Efeu - Die Kulturrundschau

Stoffhose, Windjacke und Sneakers

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01.11.2022. Die Berliner Zeitung bewundert das großstädtische Bewusstsein, das Charlottenburgs Kulturbürgertum in Anne Schönhartings Fotografie an den Tag legt. In der Zeit erzählt Daniel Barenboim, wie seine schönsten Illusionen über die Musikalität der Welt platzten. Die FAZ spürt auf dem Jazzfest in Frankfurt das Feuer des kulturpolitischen Widerstands. Der Tagesspiegel feiert die Unbekümmertheit und Geduld des "Heimat"-Regisseurs Edgar Reitz, der heute neunzig wird. Schon um ausufernde Genderdiskurse einzubinden, rät die NZZ wieder zur Krawatte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.11.2022 finden Sie hier

Kunst

Anne Schönharting: "Loretta Würtenberger und Daniel Tümpel mit Tochter" aus der Reihe Habitat 2012-2022 / Haus am Kleistpark

Die Ostkreuz-Fotografin Anne Schönharting arbeitete in Kirgisien, Indien und Nordirland. Für die Ausstellung Habitat im Berliner Haus am Kleitspark hat sie Künstler und Intellektuelle in ihrer Charlottenburger Lebenswelt porträtiert, in der Berliner Zeitung ist Ingeborg Ruthe umgehauen von diesen prunkvollen Kompositionen des gehobenen Kulturbürgertums: "Der Charlottenburger, die Charlottenburgerin an sich - das besagen Schönhartings subtil inszenierte und delikat wie in Altmeistergemälden komponierte Bilder - ist gutbürgerlich, bildungsbürgerlich, manchmal sogar großbürgerlich, angefüllt mit Großstadtbewusstsein. Weltbürgertum eben, ohne den Drang nach einer das Leben vor Lärm und Abgasen abschirmenden Villa in Zehlendorf oder im Grunewald. Charlottenburger Citoyens fahren im Urlaub und an Wochenenden raus in die Natur, ansonsten bevorzugen sie das Wohnen an befahrenen Geschäftsstraßen, über Restaurants, Cafés, Bars, Galerien in geräumigen Gründerzeitetagen mit hell erleuchteten großen Fenstern, luxuriösen Entrees aus Marmor, Spiegeln, von Kokosläufern bedeckten Treppen."

In der NZZ hält Beatrice Achterberg, wie unglücklich die Kunstwelt nach der Kartoffelbrei-Attacke auf Monets "Heuschober" im Postdamer Barberini-Museum ist. Bemerkenswert: In der Printausgabe wird die Direktorin des Hauses mit den verhaltenen Worten zitiert: "Es gibt schönere Sachen als Direktorin", während es online ungleich dramatischer klingt: "Es ist für uns der große Horror."

Besprochen werden die Jubiläumsschau der Fondation Beyeler zum 25-jährigen Bestehen mit Duane Hansons lebensnahen Skulpturen (FAZ), Retrospektive der libanesischen Künstlerin Etel Adnan im Münchner Lenbachhaus (Welt), die bereits mehrfach gefeierte Ausstellung des Fin-de-Siècle-Malers Oskar Zwintscher im Dresdner Albertinum (Tsp).
Archiv: Kunst

Film

Peter Beddies spricht für die Welt mit der iranischen Schauspielerin Donya Madani, die gerade bei den Hofer Filmtagen ihren Kurzfilm "Noghreh" vorstellt. Ausreisen durfte sie aus ihrem Heimatland nur unter der Auflage, dass sie in Deutschland mit Kopftuch auftreten würde - was sie zusagte, um bei ihrem Auftritt den Hof die Auflage zu brechen. "Es war keine Aktion, die ich lange vorher geplant hatte. Als mir der Ausweis weggenommen wurde, da machte es in mir Klick! Da wusste ich, dass ich nicht länger eine Person sein kann, die sich an solche Auflagen hält. Ich sollte mein Leben ändern. Ich sollte kämpfen! ... " Aber: "Ich will auf jeden Fall zurück in mein Land. Hoffentlich werde ich es überleben." Ihr Film steht im kostenpflichtigen Video-on-Demand-Angebot des Festivals.

