Efeu - Die Kulturrundschau

Die Aussagekraft sogenannter Kuhmaulschuhe

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.11.2022. Die SZ bestaunt die Imageproduktion von Renaissance-Künstlern, obwohl die ohne Instagram auskommen mussten. Die Zeit staunt über die Harmonieseligkeit auf einem Kongress über die Zukunft der Kritik. Die FAZ blickt verblüfft auf Teddys in Balenciaga-Netzhemden, die sich in Kinderarme kuscheln. Zeit online lernt aus James Grays Film "Zeiten des Umbruchs", wie sich die soziale Kälte in Amerika historisch zementierte. Tell liest Nabokov vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.11.2022 finden Sie hier

Film

Szene aus James Grays "Armageddon Time - Zeiten des Umbruchs"

Breit besprochen wird James Grays "Armageddon Time - Zeiten des Umbruchs": Die Geschichte eines jüdischen Jungen, der Künstler werden will und auf jener Privatschule landet, aus der Donald Trump hervorgegangen ist, trägt autobiografische Züge. Andere Regisseure blicken nostalgisch auf die Zeit ihres Heranwachsens zurück, schreibt Philipp Stadelmaier auf ZeitOnline, Gray hingegen erzähle "nicht die Geschichte eines angehenden Künstlers und späteren Filmemachers, sondern die Geschichte der Desillusionierung eines ganzen Landes." Denn "die Schule ist Hort einer weißen Elite aus Anhängern von Robert Reagan, der sich damals für die US-Präsidentschaft bewirbt. Jessica Chastain verkörpert diese Kaste eiskalt, als Maryanne Trump (Donalds Schwester) hält sie vor der Schülerschaft eine flammende Rede darüber, wie harte Arbeit zu Erfolg führe. Das für die eigenen Privilegien blinde Individuum ist alles, die Gesellschaft ist nichts. 'Armageddon Time' beobachtet die historische Zementierung jener Ungleichheit und sozialen Kälte, die Donald Trump als Präsidenten überhaupt erst möglich machen."

Verärgert ist Alan Posener von der Welt, dass ein Großteil der jüdischen Figuren von einem nichtjüdischen Cast gespielt wird: "Natürlich können und sollen Nichtjuden Juden spielen, wie Juden Nichtjuden. Aber Anthony Hopkins kann es nicht. Wenn er in seinem walisisch eingefärbten Shakespeare-Englisch dem Enkel eintrichtert, immer gegen den Rassismus aufzutreten - 'heute sind es die Schwarzen, morgen rammen sie dir das Messer in die Rippen' -, so wirkt das wie aufgesagt, nicht wie eine spezifisch jüdische Erfahrung. Einer Erfahrung, nach der, anders als der Film suggeriert, die amerikanischen Juden in ihrer Mehrheit immer gehandelt haben, nicht nur in ihrem Wahlverhalten." Ein "ergreifendes Drama" sah tazler Tim Caspar Boehme. Nicht ganz zufrieden ist Tagesspiegel-Kritiker Simon Rayß: In dem Film "stehen sich Mainstream-Konvention und Arthouse-Ambition unversöhnlich gegenüber".

Außerdem: Mit der von vielen dringend geforderten Novellierung der Filmförderung ist wohl auch bis 2025 nicht zu rechnen, berichtet Helmut Hartung in der FAZ. Derweil werden in Berlin mehr Filme denn je gedreht, berichtet Susanne Messmer in der taz. Michael Meyns spricht in der taz mit der Regisseurin Mareike Wegener über ihr Spielfilmdebüt "Echo". Für die Zeit spricht Patrick Heidmann mit Luca Guadagnino über dessen neuen, in der FR besprochenen Film "Bones and All" (mehr zu Film bereits hier und dort). Albrecht Selge ergründet für das VAN-Magazin, warum Fatih Akin sein Xatar-Biopic "Rheingold" nun ausgerechnet nach einer Wagner-Oper benannt hat. In der taz legt Fabian Tietke dem Berliner Publikum die Werkschau Alice Diop im Kino Arsenal ans Herz. In der FAZ gratuliert Claudius Seidl Ulrich Seidl zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Guillermo del Toros Animationsfilm "Pinocchio" (Perlentaucher, SZ), Eva Webers Porträtfilm "Merkel - Macht der Freiheit" (Freitag), Elene Naverianis georgisches Filmdrama "Wet Sand" (Tsp) und der Disney-Animationsfilm "Strange World" (FR). Außerdem weiß die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Design


