Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Ergebnis wechselseitiger Selbstentblößung

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10.11.2022. Utopie und Sündenfall findet der Tagesspiegel in David Cronenbergs neuem Film "Crimes of the Future", mit Menschen, denen dauernd neue Organe nachwachsen. Die SZ taumelt dabei von Höhepunkt zu Höhepunkt, der Perlentaucher sah gar den Sexfilm der Zukunft. Die Welt hat langsam genug von Autofiktion in der Literatur und fordert: Schreibt und lest nicht so romantisch! Das Van Magazin fragt, warum Tom Buhrow bei Kürzungen in den Öffentlich-Rechtlichen ausgerechnet die Orchester im Sinn hat. Für die Klimaaktivisten sind Museen nur Tempel des Warenfetischismus, glaubt Boris Groys in der SZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.11.2022 finden Sie hier

Film

Der Sex der Zukunft findet auf dem OP-Tisch statt: "Crimes of the Future"

Der Körper-Filmphilosoph David Cronenberg meldet sich mit "Crimes of the Future" nach acht Jahren aus seinem Ruhestand zurück. In einer unbestimmten, vom Verfall geprägten Zukunft wachsen Menschen neue Organe, sie verlieren ihr Schmerzempfinden, können sich auch keine Infektionskrankheiten mehr einfangen und schon beginnen manche damit, Plastik zu verzehren. Performance-Künstler lassen sich auf offener Bühne vor staunendem Publikum ihre neuesten organischen Hervorbringungen amputieren. "Der Fortschritt war für Cronenberg immer schon beides, Utopie und Sündenfall", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel und hält außerdem fest: "'Crimes of the Future' mag in erster Linie Cronenbergs Zukunftsvision sein, er fungiert aber auch als Satire auf einen Kunstmarkt, der des Menschen ureigenste Ressource den Gesetzen des Kapitalismus aussetzt." Einen "Sexfilm der Zukunft" hat Perlentaucher Thomas Groh gesehen: "Ständig wird in andere reingeschnitten, in andere reingeschaut - man muss offen sein für neue Erfahrungen und auch einmal sein Innerstes zeigen."

"Cronenberg-Fans taumeln von Höhepunkt zu Höhepunkt, buchstäblich an jeder schlecht beleuchteten Straßenecke wartet der nächste", schreibt dazu Philipp Bovermann in der SZ, gibt sich dann aber doch als "muffelig" zu erkennen: "Man wird den Verdacht nicht los, Cronenberg habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten, in denen er psychologischen statt körperlichen Untiefen nachging und dabei ein ganzes Stück in den Mainstream hineinwuchs, einen Karteikasten auf dem Nachttisch gehabt. ... Immer wieder theoretisieren die Figuren, was diese körperlichen Veränderungen bedeuten könnten, wodurch sich die Dialoge mal sanft, mal weniger sanft von der Handlung lösen." Weitere Besprechungen in taz und FR. Für die FAZ hat Marian Schaghaghi mit dem Regisseur gesprochen.

Weitere Artikel: Matthias Kalle fragt sich im Essay für ZeitOnline, warum gerade Fernsehserien mit Blick auf "gut gealtert/schlecht gealtert" so eine schnelle Halbwertszeit haben - und plädiert für eine Serienkritik, die den Zeitbezug und Kontext berücksichtigt. Die Schauspielerin Julia Koschitz spricht in der FAZ über ihre Arbeit für die Serie "Souls", in der sie eine Ärztin mit Vorahnungen spielt.

