Efeu - Die Kulturrundschau

Heillose Verlorenheit im Genie-Irrsinn

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.10.2022. Anrüchig findet die SZ den Auftritt von Kim de l'Horizon, der die Aufmerksamkeit für die Frauen im Iran einfach absorbierte. Putin arbeitete zwanzig Jahre lang auf den totalen Faschismus hin, nun hat er ihn, sagt der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow in der NZZ. Die Kritiker liegen "Theatermacher" Stefanie Reinsperger zu Füßen, die so herrlich dampft und dröhnt. Die FAZ schaut in Oberhausen ein wenig wehmütig auf Otfried Preußlers alte kleine Hexe. SZ und Standard hätten Taylor Swifts verschmiertes neues Album offenbar lieber verschlafen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.10.2022 finden Sie hier

Literatur

Nele Pollatschek nimmt in der SZ Kim de l'Horizons Auftritt bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises zum Anlass für einen komplexen, lesenswerten Essay über Scham, die sie bei diesem Auftritt (allerdings eher im Sinne von Fremd-) empfunden hat, über soziale Gerechtigkeit, Aufmerksamkeit und Anerkennung. Kim de l'Horizon widmete die Auszeichnung bekanntlich "auch den Frauen im Iran" und rasierte sich aus Solidarität die Haare ab. "Anrüchig wäre es, so zu tun, als würde man anderen die Aufmerksamkeit geben, um in der Aneignung ihres Leids selber mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Wenn man die Aufmerksamkeit in Wahrheit nicht weiterleitet, sondern absorbiert. ... Als dreifach-privilegierte Person - talentiert, diszipliniert, an der Schreibschule gut ausgebildet (und so heißt es, auch noch unfassbar charmant) - hat hier jemand die Aufmerksamkeit erhalten, die man bekommt, wenn man ein Buch schreibt, das eine Jury gerne auszeichnen will." Doch "hätte die Jury das Bedürfnis gehabt, den Buchpreis an die Frauen in Iran zu geben, sie hätte einen Weg gefunden. Das wäre ein Zeichen gewesen - dieses Jahr kein Preisträger, dieses Jahr die Freiheit in Iran. Und hätte de l'Horizon diesen Frauen die Aufmerksamkeit widmen wollen, hätte das so aussehen können: 'Danke für den Preis. Ich möchte die Aufmerksamkeit kurz um...' und dann acht Minuten Iran, gerne auch mit Rasur - wenn es der Sache dient. Stattdessen wurde gesungen, geweint und geschoren und es zieren nicht iranische Frauen, sondern de l'Horizons Kopf die Zeitungen."

Joseph Brodsky galt als russischer Dissident, verulkte aber in einem Gedicht die Ukraine. Bislang wurde "kaum erkannt, dass die Dissidenz gegen das politische Regime im Inneren gegen den Imperialismus nach außen keineswegs immunisiert", hält der Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili in der FAZ fest. Er sieht russische, sich als dissident verstehende Exil-Schriftsteller daher in der Pflicht, "sich mit den Lieblingen und Säulenheiligen der russischen Kultur wie Puschkin oder Brodsky auseinanderzusetzen. ... Diese Aufgabe lässt sie nicht als die wahren Hüter der alten russischen Kultur in finsteren Zeiten erscheinen, sondern fordert harte Arbeit an einer neuen russischen Kultur, die frei wäre von kulturellem Chauvinismus und politischem Imperialismus, den auch die größten Dichter und Denker Russlands nicht anzuerkennen, geschweige denn zu überwinden vermochten. Russland und seine Kultur müssen dekolonisiert werden, daran führt kein Weg vorbei."

Im Kommentar spricht sich taz-Redakteurin, Schriftstellerin und spät gewordene Goethe-Leserin Fatma Aydemir gegen einen diverseren Kanon aus: Nicht die weißen Autoren der Literaturgeschichte sind das Problem, sondern "der Kanongedanke an sich. Und dieses Problem wird sich nicht lösen, indem wir den Kanon um ein paar diverse Quotenautor_innen erweitern. Denn der Kanon ist in sich eine elitäre Erzählung, die identitätsstiftend für bestimmte Schichten, ja gar für eine Nation ist, seine Bedeutung thront immer auch auf dem Stolz auf eine Zugehörigkeit zu diesen, und somit gehört er gänzlich abgeschafft - wenn wir denn den literarischen Werken auf ihm jemals gerecht werden wollen. Denn nicht nur die Schüler_innen müssen vom Kanon befreit werden, sondern auch die Texte selbst."