Von einiger Aufregung über eine Balenciaga-Werbekampagne berichtet Alfons Kaiser in der FAZ: Der Designer Demna, berüchtigt dafür mit Schockelementen zu arbeiten, ließ seine Teddybärtaschen vom italienischen Fotografen Gabriele Galimberti für Werbefotos mit Kindern abbilden: "Nur tragen diese Teddys Outfits mit Netzoberteilen, Nietenledergürteln und Halsbändern mit Schlössern" und "wenn solche Plüschfiguren neben Kindern oder gar in ihrem Arm abgebildet werden, ist sicher eine Grenze zur Sexualisierung von Kindern im Kindergarten- oder Grundschulalter überschritten." Balenciaga stellt sich dem Shitstorm mit Offline-Nahmen und Entschuldigungen entgegen. Doch das werfe "erst recht Fragen auf: Hat eine der erfolgreichsten Pariser Modemarken etwa keine Kontrolle über Bilder, die in ihrem Namen hergestellt werden? Gibt es nicht einen langen Auswahlprozess für solche Bilder? Ideenfindung, Model-Casting, Fotografenbuchung, Shooting, Fotoauswahl, Postproduktion, Bearbeitung für die Website: An diesem wochenlangen Prozess sind Dutzende feste und freie Mitarbeiter des Unternehmens beteiligt." Dass der betreffende Look eigentlich seit den Siebzigern von der Punkszene aufgegriffen und im Grunde ziemlich entsexualisiert wurde, scheint niemandem aufgefallen zu sein.
Archiv: Design

Kunst

Peter Richter amüsiert sich in der SZ mit dem "neuen, sehr schönen" Buch "Künstler, Leib und Eigensinn. Die vergessene Signatur des Lebens in der Kunst" des Kunsthistorikers Andreas Beyer, der die Imagebildung von Künstlern in der Renaissance mit der Gegenwart kurzschließt. Raffael zum Beispiel war bekannt dafür, sehr viel Sex zu haben, Michelangelo dagegen brüstete sich mit seiner Askese, lesen wir. Auch was sie aßen und ausschieden, teilten die Renaissancemaler der Welt in Briefen und Tagebüchern ausführlich mit, so Richter: "Die inhaltliche Nähe von Nahrung und Kunstproduktion war also schon auffällig, lange bevor das Gastronomische in die Museen, Galerien und Instagram-Reels der Gegenwart einzog. Auch in der Renaissance gab es schon Künstler, die irgendwann auf ein Dasein als Gastwirt umsattelten und Fleisch lieber servierten, als es zu malen. Und Dürer wäre nicht der bedeutendste deutsche Künstler dieser Zeit, wenn er nicht auch all das beflissen überliefert hätte: was er malte, was er aß, wie viel Wein er bekam, und vor allem - was er dabei trug. Es gibt viel zu lernen über Dürers exaltiertes Outfit, den Jesus-Effekt seiner ungewöhnlichen Langhaarfrisur, die Aussagekraft sogenannter Kuhmaulschuhe."

In der Zeit zeigt sich Peter Neumann enttäuscht von einem Kongress in Bonn zur "Zukunft der Kritik" der ihm zu viel "Harmonieseligkeit" verbreitete: "Während die klassische Literatur-, Kunst- und Musikkritik noch mit einem starken Subjektdenken verbunden war, mit dem Anspruch auf Unabhängigkeit, Freiheit und individuelle Selbstbehauptung, soll sich die Kritik jetzt auch für andere Tonlagen öffnen. Die amerikanische Künstlerin und Aktivistin Cassie Thornton hatte deshalb den japanischen Performancekünstler Michiyasu Furutani in die Bundeskunsthalle eingeladen, der im Saal zwischen dem Publikum sitzen und leise vor sich hin weinen sollte. Muss Kritik wehtun? Für Thornton ging es darum, den strengen Raum der Kritik für andere emotionale Seelenlagen zu sensibilisieren. Nicht das starke Subjekt, sondern das verletzliche Subjekt sollte dabei in den Vordergrund treten. Hört hin: So weich und hochempfindsam kann Kritik sein, wollte sie sagen."

