Efeu - Die Kulturrundschau

Die Sortier- und Stempelmaschine des Betriebs

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2022. Die Feuilletons feiern die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar, die in Darmstadt den Büchner-Preis erhielt und sich mit einer Rede bei ihrem großen Bruder Georg bedankte. Die FR stürzt sich in Ruth Wolf-Rehfeldts poetische Buchstabenwellen. Die SZ freut sich über die Profanisierung von Peter Paul Rubens im Museum der Schönen Künste in Antwerpen. Die taz porträtiert die belarussische DJane Ludmilla Pogodina, die es aufgegeben hat, in Minsk die Menschen zum Tanzen zu bringen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.11.2022 finden Sie hier

Literatur



In Darmstadt hat Emine Sevgi Özdamar den Georg-Büchner-Preis erhalten - in dem Video oben ab 1h 28 zu sehen. Es war eine zunächst sehr persönliche Rede, die sich dann aber doch noch als Hommage auf Büchner entpuppte, hält Dirk Knipphals in der taz fest. Der Autor wurde ihr auf der Schauspielschule in Istanbul "der große Bruder, 'der mir auf meinem Weg leuchtete'. Und weiter: 'Jeder hat im Himmel einen persönlichen Himmel, in dem nicht nur die Sterne, sondern auch die Menschen, die uns sehr berührt haben, ständig leuchten. Einer davon ist mein Bruder Georg Büchner.' Marie Schmidt hatte zuvor in ihrer Laudatio die Vielfalt und Unmittelbarkeit der Schreibweisen Özdamars herausgestellt: 'Ihre Literatursprache kommt mir so vor, als würde sie die Welt ein- und ausatmen", sagte Schmidt, die damit die Besonderheiten dieser Autorin gegen die Zuschreibungen und die 'Sortier- und Stempelmaschine des Betriebs' ausspielte, die Özdamar allzu lange allzu eindeutig in die 'türkische Schublade' (ein Begriff von Özdamar selbst) gesteckt haben."

Und Maria Wiesner schreibt in der FAZ: "Wenn Özdamar ihre ersten Begegnung mit dem Namen Georg Büchner in Berlin beschreibt, dann gelingt ihr mit wenigen Worten eine Skizze der Nachkriegsstadt, in der man 'noch die Einschusslöcher an den Häusern mit den Händen tasten' konnte und Zeitungsblätter durch die Ruinen flogen, 'als ob sie die Geister dieser Stadt wären'. Solche Sätze erinnern in Stil und Ton nicht ohne Grund an Özdamars aktuellen Roman, ist die Geschichte an diesem Abend doch eine Ergänzung, ein zusätzliches Kapitel im großen Erzählbogen, der sich aus dem Leben der Autorin speist." Judith von Sternburg von der FR erlebte mit dieser Rede auch "ein Stück unangestrengter Literatur". Ebenfalls online auf Youtube: Özdamars Lesung zur Büchner-Auszeichnung.

Lena Bopp berichtet in der FAS von der Buchmesse in Beirut, wo sich ihr das Elend des krisengeschüttelten Landes an vielen Stellen zeigte. Entsprechend "war viel vom Kämpfen die Rede" und "von der Literatur als Werkzeug des Widerstands, mit dem sich die Hoheit über das katastrophale Geschehen zurückgewinnen lasse, das der Libanon und die Menschen dort erleben. Schon jetzt ist eine ganze Reihe von Büchern erschienen, die den Niedergang des Landes reflektieren. Das interessanteste ist ein literarisches Tagebuch mit dem Titel 'Beyrouth 2020 - Journal d'un effondrement'" von Charif Majdalani.

Weitere Artikel: Raphaela Edelbauer verneigt sich im Standard vor Elfriede Jelinek, über die nun ein Dokumentarfilm in die Kinos kommt. Sergei Gerasimow schreibt hier und dort in der NZZ Kriegstagebuch aus Charkiw. In seinem Intellectures-Blog spricht Thomas Hummitzsch ausführlich mit Sinthujan Varatharajah über die Folgen des Kolonialismus. Außerdem liest Hummitzsch für die taz Neuerscheinungen aus dem Bereich der postkolonialen Literatur. In der Welt liefert Wolf Lepenies eine kleine Kulturgeschichte der Relektüre. Jule Hoffmann wirft für ihr Feature im Dlf Kultur einen Blick darauf, wie sich die Comicszene organisiert.

