Efeu - Die Kulturrundschau

Aus einem surreal flirrenden Pianissimo-Nebel

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.01.2023. Die Musikkritiker starteten in Berlin mit Daniel Barenboim und einem ungeschützt hoffenden Beethoven ins Neue Jahr. Im Standard erklärt der Schweizer Filmemacher Cyril Schäublin, wie sich Heute und Morgen ins Tick und Tack von Uhren übersetzte. In der FAZ warnt Jaroslav Rudiš davor, den tiefgründigen Humor Jaroslav Hašeks zu leicht zu nehmen. Und Hyperallergic kürt die machtlosesten Menschen des Kunstbetriebs.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.01.2023 finden Sie hier

Film

"Unruh" von Cyril Schäublin

Cyril Schäublin spricht im Interview mit dem Standard über seinen Film "Unruh", der von anarchistischen Revolten in der Schweizer Uhrenstadt Saint-Imier im 19. Jahrhundert erzählt. Zeit - historische Zeit wie skalierte Zeit - spielt eine zentrale Rolle in dem Film. "Die ersten Uhren wurden durch Sprache geschaffen, durch Abkommen wie die Definition von heute und morgen. Das übersetzt die mechanische Uhr in Tick und Tack. Und das ist auch nah am Geschichtenerzählen - was mich zu der Überlegung brachte, dass alle diese Ordnungen keine abgeschlossenen Wirklichkeiten sind. ... Für mich wird an dieser Epoche im 19. Jahrhundert sehr gut deutlich, was an der Geschichtsschreibung alles unzulänglich ist. Die Idee der Nation oder der kapitalistischen Organisation wurde so einzementiert, dass sie alternativlos erscheint - daher ist es wichtig zu erinnern, dass beides auf Imaginärem aufbaut."

Außerdem: In seiner Serien-Kolumne für die Zeit erinnert Matthias Kalle daran, wie die Sitcom "Friends" einmal Silvester aufgriff. Besprochen wird die Netflix-Serie "Kaleidoskop" (taz).
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Literatur

Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš begibt sich für die FAZ auf Spurensuche, wie viel vom Schriftsteller Jaroslav Hašek, der heute vor hundert Jahren gestorben ist, in Tschechien noch spürbar ist. "'Bei jedem tschechischen Autor, der einen guten Humor hat, spürt man im Hintergrund Jaroslav Hašek', sagt die Schriftstellerin Irena Dousková. Sie erwähnt Karel Poláček, selbstverständlich Bohumil Hrabal, Josef Škvorecký und Emil Hakl. ... Ähnlich wie Dousková empfindet auch Emil Hakl, dass man Hašek oft nicht richtig versteht, zu vereinfacht interpretiert und auf Bier und die lustigen Kneipenanekdoten reduziert. So auch seinen Roman über Schwejk und seine verrückte Reise auf die Schlachtfelder vom Ersten Weltkrieg. Es sei eben eine Täuschung, dass der weltweit erfolgreichste und meistübersetzte Roman der tschechischen Literatur ein rein humoristisches Werk sei, sagt Hakl, und dieses Etikett habe dem Autor und seinem Werk geschadet. 'Humor nehmen wir als etwas Erleichterndes wahr, was aber in diesem Fall nicht zutrifft. Schwejk ist wie ein Odysseus, der sich in den Kulissen der Weltapokalypse herumtreibt. Er ist eine Universalfigur im Sinne Kafkas.'" In der NZZ vom Samstag befasste sich auch Paul Jandl hier und dort mit Hašek und seiner berühmtesten Figur.

Außerdem: In der NZZ setzt Sergei Gerasimow hier und dort sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Dietrich Leder schreibt in einem großen Essay für das CulturMag über die Geschichte der Proust-Übersetzungen in Deutschland. Die Jury des Tagesspiegels kürt die besten Comics des Jahres - dabei ganz oben: Flix' Marsupilami-Hommage. Die CrimeMag-Jury gibt derweil ihre Krimis des Jahres bekannt - ganz vorne: "Davenport 160x90" von Sybille Ruge. Claudia Schülke (FAZ) und Claus-Jürgen Göpfert (FR) schreiben Nachrufe auf den Schriftsteller Peter Zingler. Und die taz bringt die Geschichte "Gurgelgeräusch", mit der Patrick Holzapfel (der im übrigen auch für den Perlentaucher als Filmkritiker tätig ist) den Open-Mike-Wettbewerb 2022 gewonnen hat. Besprochen werden unter anderem neue Krimis, darunter Tom Lins "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hubert Spiegel über Hans Magnus Enzensbergers "Die Seife":

"Wie stolz sie war, wie üppig sie anfangs
geduftet hat! Durch wie viele Hände ..."
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Kunst

Piet Mondrian: New York City I, 1941. Bild: Kunstsammlung NRW

Hyperallergic
kürt für das vergangene Jahr die machtlosesten Menschen im Kunstbetrieb. An erster Stelle rangieren die Sammler von NFT-Kunst, deren Erwerbungen im Laufe des Jahres bis zu 99 Prozent an Wert verloren, gefolgt unter anderem von den KünstlerInnen auf der Documenta 15 oder dem kulturellen Erbe von Tigray und der Ukraine. Und Piet Mondrian: "Er braucht unser Mitleid nicht, es ist einfach urkomisch, dass eines seiner Bilder seit 75 Jahren verkehrt herum hängt. Aus konservatorischen Gründen darf das Museum es jetzt nicht richtig herum drehen. Die Welt, in der wir leben, steht Kopf."