Paul Cezanne, Sugar Bowl, Pears and Blue Cup 1865-70


Sechzehn verschiedene Blautöne und experimentelle Bildarchitekturen sah eine hingerissene Marion Löhndorf (NZZ) in der Cezanne-Ausstellung der Tate Modern. Und mehr: "Die Schönheit der Londoner Werkschau liegt darin, dass sie den Prozess der künstlerischen Aneignung nachvollziehbar macht. Wir haben hier nicht ein Stillleben mit Äpfeln vor uns, sondern viele, scheinbar ähnliche; gezeigt wird nicht nur ein Bild von Badenden oder seines Lieblingsbergs, sondern eine ganze Reihe von Formulierungen und Überlegungen zu Raum, Form und Farbe. Wir sehen Cézanne bei der Arbeit und beim Experimentieren zu, beim visuellen Zerlegen und Wiederzusammensetzen der Welt. Die Dynamik des Gestaltungsprozesses wird spürbar. Das verleiht der Ausstellung große Unmittelbarkeit: Sie hebt den oft so genannten Vater der Moderne nicht noch einmal auf seinen unangefochtenen Thron, sondern macht ihn lebendig."

Weitere Artikel: Harriet Sherwood erzählt im Guardian, wie eine große Ausstellung avantgardistischer Kunst aus der Ukraine im Madrider Museo Nacional Thyssen-Bornemisza zustande kam: "Diese Kunstwerke in Sicherheit zu bringen, war nicht ohne Risiko, aber die Priorität, dies zu tun, lag vor allem darin, dass das russische Militär die Vereinbarungen der Haager Konvention konsequent missachtet hat. Sie haben in allen besetzten Gebieten massive Plünderungen veranlasst, und mehr als 500 Gebäude des kulturellen Erbes wurden zerstört", erklärt ihr die Kunstsammlerin Francesca Thyssen-Bornemisza. Die Ausstellung soll im kommenden Frühjahr in Köln zu sehen sein. Thomas Avenarius besuchte für die SZ den ukrainischen Bildhauer Mikhail Reva in Odessa. 2002 hatte Reva eine Art goldenen Kompass für Putin zum Geburtstag gefertigt (es war eine Auftragsarbeit der ukrainischen Regierung), heute verarbeitet er Kriegs- und Gefechtsschrott: "Der Bildhauer Reva sieht darin mehr als die russische Konkursmasse aus zerschossenen und ausgeglühten Militärgerätschaften: 'Das sind die Formen, die aus der geballten Energie des Tötens entstehen.'"
Archiv: Kunst

Literatur

In einem Essay für Tell-Review widmet sich Karl-Josef Müller der Aktualität Nabokovs unter den Eindrücken des russischen Angriffs auf die Ukraine. Insbesondere in "Tyrannenvernichtung" und "Das Bastardzeichen" wird er fündig: "Der Erzähler definiert das Gute nicht als bewusste gute Tat, die sich von unserem alltäglichen Verhalten abhebt und so in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät. Das Gute bildet vielmehr die unabdingbare Basis des Zusammenlebens, daher der Vergleich mit dem Atmen. Das Böse hingegen ist skandalös, es gefährdet die Grundlagen des Lebens. Beide Texte führen vor Augen, was es bedeutet, wenn genau diese so entscheidende Abgrenzung zwischen dem Guten und Bösen abhandenkommt. Geschildert werden Gesellschaften, in denen das Böse nicht mehr als Skandal begriffen wird, sondern als das neue Normale und damit quasi als das neue Gute. Um es mit den drei Hexen aus Shakespeares Macbeth zu sagen: 'fair is foul and foul is fair'."

Weiteres: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Besprochen werden unter anderem die E.T.A.-Hoffmann-Ausstellung im Deutschen Romantik-Musum in Frankfurt (FR), Melanie Walz' Neuübersetzung von Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway" (Zeit), Matthias Matschkes Romandebüt "Falschgeld" (SZ) und Zaza Burchuladzes "Zoorama" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Die britischen Theater boomen - vielleicht, weil sich hier alles um die Schauspielstars dreht, überlegt Marion Löhndorf in der NZZ. Und: "Im britischen Theater zählen Texte - altbekannte und neue - weiterhin viel. Es beweist dabei eine politische und gesellschaftliche Hellhörigkeit, die das deutschsprachige Theater vermissen lässt. Im letzten Jahrzehnt sind die Bühnen immer näher an die Gegenwart gerückt, um konkrete politische und gesellschaftliche Fragen aufzugreifen - von der Schlacht um das Referendum und dem staatlichen Gesundheitssystem bis hin zum Börsencrash und zum Datenschutz im Internetzeitalter. Die Zuschauer kommen als Fragende ins Theater, die auf der Bühne nach Antworten und Argumenten suchen. Sie sind neugierig und bereit, sich auf Herausforderungen einzulassen, soweit es um Inhalte geht. Und selbst die Theatertexte setzen sich weniger mit experimentellen Formen auseinander als mit dem unmittelbaren Wirklichkeitsbezug einzelner Produktionen."

