum besonders mitreißend. Das ist keine Schwärmerei - dafür ist es schon viel zu detailliert -, das ist das, worum es geht... Eine Ausstellung als Oper: Chrubasik und Meier-Dörzenbach führen das Publikum in ein theaterkatakombenhaftes Labyrinth, mit Gängen, Foyers, Räumen hinter den Kulissen. Ein raffiniertes Hörstationen-System begleitet die flanierenden Menschen und sorgt dafür, dass an passender Stelle (wie von Geisterhand, notfalls per Nummerneingabe) Jessye Norman den 'Liebestod singt, oder Enrico Caruso 'E lucevan le stelle'. Denn natürlich geht es um die größten Opern, dazu die Häuser, die Stars, die Technik, den Markt."

Weiteres: In der Welt blickt Manuel Brug auf Serge Dornys nicht ganz reibungsfrei verlaufende Intendanz an der Münchner Staatsoper. Im Tagesspiegel besucht Patrick Wildermann das von Regisseur Ufuk Güldü gegründete Theater im Ballhaus Prinzenallee im Wedding.

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