Weiteres: In der SZ erklärt Marc Hoch das vergangene Jahr zum Wendepunkt in der Geschichte der Fotografie. Die Liebe zur analogen Fotografie habe sich wieder Bahn gebrochen, glaubt er, denn echter Film verleihe Aura und Wertigkeit: "Ein gutes Bild ist Gestaltung, Emotion, verdichtete Erinnerung - ist Mühe!" Karlheinz Lüdeking betrachtet in der FAZ Max Ernsts Gemälde "Rendez-vous des amis", das alle Surrealisten versammelt, die Dadaisten jedoch außen vor lässt.

Besprochen wird die Stillleben-Schau im Pariser Louvre (FAZ).
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Bühne

Beeindruckt berichtet Kerstin Holm in der FAZ von dem Theaterabend "The Last Word" am Berliner Gorki Theater, für den Anna Narinskaya die Erfahrungen emigrierter russischer Künstlerinnen zusammengetragen hat, zum Beispiel die Gerichtsrede von Alla Gutnikowa, der Mitherausgeberin der Moskauer Studentenzeitschrift Doxa. Die Schauspielerin und Tänzerin Alisa Khazanova trägt sie vor: "Gutnikowa will nicht über ihren Fall - ihre Verfolgung wegen Berichten über Menschenrechtsverletzungen - reden, sondern darüber, dass kein Buch sie jemals Indifferenz oder Feigheit gelehrt habe; beim Zitieren konformistischer Floskeln wie 'Das geht mich nichts an' oder 'Die zuständigen Behörden werden es klären' verzerrt sich ihre Stimme elektronisch. Zum Zeichen, dass Widerstand aus einer Position der Schwäche in jeder Epoche möglich ist, erklingt dann vom Band der Bericht der Dichterin Natalja Gorbanewskaja, die 1968 mit ihrem Kinderwagen auf dem Roten Platz gegen den sowjetischen Einmarsch in Prag demonstrierte und sofort festgenommen wurde."

Ihre Rede ist in diesem Tweet eingebettet, der auch das beeindruckende Foto von Gutnikowa bei ihrem Prozess zeigt:
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Musik

Daniel Barenboim hat nach längerer, krankheitsbedingter Auszeit sein Comeback am Dirigentenpult gefeiert - wenn auch im Sitzen. Mit der Berliner Staatskapelle führte er traditionell zu Silvester Beethovens Neunte auf - wenn auch deutlich langsamer als sonst. "Persönlich, ja fast intim", war Barenboims Blick auf dieses Werk, schreibt Julia Spinola in der SZ: Alles Staatstragende, für das Beethovens Werk oft in den Dienst genommen wird, lag dieser Aufführung fern. Der Dirigent entdeckt vielmehr den "zweifelnden, suchenden und ungeschützt hoffenden Beethoven. Hörbar wurde, wie riskant, fragmentiert und berührend verletzlich die Musik dieser Symphonie zu einem spricht, wenn man sie dirigentisch einmal nicht auf die Verkündigung vermeintlicher Erlösungsgewissheiten hin zusammenzwingt. Aus einem surreal flirrenden Pianissimo-Nebel erhebt sich der Kopfsatz, dessen gesangliche Seitenthemen Barenboim mit einer melancholischen Anmut, als sehr zarte Erinnerungen wie aus einer Mahler-Symphonie, spielen lässt. Immer wieder wird die Form auch im Scherzo des zweiten Satzes wie von außen durchbrochen, als wolle sich die Musik aus ihrer Hermetik befreien." Auch Frederik Hanssen attestiert im Tagesspiegel ein reduziertes Pathos: "Nichts Aggressives hat das 'molto vivace' des 2. Satzes mehr, der Gestus ist tänzerisch, selbst im Fortissimo dominiert elegante Agilität."

Barenboim kommt in dieser zerdehnten Darbietung nicht vom Fleck, lautet Manuel Brugs Fazit in der Welt: "Nach mumeligem Beginn, der sich wie eine originelle Interpretation ausnimmt, dann aber nach massiver Unsicherheit klingt, läuft es irgendwie dahin, schwergängig, in isolierter Entwicklung, wie auf Autopilot. ... Der 'Götterfunken' zündet nicht. Der Chor hängt durch, auch das unausgeglichene Solistenquartett. In Brustkörben ist halt irgendwann keine Atemluft mehr, auch wenn Streicher die Adagio-Bögen unendlich, freilich fad, spannen. Es fehlt alles titanisch Grenzgängerische."

Zuvor am Abend hatte bereits Vladimir Jurowski und das Rundfunk-Sinfonieorchester in Berlin Beethovens Neunte gespielt. FAZ-Kritiker Gerald Felber war in beiden Sälen anzutreffen. Im Tagesspiegel bespricht Udo Badelt die Jurowski-Aufführung, die beim Dlf Kultur auch zum Nachhören angeboten wird. Auch in Wien wurde Beethovens Neunte aufgeführt - hier schwang Klaus Mäkelä vor den Wiener Symphonikern den Taktstock. Wie war's? "War toll", schreibt Stefan Ender im Standard.

Weiteres: Jakob Biazza führt in der SZ kursorisch durch akute Krise der Konzertbranche (für deutlich mehr Substanz empfehlen wir zum Thema weiterhin Berthold Seligers großen Longread auf Telepolis, den wir hier resümiert haben). Dennis Sand gratuliert in der Welt dem Hamburger Indielabel Grand Hotel van Cleef zum 20-jährigen Bestehen. Maja Beckers erzählt auf ZeitOnline, wie es Britney Spears seit ihrer juristischen Emanzipation von der Betreuung durch ihren Vater vor einem Jahr ergangen ist. Und die Agenturen melden, dass Anita Pointer von den Pointer Sisters gestorben ist.

Besprochen wird außerdem das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker unter Franz Welser-Möst mit ausgesuchten Raritäten aus der Strauß-Dynastie (Standard).
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