Efeu - Die Kulturrundschau

Eine gut gemalte Rübe

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.12.2022. Die FAZ pilgert nach Madrid, wo das Museo Thyssen-Bornemisza Kunst der ukrainischen Avantgarde zeigt. Der DlfKultur fragt, wie das Zentrum für Politische Schönheit auf die Idee kommen konnte, in Otto Muehls ehemaliger Kommune eine Werkschau zu planen. Die SZ liest berührt Hans Wollschlägers Briefe, in denen sich der matte Glanz einer tragischen Schriftstellerexistenz offenbart. Die Welt sieht sich bestätigt: Die ganze moderne Architektur hätte nie gebaut werden dürfen. Außerdem entschwebt die SZ ein letztes Mal in den Wolkenfelder des Krautrock-Gitarristen Manuel Göttsching.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.12.2022 finden Sie hier

Kunst

Oleksandr Bohomasow: Schleifen der Sägen, 1927: Bild: Nationalmuseum der Ukraine

Das Museum Thyssen-Bornemisza in Madrid zeigt mit der Ausstellung "Im Auge des Sturms" Kunst der ukrainischen Avantgarde, und in der FAZ kann sich Kerstin Holm sinnvolleres Kuratieren gar nicht vorstellen, zumal im Madrid etliche Werke vor russischen Angriffen sicher sind. Die Bilder dieser facettenreichen modernistischen Kunst werfen sie um: "Einen eigenwillig ukrainischen Weg in eine Retro-Moderne beschritt der aus dem agrarischen, vormals habsburgischen Westen des Landes stammende Maler Mychailo Boitschuk (1882 bis 1937), dessen Monumentalstil von byzantinischer Sakralkunst und Fresken der italienischen Frührenaissance inspiriert ist. ... Monumentaldarstellungen traditionell gewandeter Bauern und Arbeiter, mit denen Komsomol- und Metallarbeiter-Klubs, Theater und Sanatorien geschmückt wurden, priesen Alltag und Herkommen des einfachen Volkes in prekärer Umbruchzeit. Für jene Epoche steht auch Oleksandr Bohomasows konstruktivistisches Spätwerk 'Schleifen der Sägen' von 1927, das, als Teil eines Triptychons konzipiert, in glühenden Farben den Aufbau der neuen Welt als gemeinschaftliches Präzisionshandwerk beschwört."

Ausgerechnet auf dem Friedrichshof im Burgenland plante das Zentrum für Politische Schönheit über zwei Jahre lang eine großangelegte Werkschau, berichtet Sebastian Meissner im DlfKultur ziemlich entgeistert: Es wäre der Ort gewesen, an dem der Wiener Aktionist Otto Muehl jahrelang Kinder und Jugendliche missbrauchte. Erst nach massiver Kritik von innen und von der Opfergruppe "Mathilda" ließ sich ZPS-Gründer Philipp Ruch offenbar von der Idee abbringen, berichtet Meissner, der aus einer Mail an Muehls Nachlassverwalter zitieren kann, was Ruch überhaupt angetrieben: "Wie Sie vielleicht wissen, gilt Otto Muehl bei uns im Haus als eine Art Säulenheiliger. Wir brauchen - immer - vor allem Geld. Wir bieten dafür die radikalste politische Kunst, die es derzeit gibt."

Weiteres: Carmela Thiele blickt in der taz auf Ansätze deutscher Kunstakademien, Machtgefüge abzubauen.

Besprochen werden außerdem eine prächtige Ausstellung mit Ruth Baumgartes Afrika-Gemälden "Visions of Light and Color" in der Wiener Albertina (Standard), Stillleben-Schau "Les Choses" im Pariser Louvre ("Eine gut gemalte Rübe ist wertvoller als eine schlecht gemalte Madonna", zitiert Franz Zelger in der NZZ Max Liebermann), der hippe Remix der Wiener Mumok-Sammlung (Standard), Carola Göllners Ausstellung "Vivre sa vie" im Institut français Berlin (taz) und eine Ausstellung des Kunstmuseums Bern zum Erbe der Sammlung von Hildebrand Gurlitt (Tsp).
Archiv: Kunst