Edgar Reitz wird neunzig Jahre alt. Seine durchaus autobiografisch angefärbte "Heimat"-Saga steht wie ein einsamer Monolith in seinem Schaffen, aber auch in der deutschen Film- und Fernsehgeschichte, schreibt Sandra Kegel in der FAZ. In der 3sat-Mediathek ist zumindest der erste Zyklus aus den Achtzigerjahren zu finden. "Den dieser Chronik innewohnenden Widerspruch, dass der junge Reitz so schnell wie möglich wegwollte aus der Enge dieser Provinz, um sich dann filmisch ein halbes Leben lang damit auseinanderzusetzen, macht er seit fast so lange und auf ähnliche Weise produktiv wie die französische Autorin Annie Ernaux in ihrem autofiktionalen Werk." Christiane Peitz würdigt Reitz im Tagesspiegel als einen, der "mit seiner unverwechselbaren Mischung aus Unbekümmertheit und Geduld Barrieren überwand - für Serien lange vor dem Streaming, für einen archaischen Dialekt, den das Publikum versteht, oder ein Filmset, für das ein komplettes historisches Dorf gebaut wurde". Dlf Kultur hat mit dem Filmemacher ein aktuelles Geburtstagsgespräch geführt. In den Archiven der Sender finden wir außerdem Gespräche beim SWR, WDR und BR. Vor kurzem erschien auch seine Autobiografie.

Besprochen werden Hans-Christian Schmids "Wir sind dann wohl die Angehörigen" über die Reemtsma-Entführung aus Sicht des Sohns (Tsp, Jungle World), die in Görlitz entstandene Serie "Ze Network" mit David Hasselhoff (ZeitOnline), Tom Georges Agatha-Christie-Parodie "See How They Run" (Tsp), Parker Finns Horrorfilm "Smile" (NZZ), die Netflix-Serie "The Playlist" über die Geschichte von Spotify (taz) und die von der ARD online gestellte Heimatserie "Höllgrund" (FAZ).
Archiv: Film

Design

"Trans statt Testosteron", unter diesem Motto steht für Dominik Pietzcker von der NZZ der aktuelle Männlichkeitsdiskurs. Wenigstens in der Mode will er das nicht mehr hinnehmen: "Sind Männer kollektiv dazu verurteilt, ihr Dasein in einem unbestimmten, weil genderbefreiten Einheitslook aus Stoffhose, Windjacke und Sneakers zu fristen, um nicht in den Verdacht des Reaktionären zu geraten und als alte, zumindest weiße Männer abgestempelt zu werden?" Sogar "gut geschnittene Anzüge haben mittlerweile einen Hauch von Frackschößen und Seidenstrümpfen." Pietzcker rät zur Herrenkrawatte als Zeichen des "Notwendig-Überflüssigen", denn "bei steigenden Außentemperaturen aufgrund des Klimawandels und generell der Tendenz zum Locker-Informellen ist die Krawatte beides: Bekenntnis zum Obsolet-Dysfunktionalen und zugleich Ausdruck eines Formbewusstseins und eines löblichen Strebens nach persönlicher Unverwechselbarkeit."

Dazu passend führt Alina Schneider in der taz durch die Geschichte des Crossdressings, anlässlich der Ausstellung "Under Cover - A Secret History of Cross-Dressing", zu sehen im C/O Berlin. Besprochen werden außerdem neue Biografien über Coco Chanel und Catherine Dior (Standard).
Archiv: Design

Bühne

Besprochen werden Schorsch Kameruns Inszenierung von Henry Purcells "King Arthur" am Bremer Theater (die Jan-Paul Koopmann in der taz zwischen Punk-Avantgarde und barocker Semioper verortet) und Martin Crimps "Wenn wir einander ausreichend gequält haben" am Schauspiel Köln (Welt) und Peter Jordans und Leonhard Koppelmanns Stück "Marie-Antoinette oder Kuchen für alle!" an der Kömodie am Kurfürstendamm (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Literatur

Für den Tagesspiegel denkt Gerrit Bartels hier über Wahrheit und Fiktion bei Proust und dort über Prousts Einfluss auf den Schriftsteller François-René de Chateaubriand nach. Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiterhin Kriegstagebuch aus Charkiw.

