Efeu - Die Kulturrundschau

Die große Geste bleibt

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01.12.2022. Welt, SZ und Perlentaucher freuen sich über das Chaos der Zivilisationen in Kurdwin Ayubs Filmdebüt "Sonne". Die FAZ erlebt in Nürnberg ein witziges Spiel mit Polystilistik und reinstes Komponistenglück bei der Uraufführung von Anno Schreiers Oper "Turing". Die Welt steht staunend vor den verstrahlten Kokosnüssen, die der Schweizer Künstler Julian Charrière vom Bikini-Atoll nach Neuss mitgebracht hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.12.2022 finden Sie hier

Film

Bizarre Komik des Zusammenlebens: "Sonne"

In ihrem Debütfilm "Sonne" stellt sich Kurdwin Ayub die Frage "Hijab - ja oder nein". Die Turbulenzen, denen die österreichische Teenie-Komödie nachzieht, entwickeln sich aus einem Insta-Video. "Auf das klassische Sozialdrama, das hinter der Prämisse schlummert, lässt sich die Regisseurin" gar nicht erst ein, freut sich Karsten Munt im Perlentaucher. "Die klaren Demarkationslinien, an denen sich deutschsprachige (post)migrantische Filmerzählungen gerne ins Dramatische hangeln, werden gleich zu Beginn verwischt. ... Die Momentaufnahmen des Familienlebens fühlen sich nie wie Cliffnotes eines Integrationsdiskurses an, sondern lassen sich auf die bizarre Komik des täglichen Zusammenlebens ein."

"Wo ist hier der Konflikt der Zivilisationen", fragt Welt-Kritiker Hanns-Georg im Scherz. Dem Film geht es eher um "das Chaos der Zivilisationen. Des Erwachsenwerdens. Der sozialen Medien, die ihren Abhängigen einreden, sie könnten alles werden, heute dies und morgen das Gegenteil. So viele Vorbilder, so viel Geilheit, so viele Sehnsüchte. So viele Rollen, die gespielt werden wollen. Wie soll aus multiplen Alter Egos Identität entstehen?" So beschreibt der Film eben auch keine solche, sondern "eher deren Auflösung. Genauer: die Sehnsucht, in der anderen Kultur das zu finden, was man in der eigenen vermisst - und nicht fündig zu werden."  Einen "enorm frischen, mitreißenden Film" sah SZ-Kritikerin Martina Knoben: "Eine herrliche Lust am Spiel mit den Möglichkeiten des Digitalen ist da zu sehen, mit Filtern und Apps, die Kussmünder zu Mandala-Blumen arrangieren oder die Gesichter der Mädchen in Tiergesichter verwandeln. 'Ich bin Teil der ersten Social Media-Generation', sagt die Regisseurin. 'Mit uns begann alles. Man konnte sein, was man wollte. Der Randbezirk Wien-Simmering hatte keine Grenzen mehr.'"

Überhaupt die Regisseurin: "Ich habe viele Geschichten gesehen, die entweder kitschig waren oder in denen die Charaktere etwas sehr Leidendes an sich hatten", erzählt sie im taz-Gespräch. "Da wird dann immer Mitleid generiert und das wollte ich verhindern. Ich wollte mal was Authentisches erzählen, etwas, wo Zuschauer*innen mit demselben Migrationshintergrund oder einem ähnlichen dasitzen und sich denken 'Ah, meine Familie ist genau so'."

Außerdem: In der SZ spricht Maria Schrader über ihren Film "She Said" über die Aufdeckung der Weinstein-Übergriffe. Dem Berliner Publikum legt Thomas Abeltshauser in der taz das Festival Around the World in 14 Films ans Herz. Der Schauspieler Jan Josef Liefers erinnert sich in der Berliner Zeitung an seinen überraschend verstorbenen Kollegen Tobias Langhoff. Nachrufe auf die Schauspielerin Christiane Hörbiger schreiben Manuel Brug (Welt), Martin Lhotzky (FAZ) und Jürg Zbinden (NZZ).

Besprochen werden Emily Atefs "Mehr denn je" mit Vicky Krieps (Perlentaucher, critic.de, online nachgereicht von der FAS), Thomas Stubers "Die stillen Trabanten" nach einer Vorlage von Clemens Meyer (taz), Jeanine Meerapfels Dokumentarfilm "Eine Frau" über ihre Mutter (Freitag), ein ARD-Zweiteiler über das Leben von Alice Schwarzer (ZeitOnline, Welt, TA), Guillermo del Toros "Pinocchio" (Standard, unsere Kritik hier), eine Pasolini-Ausstellung im Maxxi in Rom (Tsp), Rolf Olsens auf BluRay erschienene Abenteuer-Reißer "Käptn Rauhbein aus St. Pauli" mit Curd Jürgens (eine "Ansammlung erzählerischer Unfassbarkeiten" bezeugt Robert Wagner auf critic.de), Jun Lees "Cloudy Mountain" (SZ) und die Serie "The Bastard Son & the Devil Himself" (Presse). Außerdem weiß die SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen und welche nicht.
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Bühne