Außerdem: Der Friedenspreis für den ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan geht schwer in Ordnung, findet Katharina Schmitz im Freitag (Dlf Kultur spricht mit Zhadan über seine Auszeichnung). In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Andreas Fanizadeh berichtet in der taz von seinen Begegnungen mit ukrainischen und dissidenten russischen Schriftstellern auf der Frankfurter Buchmesse. Susanne Lenz berichtet in der Berliner Zeitung von ihrem Treffen mit dem israelischen Autor Etgar Keret. Tobias Matern spricht in der SZ mit dem Schriftsteller Mohsin Hamid über dessen Roman "Der letzte, weiße Mann". Titanic-Chefredakteur und Romandebütant Moritz Hürtgen ärgert sich in der Zeit, dass kaum jemand Tickets für seine Lesetour kauft. Ingeborg Harms spricht in der Zeit mit dem Germanisten Peter Demetz, der gestern seinen 100. Geburtstag feiern konnte. ZeitOnline bringt eine Erzählung der burkinischen Dramaturgin Sophie Heidi Kam. Die Zeit der großen Indien-Begeisterung linksalternativer Bewegungen im Zuge von Hermann Hesses "Siddharta" ist zwar längst Geschichte, doch Martin Kämpchen glaubt im "Literarischen Leben" der FAZ, dass "wir das Buch als Symbol für jene, die lebensfähige Alternativen für unsere heute beschworene Zeitenwende suchen, wiederentdecken könnten". Fritz Göttler und Martina Knoben empfehlen in der SZ die besten Comics für den Herbst. Die FAZ bringt Notizen ihrer Redakteure von der Frankfurter Buchmesse. Jens Uthoff wirft für die taz einen Blick auf die Arbeit des neuen Awareness-Teams der Frankfurter Buchmesse. Und tazler Ulrich Gutmair lernt in Hessen jede Menge neuer Leute kennen.

Besprochen werden unter anderem Robert Menasses "Die Erweiterung" (taz), Tanja Maljartschuks "Von Hasen und anderen Europäern" (FR), Maggie Habermans "Täuschung. Der Aufstieg Donald Trumps und der Untergang Amerikas" (taz) und Wolfgang Strucks "Flaschenpost" (FAZ).
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Kunst

Bild: Illustration von Herbert Holzing aus Otfried Preußler, "Die Abenteuer des starken Wanja" by Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart

Tilman Spreckelsen (FAZ) trifft in Oberhausen auf Helden der Kindheit. Dort widmet die Ludwiggalerie Schloss Oberhausen Otfried Preußler und seinen Illustratoren die Ausstellung "Räuber Hotzenplotz, Krabat und Die kleine Hexe" und Spreckelsen schaut beinahe ein wenig wehmütig auf die Veränderung der Figuren im Laufe der Jahre: "An der Seite der Arbeiten Winnie Gebhardts für den Wassermann und 'Die kleine Hexe' stehen hier die modernen Bilderbuch-Adaptionen Daniel Napps, die mit den runderen Konturen und den größeren Augen ersichtlich auf ein jüngeres Publikum zielen als Gebhardts spitzige Illustrationen in den Fließtexten der Romane. Tatsächlich ist an die Stelle der zeichnerischen Reduktion, die Gebhardt und Tripp hochhalten, um zugleich mit ihren Bildern den Inhalt zu erweitern, in späteren Versionen anderer Illustratoren ein Zug ins Gefälligere nicht zu übersehen. Und wo Gebhardt die weitgehende Isolierung der im Niemandsland zwischen Kind und Erwachsenen angesiedelten Hexe in ihren Zeichnungen sehr anschaulich macht - wo wäre sie nur ohne den Raben Abraxas? -, da betonen andere die Momente der freundlichen Interaktion zwischen der Hexe und den Menschen umso mehr."