Besprochen werden Hong Sangsoos "Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall" (Perlentaucherin Katrin Doerksen bewundert "Momente von zarter Schönheit", FR, SZ, mehr dazu bereits hier), Ryan Cooglers neuer Superhelden-Blockbuster "Black Panther: Wakanda Forever" (taz, SZ, ZeitOnline, NZZ), Li Ruijuns in China nach langem Hin und Her verbotenes Armutsdrama "Return to Dust" (NZZ, mehr dazu hier), der Netflix-Film "Enola Holmes 2" mit Millie Bobby Brown (Presse) und die fünfte Staffel von "The Crown" (Zeit, Welt, FAZ), Außerdem weiß die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Literatur

Früher waren Subjektivismus und Autofiktion in der Gegenwartsliteratur eher verpönt, heute sind sie en vogue wie nie zuvor, stöhnt Jakob Hayner in der Welt nach einem Ritt durch die Geschichte der Kritik an eben jenem Phänomen. "Die Obsession, sich selbst zu finden, zu spüren und zu verwirklichen, hat die gegenwärtige Kultur durchdrungen. Gesellschaft?Ein Ergebnis wechselseitiger Selbstentblößung. Das therapeutische Ideal bestimmt den Alltag, der Sound der psychologischen Ratgeber ist in der Kunst angekommen, ideenlose Formzertrümmerung steht auf der Tagesordnung zahlreicher Kultureinrichtungen. ... Schreibt und lest nicht so romantisch!"     

Elfriede Jelinek


Im Standard-Gespräch erzählt die Filmemacherin Claudia Müller über ihre Herausforderungen, einen Dokumentarfilm über Elfriede Jelinek zu drehen. "Ich wusste, sie gibt keine Interviews, dass aber in den Archiven viel Material existiert. So hat sich das Konzept, Jelinek zur Sprecherin zu machen, entwickelt. Da wusste ich noch nicht, dass ich am Ende doch ein Interview bekommen werde. Ich habe den Erzählfluss aus ihren O-Tönen aus Radio- und Fernsehinterviews montiert, stets angelehnt an die österreichische Geschichte. Es gab ja markante Wendepunkte, etwa das vieldiskutierte Burgtheater-Stück oder das Plakat der Haider-FPÖ. Die Bildebene sollte sich dazu nicht illustrativ verhalten, sondern emotional etwas auslösen und der Sprache Raum geben. ... Meine Absicht war, die Zeitebenen unklar zu halten, sodass man nicht weiß, ist man in der Gegenwart oder der Vergangenheit - weil sich auch gar nicht so viel geändert hat, etwa im Tourismus und in der Naturausbeutung oder auch in der Politik. Es ging mir darum, die Aktualität ihrer Texte herauszuarbeiten."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Besprochen werden unter anderem Chantal Akermans "Meine Mutter lacht" (FAZ), Samantha Harveys "Das Jahr ohne Schlaf" (ZeitOnline), Martin Mosebachs "Taube und Wildente" (NZZ), Juan Días Canales' und Rubén Pellejeros neuer "Corto Maltese"-Comic "Nacht in Berlin" (Tsp) und Ulrike Almut Sandigs Gedichtband "Leuchtende Schafe" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Besprochen werden Stephan Kimmigs Inszenierung von Nikolai Rimsky-Korsakows Oper "Der goldene Hahn" in Weimar ("Ganz großes Musiktheater, bei dem die Kategorien von Erfüllung und Sublimation zerfließen", erlebt der begeisterte nmz-Kritiker Roland H. Dippel), Wagners "Meistersinger" in der Inszenierung von Johannes Erath an der Oper Frankfurt (ein Beispiel für "überragende Ensemblepolitik", lobt Wolf-Dieter Peter in der nmz), der "Hamlet"-Tag in Hildesheim mit einer Uraufführung von Fredrik Schwenks Choreografie "Ambleto" (nmz) und Ingo Kerkhofs Inszenierung von Hauptmanns "Michael Kramer" in Wiesbaden (FR).
Archiv: Bühne