Weitere Artikel: Lilo Weber stellt in der NZZ den Genfern ihren neuen Ballettdirektor vor: den phantastischen Sidi Larbi Cherkaoui. Im Van Magazin berichtet Anna Schors von den fatalen Auswirkungen gestiegener Energie- und Produktionskosten auf die deutschen Theater. Margarete Affenzeller unterhält sich für den Standard mit Sahar Rahimi, Emilia Thelen und Ed. Hauswirth über ihre Produktion "Dudes. Halten endlich die Klappe".

Besprochen werden Joan Antón Rechis Inszenierung von Leoš Janáčeks Oper "Das schlaue Füchslein" am Opernhaus Chemnitz ("Rechtis Regie hat höchst fantasievoll an der Oper vorbei inszeniert und eine eigene Deutung entwickelt, in der die weiße Gummizelle gegen prollig rotes Ambiente ausgetauscht wird und ein Revuepersonal agiert, das von keusch bis kokett so ziemlich alles aufbieten soll", schreibt ein amüsierter Michael Ernst in der nmz) und ein Shakespeare-Abend der Hochschule für Musik Nürnberg mit fünf neuen Mini-Kammeropern im Schauspielhaus Nürnberg ("Riesenapplaus - berechtigt", freut sich Roland H. Dippel in der nmz).
Archiv: Bühne

Musik

Alexander Strauch und Axel Brüggemann konkretisieren in Crescendo ihre Beobachtungen der Social-Media-Aktivitäten einiger Mitglieder des MusicaAeterna-Ensembles (siehe dazu auch unseren Efeu von gestern). Während Ensemble-Leiter Teodor Currentzis hartnäckig zum russischen Krieg gegen die Ukraine schweigt, sind einige der Musiker ziemlich rege: "Zwei Tenöre haben Anfang November auf ihrem 'VKontakte-Kanal' ein prorussisches Kriegslied veröffentlicht." Und auch "ein genauerer Blick in die öffentlichen Social-Media-Kanäle der MusicAeterna-Mitglieder lässt das Bild des 'unpolitischen Orchesters' erheblich wackeln. Mindestens zehn Mitwirkende der Kernbesetzung positionieren sich für Putin, Russland oder gar den Krieg. Einige haben zum Kriegsausbruch eine russische Flagge auf ihr Profil gestellt, andere unterstützen Pro-Kriegs-Kommentare, manche sind mit dem Social-Media-Auftritt der brutalen Söldnergruppe Wagner verbunden (die Gräueltaten und Kriegsverbrechen in der Ukraine begeht). Einige nehmen auf Plattformen wie Telegram oder VK persönlich Stellung zum Angriffskrieg Russlands. Bereits kurz nach Beginn des Krieges schrieb der Tenor, der auch das Kriegslied produzierte: 'Ich UNTERSTÜTZE voll und ganz die Politik des russischen Präsidenten V.V. Putin. Dies gilt auch für den Sondereinsatz in der Ukraine.' Leisere Mitglieder von MusicAeterna stimmten dem durch ihr 'Like' zu."

Weitere Artikel: In einem epischen Longread für das VAN-Magazin geht Michael Maul vor Bachs "wohltemperiertem Clavier" auf die Knie. Reinhard Kager resümiert in der FAZ das Festival Wien Modern. In Wien schießen die Plattenläden wie Pilze aus dem Boden, berichtet Karl Fluch im Standard. Außerdem porträtiert Fluch für den Standard den Liedermacher Kristoff. Nadine A. Brügger erinnert in der NZZ an den vor 50 Jahren verstorbenen Chansonnier Mani Matter. Joachim Hentschel schreibt einen Nachruf auf den Gitarristen Wilko Johnson. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker in dieser Woche hier Doreen Carwithen und dort Galina Grigorjeva.

Besprochen werden ein Beethoven-Konzert der Wiener Symphoniker mit dem Pianisten Seong-Jin Cho unter Omer Meir Wellber (Tsp), eine Aufführung von George Crumbs Klavierzyklus "Makrokosmos" bei Wien Modern (Standard) und das Debütalbum von What Are People For (FR).
Archiv: Musik