In der Welt sieht Boris Pofalla sein Verständnis des Surrealismus auf den Kopf gestellt dank der Ausstellung "Surrealismus und Magie - Verzauberte Moderne", die nach Station in der Peggy Guggenheim Collection in Venedig nun im Potsdamer Museum Barberini zu sehen ist. Die erstaunliche Bandbreite der Stile wird für ihn in der Schau sichtbar, etwa mit dem Werk der in Argentinien geborenen italienischen Malerin Leonor Fini: "Leonor Finis Amazonen mit den wallenden Mähnen und den nackten Brüsten könnten auch aus einem italienischen Trashfilm der 1960er Jahre stammen, gemalt wurden sie Anfang der 1940er. Demgegenüber wirken die Männer bei ihr oft wie Haremsdamen. Eine mit dem Bildgrund verschmelzende dunkle Sphinx wacht über den Schlaf eines Epheben, dessen Beine geöffnet sind, die Scham bedeckt von einem rosa Tuch - Gendertrouble im Zweiten Weltkrieg."

Für Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) werden in der Ausstellung Alpträume wahr: "Gerade die Frauen des surrealistischen Stils, so auch Leonor Fini, deren beklemmendes Gemälde 'Das Ende der Welt' ein Meisterwerk ist, oder die rätselhaften Türme im Nebel des Bildes 'Morgen ist nie' von Kay Sage, der Frau Tanguys, erzählen vom magischen Diktat, der Allmacht des Traums, der Verehrung des Irrsinns. Und zugleich diente die Darstellung der Frau als magisches Wesen zur Distanzierung von der patriarchalischen Auffassung vom Weib als erotisches Objekt und in der Rolle als passive Muse."

Außerdem: In der NZZ erzählt der Historiker Bernd Roeck die Geschichte des britischen Malers William Hogarth und seines Mopses "Trump". Für die FAS besucht Malena Bullmann das Kunst Kollektiv Ukranian Cultural Community (UCC), das in einem ehemaligen Charlottenburger Bordell Zuflucht gefunden hat. Besprochen werden die Ausstellung "Kaiserin Friedrich und die Künste" im Museum Kronberger Malerkolonie im Taunus (FAS), die Ausstellung "BOEM! Paul van Ostaijen in Berlin" im Berliner Museum Ephraim-Palais (Tagesspiegel) und die Max-Beckmann-Ausstellung "Day and Dream in Modern Germany 1914-1945" im St. Louis Art Museum (FAZ).
Archiv: Kunst

Film

Für die NZZ spricht Andreas Scheiner mit dem ukrainischen Filmemacher Oleg Senzow, der in Russland jahrelang im Straflager saß und nun für die Ukraine an der Front kämpft, während sein neuer Film "Rhino", ein brutaler Gangsterfilm, in den Kinos läuft. Seine Regie-Erfahrungen verhelfen ihm gerade zu "einer kleinen militärischen Karriere", da er es von Dreharbeiten gewohnt ist, "Leute herumzukommandieren." Seine Zeit im Gefängnis zeigte ihm, "wie tiefgreifend Putin die russische Nation verdorben hat. Die Russen sind Schafe geworden, hirntote Lämmer ohne jede Fähigkeit zu kritischem Denken. Es ist der totale Faschismus. Putin arbeitete zwanzig Jahre auf ihn hin, jetzt hat er ihn." In seinem Film wollte er "richtige Bösewichte zeigen, nichts romantisieren. Das war vor dem Gefängnis die Idee. Nach dem Gefängnis habe ich die Bösen besser verstanden. Denn niemand im Gefängnis hält sich für den Schurken. Das ist fundamental menschlich, dass man sich selber nicht als das Böse identifiziert. Stalin und Hitler taten es nicht, Putin tut es nicht. Und genauso denkt auch der Gangster Rhino nicht, dass er der Schlechte ist. Oder erst am Ende der Geschichte. Es ist ein Film über Vergebung."