Musik

Tom Buhrows Reformvorschläge zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die unter anderem eine radikale Reduktion der von den Anstalten betriebenen Orchester vorsehen, kommen in der E-Musikszene naturgemäß nicht gut an. Vor kurzem hatte Buhrow noch in einem Grußwort dem ihm unterstellten WDR-Sinfonieorchester alles Gute gewünscht - eine verlogene Geste, stellt Hartmut Welscher im VAN-Kommentar fest: Gerade dieses ginge nach Buhrows Reformideen angesichts der Konkurrenz anderer Anstalten wohl geradewegs vor die Hunde: "Der Kritik, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinem Kulturauftrag nicht mehr gerecht werde, begegnet Buhrow mit dem Vorschlag, Kultur weiter zu kürzen. Überhaupt scheint er immer nur an 'Was kann weg?' zu denken, statt an 'Was muss besser?'. Dabei fällt auf, was er in seiner plötzlich entdeckten Rolle des Tabubrechers und der Tabula-rasa-Geste alles nicht auf den Tisch bringt: die 214 Millionen Euro für die Rechte an der Fußball-WM in Katar zum Beispiel, die fast 2 Millionen Euro pro Folge für den 'Usedom-Krimi' am Donnerstag oder 'Die Eifelpraxis' am Freitag, all die verkitschten Vorabendserien und hanebüchen schlechten (und teuren) Unterhaltungsformate. Stattdessen beklagt er sich darüber, dass 'die Dokumentarfilmer mehr Dokumentarfilme, die Kulturlobby mehr Kultur, die Nachrichtenjournalisten mehr Nachrichten' wollten, also alles Dinge, die den Kern des öffentlich-rechtlichen Programm- und Kulturauftrags eigentlich ausmachen sollten."

Weitere Debatten zu Buhrows Rede heute in 9punkt.

Weitere Artikel: Helmut Möller und Deniza Popova sorgen sich in einem VAN-Essay um die Gesundheit von klassischen Musikern. Jens Uthoff berichtet in der taz von Querelen hinter den Kulissen des geplanten Berliner Ablegers des texanischen Festivals South By Southwest. Ljubiša Tošic spricht für den Standard mit Peter Paul Kainrath, dem Intendanten des Wiener Klangforums. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen befasst sich Arno Lücker in dieser Woche hier mit Maria Antonia von Bayern und dort mit Gajane Tschebotarjan. Susanne Westenfelder legt uns im VAN-Magazin den Komponisten Thomas Adès ans Herz und liefert die dafür nötige Playlist gleich mit. Im Tagesspiegel gratuliert Gregor Dotzauer dem Jazzlabel ACT zum 30-jährigen Bestehen. In der SZ schreibt Andrian Kreye einen kurzen Nachruf auf die brasilianische Sängerin Gal Costa. Außerdem gratuliert Eleonore Büning im VAN-Magazin Daniel Barenboim zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die musikhistorische Ausstellung "Wunderkammer 'Welt ohne Bilder" in Berlin (taz), Francesco Piemontesis Aufnahme der Klavierkonzerte von Ravel, Messiaen und Schönberg (FAZ), ein Album von Toby Goodshank und Mathias Kom mit Songs des Countrysängers Roger Miller (taz), Lucrecia Dalts Album "!Ay!" (Standard), ein von Christoph Koncz dirigiertes Konzert des Mahler Chamber Orchestras (Standard) und ein Konzert der Berliner Staatskaplle unter Gustavo Gimeno (Tsp).
Archiv: Musik

Kunst

"Das Verbot der 9. Moskauer Biennale ist ein neuer qualitativer Schritt in der Entwicklung der russischen Zensur", schreibt in der FAZ Konstantin Akinscha, und das, obwohl die Tretjakow-Galerie laut Akinscha durchaus versucht hatte, zeitgenössische Kunst für Putins Propaganda einzuspannen. "Die Absage der Moskauer Biennale war kein Einzelfall. Die Behörden verboten Dutzende von Ausstellungen zeitgenössischer Kunst nach dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine. Außerdem führten sie ein neues Zensursystem ein. Früher beruhte die Ausstellungserlaubnis auf der Beurteilung der für diese ausgewählten Werke. Heute müssen die Organisatoren die schwarzen Listen mit unerwünschten Künstlern konsultieren, deren Werke unabhängig von ihrem Inhalt der Öffentlichkeit nicht vorgeführt werden dürfen."