Szene aus "Turing" von Anno Schreier in Nürnberg. Foto: Ludwig Olah


Schön, das Publikum hat enthusiastisch applaudiert, aber er hat trotzdem alles richtig gemacht, tröstet FAZ-Kritiker Klaus Heinrich Kohrs den Komponisten Anno Schreier, dessen Oper über den Kryptologen Alan Turing am Staatstheater Nürnberg uraufgeführt wurde: "In einem Prolog und sechzehn knappen Szenen nähert sie sich fragmentiert der Geschichte eines rätselhaften Helden des zwanzigsten Jahrhunderts an, dessen tatsächliches 'Innenleben' jenseits von kaum erahnbarem wissenschaftlichem Höhenflug und hilfloser Alltagsbanalität sie nicht ergründen kann. Gelänge das, wäre es romantische Oper, von der hier nur - auch durch ein gewaltiges Chor-Aufgebot - die Anmutung, die große Geste bleibt. Voll von Gesten, die alle nicht mehr ganz sie selbst sind, ist das gesamte Werk, dessen rhythmischer Grundimpuls sich einem raffiniert adaptierten Schlagzeug aus der Pop-Sphäre verdankt. Er ist fast allgegenwärtig und garantiert damit der Oper den Charakter einer realistischen Atemlosigkeit, der dort am fühlbarsten wird, wo er einmal aussetzt".

Weiteres: In der nachtkritik schreibt Esther Slevogt über vier exemplarische Inszenierungen aus der DDR, die die nachtkritik im Dezember als Stream zeigt.

Besprochen werden außerdem Verdis "Alzira" an der Opéra Royal de Wallonie-Liège (nmz), die Aufführung von Erwin Schulhoffs Oper "Flammen" an der Prager Oper (Van), die Uraufführung der performativen Installation "Heimweh" von Darum in der WUK Wien (nachtkritik) und Antonio Vivaldis Oper "Giustino", die René Jacobs an der Berliner Lindenoper dirigierte (SZ).
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Literatur

Der frisch gegründete PEN Berlin trifft sich morgen in Berlin zum Kongress, annonciert Cornelia Geißler in der Berliner Zeitung. Michael Wurmitzer spricht im Standard mit Karin Fleischanderl und Gustav Ernst, die seit 25 Jahren die Literaturzeitschrift Kolik herausgeben. Und eine traurige Nachricht: Die Underground-Comiczeichnerin Aline Kominsky-Crumb ist gestorben.

Besprochen werden unter anderem Annie Ernaux' "Das andere Mädchen" (Tsp) und Mohamed Mbougar Sarrs "Die geheimste Erinnerung der Menschen" (NZZ, FAZ).
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Stichwörter: Pen Berlin, Ernaux, Annie

Kunst

Staunend steht Welt-Kritikerin Gesine Borcherdt in der Langen Foundation in Neuss vor den verstrahlten Kokosnüssen, die der Schweizer Künstler Julian Charrière vom Bikini-Atoll mitgebracht hat. "Natur und deren menschengemachter Niedergang" ist das Thema Charrières, dessen riesige Installation in den riesigen, von Tadao Ando erbauten Räumen offenbar gut passen: Es ist "eine MiniRetrospektive geworden, die zeigt, wie nonchalant Charrière den Klimawandel mit Schönheit übergießt, was, sobald man die Werke entschlüsselt, den Schrecken doppelt spürbar macht. Tropisme etwa ist eine rosaromantische Aufnahme vom Bikini-Atoll, die der Künstler mit radioaktivem Sand bearbeitet hat - die Überreste der Atombombentests durch die Amerikaner in den Vierziger und Fünfzigerjahren reagieren mit dem Fotopapier, was aussieht wie toxischer Sternenstaub. Vom Bikini-Atoll hat Charrière auch verstrahlte Kokosnüsse mitgebracht, sie in Blei gegossen und wie beiläufig an der Fensterfront platziert - sie wirken wie Kanonenkugeln, womit der Künstler den Bogen einer bellizistischen Bildgeschichte bis zur Nato-Basis spannt, die sich hier einmal befand."

Besprochen werden außerdem die Schau "Magie Bergkristall" im Kölner Museum Schnütgen (FAZ) und die Ausstellung "1922 - George Grosz reist nach Sowjetrussland" im Kleinen Grosz Museum in Berlin (taz).
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Musik

Die Doku "Harvest Time" über die Entstehung von Neil Youngs Klassiker "Harvest" verzaubert Edo Reents - vor allem aber entzaubert sie nicht ihren Gegenstand, freut sich der FAZ-Kritiker: "Wenn man sich die wie beiläufig zustande gekommenen und absolvierten Aufnahmen der zehn Lieder ansieht, fragt man sich erst recht, wie das möglich sein konnte, dass ein damals Fünfundzwanzigjähriger diese in ihrer Mischung aus Empfindsamkeit und Rustikalität einzigartige Musik einspielen konnte. ... Was es mit dem Songwriting auf sich hatte, muss der schöne, völlig unprätentiöse Film offenlassen; auch Young selbst vermag nicht zu erklären, ob und wie er dieses zehnteilige Amalgam aus dichter, überreifer Poesie und magischem Klang aus den Ärmeln seiner Flanellhemden geschüttelt hat. Am Ende wird es so etwas wie Eingebung gewesen sein." Ein Ausschnitt:



Außerdem: Janique Weder erinnert in der NZZ daran, wie Oasis vor 20 Jahren in München eine zünftige Massenschlägerei vom Zaun brachen, um sich im Anschluss auch offiziell aufzulösen. Und eine traurige Nachricht: Die Fleetwood-Mac-Sängerin Christine McVie ist im Alter von 79 Jahren gestorben. Sie komponierte auch für die Band, unter anderem diesen Hit, den allerdings die Gitarrist Lindsey Buckingham singt.



Besprochen werden Judith Holofernes' Memoir "Die Träume anderer Leute" (online nachgereicht von der FAZ), das Jazzalbum "Where I'm Meant To Be" vom Ezra Collective (Tsp) und das neue Album von Voodoo Jürgens (Standard).

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