Besprochen werden unter anderem Moritz Hürtgens "Boulevard des Schreckens" (SZ), Marcia Zuckermanns "Schlamassel!" (Standard), Julian Barnes' "Elizabeth Finch" (Tsp), Matthias Wittekindts "Die rote Jawa" (FR) und neue Krimis, darunter Gu Byeong-Mos "Frau mit Messer" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Ruth Wolf-Rehfeldt: Ohne Titel, Detail, Mitte der 1970er-Jahre. Bild: Kupferstichkabinett

Allerhöchste Zeit wurde es in den Augen von FR-Kritikerin Ingeborg Ruthe, die 90-jährige Ost-Berliner Künstlerin Ruth Wolf-Rehfeldt mit dem Hannah-Höch-Preis auszuzeichnen: "Spät, zum Glück nicht zu spät, kommt die Ehrung für das Lebenswerk. Die Künstlerin steckt den Rummel jedoch bescheiden weg. Ach ja, Ruhm, was ist das? Ein wenig Schaum auf ihren poetischen Buchstabenwellen von A-Z, den hüpfenden und fliegenden Sprachketten, der rhythmischen Schwarmintelligenz von Pfeilen, Ornamenten, Architekturen, Schmetterlingen, Kegeln, Kuben, Käfigen, Kästen und Bäumchen-Symbolen. All die ungewöhnlichen Schreibmaschinengrafiken machte Ruth Wolf-Rehfeldt seit den 70er Jahren. Aufgehört hat sie damit abrupt 1990. Die Erika verstummte. "Weil im Zeitalter des Mailsystems die getippte Mail-Art obsolet war", wie die Künstlerin es unsentimental sagt. Weil Computer die Schreibmaschinen arbeitslos gemacht haben. Und weil ihrer Kunst mit dem Ende der DDR das Utopische, aber auch das Subversive abhandengekommen sei."

Peter Paul Rubens: Anbetung der Könige. Bild: KMSKA

SZ
-Autor Josef Kelnberger hätte sich im neu gestalteten Königlichen Museum der Schönen Künste in Antwerpen gern von Größe und Pracht überwältigen lassen, stattdessen muss er sich über gewagte Profanisierungen freuen: "In der Mitte des Rubens-Saales mit seinen gewaltigen Altarbildern lümmeln auf einem Sofa zwei Plüschdromedare. Es sind die Tiere, die auf Rubens' Werk im Hintergrund ihr Haupt erheben. Solche Details aus den alten Werken führen an vielen Stellen des neuen Museums ein Eigenleben als Skulpturen, hier ein Tierschädel, dort eine Hand, die aus der Wand herausragt. Dem Menschen kann nichts Schöneres passieren, als dass die Kunst seine Welt zertrümmert und ihn zwingt, sie neu zusammenzubauen. Beim Umbau des KMSKA hat man diesen Ansatz mit großer Konsequenz und Raffinesse verfolgt, bis in die Architektur hinein."

Weiteres: Kerstin Holm spricht in der FAZ mit der russischen Fotografin Victoria Iwlewa über ihre Solidarität mit der Ukraine, Kriegsverbrechen, Hirnwäsche und gute Russen. In der taz schreibt Katrin Bettina Müller zum Tod des Berliner Künstlers Martin Kaltwasser.