Architektur

Dankwart Guratzsch, der neuer Architektur seit Beginn der Moderne noch nie etwas abgewinnen konnte, sieht sich in der Welt von der ökologisch motivierten neuen Umbaukultur bestätigt, die auf neue Nutzung alter Gebäude setzt und jetzt auch vom Deutschen Architekturmuseum propagiert werde: "Der Berliner Professor Paul Kahlfeldt verwies auf die unverantwortlich kurze Lebensdauer ganzer Nachkriegssiedlungen: 'Ein Gebäude muss 300 Jahre stehen können und reparaturfähig sein. Erst dann ist es richtig konstruiert und schön. Ein Holzdoppelfenster kann man immer und immer wieder komplett reparieren. Die ganzen ökologischen Fragen gäbe es nicht, wenn wir Architekten uns diszipliniert hätten und gebaut hätten, wie es sich gehört.'"
Archiv: Architektur

Film

Von der 3D-Revolution, die James Cameron vor 13 Jahren mit "Avatar" ausgerufen hatte, ist im wesentlichen nur Schutt und Asche geblieben, merkt Hanns-Georg Rodek (online nachgereicht von der Welt) zum anstehenden Kinostart des seit Jahren angekündigten Sequels an "und vielleicht ist der Stoff, der einst den 3D-Hype auslöste, nun auch sein Schwanengesang". Isabella Caldart wirft für die taz einen Blick ins Angebot von Paramount+, originellerweise ein weiterer Film- und Serienstreamer, von denen es bekanntlich nicht genug geben kann. Philipp Bovermann meldet in der SZ die Nominierungen für die Golden Globes. Und übrigens: Das Berliner Kino Arsenal hat nun Chantal Akermans eben von Filmkritikern als besten Film aller Zeit ausgerufenen Klassiker "Jeanne Dielman" zum schmalen Preis im Streaming-Angebot.
Archiv: Film

Literatur

Ganz hingerissen ist Willi Winkler von Hans Wollschlägers, von Thomas Körber zusammengestellten "Briefen 1988-2008", für den SZ-Kritiker ein Höhepunkt des sich neigenden Literaturjahres. Keine tragische Liebesgeschichte wie eben noch bei Frisch und Bachmann ist hier zu lesen, sondern das Dokument eines Genies, das schwer daran zu tragen hat, dass das angekündigte große Meisterwerk einfach nicht aufs Papier fließen will. Es ist "in Monologform ein überraschend realistischer Lebensroman mit all dem matten Glanz und dem ganzen Elend in der Frage, 'wie ein Autor unter solchen Umständen die Kosten für seine Beerdigung zusammenbringen soll'. Abgehandelt wird die ganze Größe und Kleinlichkeit der Schriftstellerexistenz inklusive Trauerkleidung und überzogenem Bankkonto; das Schamhaar bleibt ausgespart. Wollschläger kann gar nicht anders, als von diesem Unglück abzuraten. ... 'Das Leben könnte so schön sein, wenn man nicht schreiben müßte', seufzte er einmal und diesmal gar nicht kokett. Was für ein Glück, dass Wollschläger diese Briefe geschrieben hat. Sie sind, was die 'Herzgewächse' werden sollten und nie wurden, sein Hauptwerk."

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Die Publizistin Rachel Salamander übergibt ihr Archiv ans Literaturarchiv Monacensia, meldet Hannes Hintermeier in der FAZ. In der SZ verneigt sich Norbert Frei vor Salamander und deren seit 40 Jahren bestehenden "Literaturhandlung" in München, flankiert von einem Gedicht des Lyrikers Albert Ostermaier. Die Schriftstellerin Cordula Simon meditiert in einem Standard-Essay über Überlastung. Auf 54books erinnert Paul Jennerjahn an die Schriftstellerin Grace Paley, die vor 100 Jahren geboren wurde. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Matthias Heine daran, wie Friedrich Spee nur knapp einem Mordanschlag entkam. In Italien haben die Planungen für den Auftritt als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2024 begonnen, berichtet Karen Krüger in der FAZ. Peter Praschl (Welt), Susanne Lenz (FR), Gregor Dotzauer (Tsp), Moritz Baumstieger (SZ) und Andreas Platthaus (FAZ) schreiben Nachrufe auf den Kinderbuchillustrator Wolf Erlbruch.