Besprochen werden unter anderem Kim de l'Horizons "Blutbuch" (Tsp), neue Romane von Cormac McCarthy (online nachgereicht von der FAS), Leïla Slimanis "Schaut, wie wir tanzen" (Dlf Kultur), Ian Rankins Fertigstellung von William McIlvanneys Nachlass-Fragement "Das Dunkle bleibt" (Zeit) und Eva Tinds "Ursprung" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

"Endlich wieder Teufelsmusik": Hungrig ging FAZ-Kritiker Wolfgang Sandner zum Deutschen Jazzfestival in Frankfurt und satt kam er nach Hause. Auf Jazz als einst widerständige, aber längst domestizierte Musik fürs Bildungsbürgersegment ist er hier nicht gestoßen, sondern aufs pralle Leben. Beim Auftritt der New Yorker Altsaxophonistin Lakecia Benjamin etwa, die John Coltranes Werke interpretierte: "Da lodert noch das Feuer des kulturpolitischen Widerstands, da gibt es immer noch diesen nicht zu bändigenden Klangfuror." Und auch beim Konzert von Ingrid Laubrock "öffnen sich die Pforten der Wahrnehmung", sodass gar "der defätistische Free Jazz wieder zum Hoffnungsträger für für musikalische Innovation wurde, weil jeder Klangfetzen, jedes Doppelzungenschnalzen und all die atonalen Klangzusammenstöße zwischen Laubrock und ihren drei Mitstreitern in sinnfällige Strukturen verwandelt werden." Den Auftritt (und viele weitere) kann man auf Youtube sehen:



In der Zeit blickt Daniel Barenboim, der in zwei Wochen seinen 80. Geburtstag feiert, auf sein Leben zurück - auf wichtige Weggabelungen und Begebungen, aber auch auf seine frühesten Jahre: "Ich erinnere mich, dass alle lachten, weil ich als kleines Kind dachte, die ganze Welt spiele Klavier. Meine Eltern waren beide Klavierlehrer, und deshalb waren die einzigen Leute, die tagsüber zu uns nach Hause kamen, Musikstudenten und andere Pianisten. Ich habe keine Menschen von außerhalb getroffen, die nicht Klavier spielten. Die Leute fanden das sehr komisch, und ich habe nicht verstanden, warum. Musik war schließlich überall um mich herum. Instinktiv verstand ich, dass Musik eine Sprache war, in der ich kommunizieren konnte, obwohl ich das damals natürlich noch nicht ausdrücken konnte. Musik war eine ernste Angelegenheit, aber vor allem war sie eine enorme Quelle der Freude für mich."

Außerdem: Maxi Broecking spricht in der taz mit dem Jazzschlagzeuger Sven-Åke Johansson, der beim Jazzfest Berlin Ehrengast ist. Für die taz porträtiert Andreas Hartmann den Klangkünstler Nico Sauer, der am 3. November in Berlin seine  Hörspiel-Klang-Installation "Moonbreaker" aufführen und damit einen Einblick in die Musik der Welt in 100 Jahren verspricht (was man sich darunter vorstellen soll, vermittelt zum Beispiel diese Dlf-Sendung).

Besprochen werden der Auftakt des Festivals Wien Modern mit den Wiener Philharmonikern (Standard), ein neues Album der Wiener Band Leftovers (Standard), ein Wiener Auftritt des Gewandhausorchesters Leipzig unter Daniele Gatti (Standard) und ein Konzert der Singer-Songwriterin Melody Gardot (Standard).
Archiv: Musik