Besprochen werden eine Schau des Barockmalers Wolfgang Heimbach im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster (FAZ) und die Ausstellung "Magyar Modern" zu ungarischer Kunst in Berlin von 1910 bis 1933 in der Berlinischen Galerie (Tsp).
Archiv: Kunst

Architektur

Markus Ackeret porträtiert in der NZZ Putins Architekten, den Italiener Lanfranco Cirillo, der mit seinen Bauten für Russlands Oligarchen ein ausschweifendes  Jetset-Leben führen konnte, bis Interpol einen Internationalen Haftbefehl gegen ihn ausstellte: Zu seinem Albtraum wurde Alexej Nawalnys Film über Putins Palast am Schwarzen Meer: "Nawalnys Film habe ihn zu einem Kriminellen gestempelt, sagt er. Cirillo aber ist stolz auf das neoklassizistische Projekt, das weltweit für Hohn und Spott gesorgt und in Russland Großdemonstrationen ausgelöst hat. Die Vorstellung, dass er das für Putin gebaut haben soll, findet er absurd. 'Warum sollte Putin als Präsident persönlich ein solches Haus bauen, wo er doch über zahlreiche Residenzen verfügt?', fragt er. 'Putin habe ich dort kein einziges Mal getroffen, und ich habe mit ihm über dieses Projekt nie gesprochen.' Das komplizierte Konstrukt aus Günstlingen aus Putins Umfeld und andere Hinweise deuten allerdings darauf hin, dass der Kremlchef damit etwas zu tun gehabt haben dürfte."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Nawalny, Alexej

Film

Revolte mit der Kamera: "Rebellinnen" (Salzgeber)

Breit besprochen wird Pamela Meyer-Arndts Dokumentarfilm "Rebellinnen" über die Fotografinnen Cornelia Schleime, Gabriele Stötzer und Tina Bara, die sich als junge Frauen mit der Drangsal der DDR-Staatssicherheit herumschlagen mussten. Tagesspiegel-Kritikerin Gunda Bartels staunt über die Zähigkeit der drei: "Dass die Zermürbungstaktik der Stasi den Künstlerinnen damals schwer zugesetzt hat, ist jedem Statement der 'Rebellinnen' anzumerken. Trotzdem hat die Kunst ihnen Widerstandfähigkeit verliehen und sie zum Weitermachen animiert." Suse Fischer von der Jungle World hat viel Freude am Freiheitssinn der Künstlerinnen und ihrer Werke.

Welt-Kritiker Michael Pilz hingegen hat "bei aller Sensibilität und Schönheit" in diesem dennoch auch "ein wenig seltsam" wirkenden Film zuweilen Magenschmerzen: Meyer-Arndt ist Westdeutsche, ihr Director's Statement durchzieht "Entdeckerstolz" und hier und da neigt der Film zum "Westplaining": "Man sieht dem Film sein Staunen über jenen von Pamela Meyer-Arndt beschriebenen Freiheitssinn auch deutlich an. Ein Grund zum Wundern wäre es, hätten die Menschen in der DDR gelebt wie von der DDR gewünscht und wie es sich der Westen immer noch gern vorstellt: Unzufrieden aber einverstanden mit dem fürsorglichen Staat hat sich der DDR-Mensch zwischen Sitzgruppe und Schrankwand eingerichtet mit Nordhäuser Doppelkorn und Würzfleisch, mit den Puhdys und dem 'Kessel Buntes'. Ohne jeden Sinn für Freiheit. Möglich, dass es solche Menschen gab in der kommoden Diktatur der DDR. Die Mehrheit wollte, wie in allen Diktaturen, freier leben als sie war."

Weitere Artikel: Caroline Würfel spricht für das ZeitMagazin mit dem Filmemacher Stanley Sunday, der ein Animationsprogramm nutzt, um damit schwule Miniaturen wie aus einem Videospiel zu erstellen Christiane Peitz wirft für den Tagesspiegel einen frühen Vorab-Blick auf die Berlinale-Retrospektive, für die Filmschaffende Filme über das Jungsein kuratieren. In der SZ staunt Susan Vahabzadeh über den Erfolg von Margot Robbie, "die derzeit eine Hauptrolle nach der anderen spielt".