Beglückt kommt Matthias Dell vom Festival Dok.Leipzig nach Hause, wo die Retrospektive "Defa-Dokumentaristinnen" neue Einblicke verschaffte: Was im offenen Titel "Abstellkammer" versprach, schuf im Gegenteil "auf unkonventionelle Weise Ordnung", schreibt Dell im Tagesspiegel. Die Neugierde der Kuratoren Carolin Weidner und Felix Mende aber "durchkreuzte auf der Suche nach vielfältigen künstlerischen Positionen und besonderen Momenten eben gängige Muster wie die öde Dichotomie von Repression und Widerstand, die in jedem trostlosen Fernsehfilm zum 3. Oktober seit mehr als 20 Jahren DDR spielen soll. Dissidentere Regisseurinnen wie Tamara Trampe, Helke Misselwitz und Petra Tschörtner standen hier neben den vergessenen Staatskünstlerinnen wie Annelie Thorndike (die von 1973 bis 1989 dem Komitee der Leipziger Dokwoche vorstand) und Gitta Nickel, weil die Arbeiten der letzteren eben auch gegen die Intentionen der einstigen Parteilinie geschaut werden konnten. So beginnt Nickels unterhaltsam-sprunghafter Film 'Jung sein … und was noch?' von 1977 als Porträt einer Stralsunder Jugendbrigade, in dem der Puhdys-Hit 'Alt wie ein Baum' als popkultureller Ausweis von vitaler Frische ein paar Mal zu oft vorgezeigt wird; endet dann aber in einer Klage über den Wohnungsmangel."

Weitere Artikel: Thomas Abeltshauser wirft für epdFilm einen Blick darauf, wie Kino und Fernsehen den Anschlag auf das Bataclan im Jahr 2015 aufarbeitet. Christiane Peitz gibt im Tagesspiegel einen Zwischenstand zu den von der Berlinale angestrengten Forschungen zum NS-Engagement des ersten Berlinale-Leiters Alfred Bauer in Nazi-Deutschland. "Man sollte ihn spielen lassen", findet Claudius Seidl in der FAZ und meint damit Kevin Spacey, der von einem US-Gericht gerade in einem, wenn auch diffusen Urteil, freigesprochen wurde, was angebliche sexuelle Übergriffe betrifft. Axel Timo Purr wirft für Artechock einen Blick ins Programm der 12. Afrikanischen Filmtage in München. Stefan Stiletto arbeitet sich für den Filmdienst durch die Filme von Danny Boyle. In der FAZ gratuliert Dietmar Dath Jeff Goldblum zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Fatih Akins "Rheingold" auf Grundlage der Autobiografie des Rappers Xatar (taz), Susanne Regina Meures' Doku "Girl Gang" über menschliche Litfaßsäulen (ZeitOnline), Uli Daeckers Dokumentarfilm "Anima - Die Kleider meines Vaters" (Artechock), die neue Staffel "Babylon Berlin" (NZZ) und Jaume Collet-Seras Superheldenfilm "Black Adam" mit Dwayne Johnson (SZ, Artechock, unsere Kritik).
Archiv: Film

Bühne

Bild: Stefanie Reinsperger als Thomas Bernhards "Theatermacher". Foto: Matthias Horn / Berliner Ensemble

Geschlossen liegen die KritikerInnen der Wucht von Stephanie Reinsperger zu Füßen, die Thomas Bernhards menschenverachtenden, sadistischen "Theatermacher" in der Inszenierung von Oliver Reese am Berliner Ensemble gibt. "Die grandiose, mit allen Registern des robusten Rampenspiels ausgestattete Stefanie Reinsperger … spielt den Bruscon von Beginn an authentisch unangenehm", schreibt Simon Strauss in der FAZ: Sie "dampft und dröhnt, sie schmiert sich an und lässt ihrem Ressentiment ungehemmt Lauf - gegen Frauen auf der Bühne ('Theaterhemmschuh'), gegen die Dummheit der Provinz (eine gefährliche 'Kunstfalle'), gegen die Tonart anderer Schauspieler ('die sprechen so, dass es einer Sau graust'). Einmal wirft sie sich urplötzlich flach auf den Boden, ein anderes Mal bekommt sie Szenenapplaus für die Zertrümmerung eines armen Campingtisches." Zugleich zeigt sie auch "die zarte Seele im Widerling, die heillose Verlorenheit im Genie-Irrsinn, den Künstler als armes Würstchen", ergänzt Peter Laudenbach in der SZ und erklärt: "Dass der Theatermacher und Theatermacker hier von einer Schauspielerin dargestellt wird, ist kein Gendertheorie-Ausrufezeichen, auch keine irgendwie ironische Brechung, sondern einfach ein Spiel."

Reeses Inszenierung kommt indes nicht ganz so gut weg, etwa bei Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung: "Tatsächlich wirkt alles an dieser unfassbar biederen Inszenierung wie im Peymann-Theater. Nur eine macht den Unterschied. Das hilft." Im Tagesspiegel erinnert Rüdiger Schaper: Es "kann gar nicht bezweifelt werden, dass Peymann das Vorbild war. Und Stein. All die Theaterkracher der guten alten Zeiten stecken in Bernhards Horrorfigur."