Besprochen werden Elvira Espejo Aycas Gedichtband "Hier und dort & Andines Liederbündel" (taz), Nick Drnasos Comic "Acting Class" (Intellectures), Martin Amis' "Inside Story" (NZZ), Sophie Passmanns neue RBB-Literatursendung "Studio Orange" ("ein Sperrfeuer an Aufgekratztheit, für das das Programmschema glücklicherweise nur dreißig Minuten vorsieht", schimpft Paul Jandl in der NZZ) und W.E.B. Du Bois' "'Along the color line'. Eine Reise durch Deutschland 1936" (FR).
Archiv: Literatur

Bühne

Besprochen werden Kevin Rittbergers Stück "Der Entrepreneur" am Münchner Residenztheater (SZ), der missglückte Saisonauftakt der Mailänder Scala mit Modest Mussorgskys Zarendrama "Boris Godunow" ("Geht es hier um Politik? Oder eben doch wieder nur um schön gesungene Oper?", fragt Christian Wildhagen in der NZZ, etwas später als die anderen), Hans Falladas "Jeder stirbt für sich allein" als musikalisches Schauspiel im Wiener Theater in der Josefstadt (FAZ) und die Produktion "Unter uns. Unsichtbar?", mit der das Junge Schauspiel Frankfurt an die NS-Zwangsarbeit erinnert (FR).
Archiv: Bühne

Design

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

Ein Beitrag geteilt von Museum Schloss Moyland (@museumschlossmoyland)


Freddy Langer hält sichtlich wenig von den zahlreichen Bemühungen der letzten Jahre, die Fotografiegeschichte etwas weiblicher zu perspektivieren. Entsprechend muffig reagiert er auf die Ausstellung "Female View - Modefotografinnen von der Moderne bis zum digitalen Zeitaler" im Schloss Moyland unweit der Grenze zu den Niederlanden (wir berichteten). "Dem Besucher bleibt die weibliche Komponente des Blicks verborgen", schreibt er in der FAZ. "Dass Modefotografinnen versucht hätten, die Autonomie des Blicks auf die Frau an sich zu reißen, davon ist in der Ausstellung nichts zu spüren. Auch sie erliegen jeweils dem Geist der Zeit oder halfen ihm auf die Sprünge. Auf wunderbare Weise dokumentiert die Ausstellung deshalb den Wandel im Selbstverständnis von Weiblichkeit und der vorherrschenden Schönheitsideale im Laufe von hundert Jahren. Der ausgeprägte Wille jedoch, neue Wege zu öffnen, wird viel weniger zur Sache des Geschlechts als der einer Künstlerpersönlichkeit."
Archiv: Design

Musik

Der Gitarrist Manuel Göttsching ist tot. Mit seiner Band Ash Ra Tempel und seinen späteren Kollaborationen und Solo-Arbeiten war er einer der zentralen Player des Krautrocks der Siebziger. Andrian Kreye würdigt in der SZ vor allem das 1981 veröffentlichte Solo-Album "E2-E4" als Göttschings Ticket in den Pantheon der Popmusik: "Streng genommen ist es eine Meditation über zwei Akkorde, um die herum Sequencer- und Drumcomputer-Motive mäandern. Dazwischen tropfen und wabern Soundeffekte. Erst nach einer halben Stunde kommt seine Gitarre dazu, improvisiert und verhallt durch die Elektronik, die sich wie Wolkenfelder durch die Stunde zieht. 'E2-E4' gilt heute mit seinem hypnotischen Minimalismus als Blaupause für Ambient und Techno" und fand überdies seinen Weg ins Repertoire zahlreicher House-DJs in Chicago und Detroit. Das erwähnte Album ist unten eingebettet, eine Empfehlung wert ist auch Göttschings Soloalbum "Inventions for Electric Guitar".



Außerdem: Lena Karger macht sich in der Welt Gedanken darüber, wie Taylor Swifts Regiedebüt aussehen könnte. In der Welt erzählt Elmar Krekeler die Geschichte des Komponisten Hans Rott, der 1884 mit nur 25 Jahren unter jämmerlichen Umständen starb, nachdem er wenige Jahre zuvor einen ausgeprägten, auf Johannes Brahms gerichteten Verfolgungswahn entwickelt hatte. Besprochen werden Claus-Steffen Mahnkopfs Buch "Die Kunst des Komponierens" (Zeit), das Weihnachtsoratorium der Jungen Kantorei in der Frankfurter Wartburgkirch (FR) und SZAs neues Album "SOS" (ZeitOnline).



Und eine traurige Nachricht: Der große Filmkomponist Angelo Badalamenti ist gestorben.Man kennt ihn vor allem von seinen Zusammenarbeiten mit David Lynch. Sein bekanntestes Stück klingt an diesem Tag wie ein Requiem auf ihn selbst:

Archiv: Musik