Besprochen werden Quentin Tarantinos Filmessay-Memoir "Cinema Speculation" (FAZ, Welt), Yvan Attals "Menschliche Dinge" (taz), eine Adaption des Romans "Gefährliche Liebschaften" als Seifenoper (taz) und die US-Serie "Shameless" (ZeitOnline).
Archiv: Film

Bühne

Mit dreifacher Annette: Anne Webers "Heldinnenepos" am Schauspiel Stuttgart. Foto: Thomas Aurin

Dušan David Pařízek
hat am Schauspiel Stuttgart Anne Webers Roman "Annette, ein Heldinnenepos" auf die Bühne gebracht. In der SZ lobt Adrienne Braun die dichte und temporeiche Inszenierung, in der drei Schaupielerinnen die französiche Kommunistin Annette Beaumanoir geben, die erst für die Resistance, dann für die algerische Unabhängigkeit kämpfte: "Pařízek hat eine Textfassung erstellt, die keinen Zweifel an der Stärke von Webers Sprache lässt. Sie besticht nicht nur durch Treffsicherheit, sondern auch durch eine verführerische Ironie, hinter der Gewalt, Tod und Verlust umso schmerzlicher aufblitzen."

In der Nachtkritik zeigt sich Steffen Becker weniger zufrieden: "Gerne wäre man tiefer in die psychologische Ebene eingestiegen. Wie verarbeitet Annette die Unvereinbarkeit von Familienleben und Revolution (sie verlässt die Kinder, weil sie vor einer Haftstrafe flieht), wie erlebt sie den Konflikt zwischen konkreter Handlung und abstrakter Ideologie (sie rettet Juden vor den deutschen Besatzern gegen die Anweisung ihrer Führungskader), wie kämpft sie mit der Einsamkeit, als sie erkennt, dass sie für eine Unabhängigkeitsbewegung arbeitet, die ebenfalls foltert und Gegner beseitigt?"

Besprochen werden ein Volksbühnenabend in Erinnering an den Schweizer Regisseur Benno Besson, den Bertolt Brecht 1949 in die DDR holte und der dort das aufregendste Theater des Landes machte, bis er entnervt von der DDR-Bürokratie das Land verließ (SZ), Jonathan Meeses dröhnendes Stück "Barrier Reef" im Wiener Volkstheater (Standard), ein Chopin-Abend des Choreografen Stephan Thoss in Mannheim (FR) und Ibsens "Nora" am Vorarlberger Landestheater in Bregenz (Standard).
Archiv: Bühne

Musik

Für die taz porträtiert Jens Uthoff Ludmilla Pogodina, die bis zum gescheiterten Austand in Belarus Partys im Nachtleben von Minsk veranstaltet hat und heute im Berliner Exil lebt. "Inzwischen ist es unter dem immer rigideren und brutaleren Regime in Belarus kaum mehr möglich, Konzerte auszurichten. 'Clubs in Minsk haben reihenweise dichtgemacht, einige aus politischen Gründen, andere, weil die Leute das Land verlassen mussten. Es gab ungefähr ein Dutzend Auftrittsorte in Minsk, in denen wir Partys veranstaltet haben. Von denen ist fast nichts mehr übrig.' Pogodina hofft, dass die Gruppe bald öfter gemeinsame Veranstaltungen im Exil organisieren kann. ... Eigentlich tritt #keepminskweird dabei gar nicht sonderlich politisch auf. 'Mir geht es vor allem um Kunst und Kultur', sagt Pogodina. 'Aber Lukaschenko hat vor allem Künstlerischem tierische Angst. Es ist lächerlich. Erst kürzlich sind zwei Freunde von mir auf der Extremistenliste der Regierung gelandet. Einer von ihnen ist DJ, der andere Bühnenbildner.'" Kommenden Sonntag veranstaltet Pogodona einen Abend in der Berliner Panke.

Außerdem: Gregor Dotzauer resümiert im Tagesspiegel die Jazztage Berlin. Eric Facon porträtiert in der NZZ den Singer-Songwriter James Taylor. Christoph Palmer (Zeit), Christian Schmidt (Tsp) und Gerlad Felber (FAZ) erinnern an den vor 350 Jahren gestorbenen Komponisten Heinrich Schütz.

Besprochen werden ein Konzert von Pavement (Tsp, FAZ.net), ein Auftritt von Marillion (Welt) und ein Album des Geigers Augustin Hadelich mit Britten- und Prokofjew-Aufnahmen (SZ).
Archiv: Musik