Außerdem: In der FAS fragt sich der Film- und Opernregisseur Jan Schmidt-Garre, weshalb ein Großteil des Publikums Dmitri Tcherniakovs "Ring" an der Berliner Staatsoper (Unsere Resümees) durchfallen ließ: Weil er den "Code der Oper" nicht nutzte, meint Schmidt-Garre. Besprochen werden Matthias Faltz' Inszenierung von Rainer Dachselts "Nachverdichtung" an der Berliner Volksbühne (FR), Leander Haußmanns Inszenierung von "Einer flog über das Kuckucksnest" mit dem inklusiven Berliner Rambazamba-Theater (Berliner Zeitung, nachtkritik) und das Doppelstück "A Plot / A Scandal"  der Choreografin Ligia Lewis im Hebbel am Ufer (Tagesspiegel).
Archiv: Bühne

Musik

Am Freitag um Mitternacht ist das neue Album von Taylor Swift online gegangen, passenderweise trägt es auch den Titel "Midnights". Christian Schachinger vom Standard ist vom neuen Wurf des US-Superstars allerdings nicht recht überzeugt, was vor allem an der Produktion liegt: "Ihre helle und durch Glas schneidende Stimme, die so gar nicht zu den mild depressiven Texten passen will, wird etwa im Song 'Maroon' tief in den Hallraum verräumt und mit einem zähen New-Wave-Sound der 1980er-Jahre unterlegt. Die verstörende Wirkung könnte man auch erzielen, wenn man Celine Dion zur Sängerin von Depeche Mode machen würde." Dabei entsteht ein "verschmierter Sound, in dem Taylor Swifts Stimme verfremdet und verzerrt als Geist durch den Raum schwebt. Auch ein Duett mit der stoischen Poptragödin Lana Del Rey in 'Snow On The Beach' verliert dadurch jede Dringlichkeit." Ein erwachsenes Album bezeugt Tagesspiegel-Kritikerin Inga Barthels. Und auf ZeitOnline staunt Timo Posselt: Die Musikerin "strahlt einschüchternd viel künstlerische Selbstsicherheit aus".

Mitternacht, diese Uhrzeit hat Klang und Atmosphäre, findet SZ-Kritiker Jakob Biazza, der offenbar gerade mächtig Druck auf dem Kessel hat. Gar nicht gut gefällt ihm nämlich etwa die Uhrzeit 9 Uhr 15, "wenn in den mittelständischen Unternehmen die Menschen zu Konferenzen zusammenkommen und an knoppersverkrümelten, früher graugrässlichen heute holz-hygge-dämlichen Scheißtischen ihre Pfründen verteidigen", schreibt der Kritiker rätselhaft überspezifisch. Auch ansonsten: Krawall. Nach dem zwar pflichtschuldig, aber eher am Rande rezensierten Swift-Album, das "gegen Ende aufschillert, regebogenleicht und hoffnungssatt", wünscht er sich "kosmische Gerechtigkeit", etwa in Form von "Karma-Keulen für die Schlechten. Genug gäbe es gerade ja." Vielleicht braucht er einfach mal Urlaub?



Julian Weber von der taz lässt sich von Kiev Stingl, dessen außergewöhnliche Lebensgeschichte und Karriere erzählen, die im Untergrund begann, zwischendrin auch mal Punk streifte und es seit 1975 und bis 1989 auf nur vier Solo-Alben brachte. Ein neues ist nun doch noch erschienen. Keine Frage, Stingl ist "der große Vergessene des deutschen Pop, vielleicht auch Faktotum, besser ein Geröllbrocken, quer zum Diskurs den Weg versperrend. Dass er überhaupt lebt, wenn auch zurückgezogen unterm Dach in Berlin-Steglitz, grenzt an ein Wunder."



Außerdem: Für den Tagesspiegel besucht Marvin Wenzel das Produzentenduo Miksu und Macloud. Besprochen werden neue Alben von The 1975 (Standard) und der Arctic Monkeys (ZeitOnline), ein von Francois-Xavier Roth dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker mit der Geigerin Isabelle Faust (Tsp) und das Album "Angels & Queens" von Gabriels (Standard).

Archiv: Musik