Die Attacken von Klimaaktivisten auf Kunstwerke sind auch ein Ausdruck für eine sich verändernde Einstellung zur Kunst, meint im Interview mit der SZ Boris Groys: "Ich glaube, vielen Leuten sind die Museen und der elitäre Kunstbetrieb nicht sehr sympathisch. Die Akzeptanz für diesen Betrieb sinkt mit jedem Jahr. Das nutzen die Aktivisten mit ihren Aktionen. In den USA ist die Kritik sehr stark, dass Museen nur Tempel des Warenfetischismus sind. Deshalb ist es auch so wichtig, dass die ausgestellten Kunstwerke obszön teuer sind. Man bewundert nicht ein Kunstwerk, sondern einen toten Gegenstand, der einen hohen Preis erzielt hat. Monets Gemälde zum Beispiel hat der SAP-Gründer Hasso Plattner für 110 Millionen Euro für seine Sammlung gekauft. Museen sind Orte, an denen die Geldaristokratie ihren Besitz ausstellt. Die Zurschaustellung ihrer wertvollen Kunstsammlung ist ein Akt der Demütigung der Leute, die sich solche Werte nicht leisten können." Aber die Aktivisten sollen sich keine Hoffnung machen: "Wie alle historischen Avantgardebilderstürmer" landen auch sie mit ihren Aktionen am Ende im Museum, ist sich Groys sicher.

Hrair Sarkissian. Final Flight, 2018-2019. Co-produced by Sharjah Art Foundation. © Sharjah Art Foundation Collection. Photo courtesy of the Artist.


SZ-Kritiker Till Briegleb blickt mit einiger Skepsis auf die Ausstellung der Sharjah Art Foundation aus den Vereinigten Arabischen Emiraten in den Hamburger Deichtorhallen. Ist so eine Ausstellung, "in der Darstellungen von fluiden Geschlechtergrenzen ebenso gezeigt werden wie die Gewalt arabischer Diktaturen, wo der Kurator der Ausstellung, der Direktor der Foundation Omar Kholeif, im Katalog offen seine Homosexualität thematisiert, dann doch eher ein Beleg für die Ambivalenz autokratischer Regime am Golf oder klassisches Artwashing?" Es ist irgendwie beides, lernt er beim Gang durch die Halle: "Omar Kholeifs Thema 'Diaspora' bietet in diesem Zusammenhang tatsächlich einen gewissen Schutz vor Verfolgung. Denn indem die 150 Kunstwerke von insgesamt 60 Künstlerinnen und Künstlern entweder die Vertreibungen und Verfehlungen anderer Staaten des islamischen Kulturzusammenhangs ansprechen, oder über die erlebte Diskriminierung in westlichen Ländern erzählen, besteht kaum die Gefahr einer strafbaren Beleidigung von Sultan bin Muhammad Al-Qasimi, der Sharjah seit dem Jahr 1972 regiert. Vielmehr steht sein Regime dadurch eher vorbildlich da."

Weitere Artikel: Die 500 von den Briten geraubten Benin-Bronzen können jetzt zumindest digital wieder in ihrer Gesamtheit betrachtet werden, meldet der Tagesspiegel.

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung von Marlene Dumas im Palazzo Grassi in Venedig (Tsp), eine Ausstellung der Berliner Künstlerin Farkondeh Shahroudi, die in diesem Jahr mit dem Hannah-Höch-Förderpreis ausgezeichnet wird, im Berliner Kupferstichkabinett (taz), Filme des Medienkünstlers Jon Rafman im Schinkel Pavillon und in der Galerie Sprüth Magers, beide in Berlin (Tsp), eine Ausstellung rund um den Erwerb 1933 der Sammlung Curt Glaser durch das Kunstmuseum Basel (NZZ), die Etel-Adnan-Retrospektive im Lenbachhaus München (taz) und "Alpine Seilschaften", eine Ausstellung mit Bergmalerei in der niederösterreichischen Landesgalerie (FAZ).
Archiv: Kunst