Efeu - Die Kulturrundschau

Herbstliche Welt der langen Schatten

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19.10.2022. Der Buchpreis für Kim de l'Horizon erregt die Gemüter. taz und ZeitOnline verteidigen ihn literarisch gegen den Vorwurf, hier werde vor allem Queerness ausgezeichnet. Die FAZ widerspricht allerdings, wenn l'Horizon seine Erfahrungen mit denen der Frauen im Iran gleichsetzt. Außerdem: Die Berliner Zeitung bangt vor Christian Thielemann als möglichem Nachfolger von Daniel Barenboim. Der Guardian sieht über dem Turner Prize einen Pfirsich auf- und eine flambierte Tomate untergehen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.10.2022 finden Sie hier

Literatur

Der Deutsche Buchpreis für den erklärtermaßen nicht-binären Kim de l'Horizon (unser Resümee) hat in den Kommentarspalten auf Social Media zu erwartbar unflätigen Aufwallungen geführt. Angesichts dieser Vehemenz versucht Christoph Schröder auf ZeitOnline zu beschwichtigen: Der Roman habe zweifellos Stärken und ein paar Schwächen. Doch "l'Horizon hat, und das ist Voraussetzung für jedes gelungene Kunstwerk, einen Weg gefunden, Erzähltes und Erzählung, Stoff und Form in Einklang zu bringen, auch wenn dieser Einklang in diesem Fall gerade darin besteht, die Einheitlichkeit des Erzählens aufzusprengen oder eben buchstäblich einen Figuren- und Gedankenfluss herzustellen. Dass Literatur mehr ist als nur die Themen, die sie verhandelt, weiß das 'Blutbuch' offensichtlich besser als viele, die es loben."

Auch Dirk Knipphals empfindet in der taz die Vorwürfe, hier werde vor allem Queerness ausgezeichnet, als "allzu billig" - dies "nimmt die literarische Expertise der Buchpreisjury zu wenig ernst. Vor allem zielt dieser Verdacht auch an dem literarischen Einsatz dieses Buches vorbei. 'Wie sehen Texte aus, wenn nicht ein menschliches Mustersubjekt im Zentrum steht und die Welt begnadet ins Förmchen goethet?', heißt es in dem Buch. Das ist in einer diverser werdenden Gesellschaft, die sich auf geteilte Selbstverständlichkeiten nicht mehr verlassen kann, durchaus eine wichtige Frage, nicht nur, aber eben auch an die Literatur. Insofern transportiert das Schreiben des Kim de l'Horizon tatsächlich etwas Zentrales. Queer ist nicht mehr 'anders'. Romane mit Migrationshintergrund sind nicht mehr 'Nische'. Bücher mit weiblichen Perspektiven sind nicht mehr 'Frauenliteratur'."

Bei aller Sympathie für Buch, Auszeichnung und Anliegen verspürt Andreas Platthaus in der FAZ doch ein Unbehagen, wenn Kim de l'Horizon mit dem solidarischen Abrasieren der Haare vor Publikum die eigene biografische Erfahrung als nicht-binäre Person mit den Erfahrungen der Frauen im Iran gleichsetzt, was l'Horizon im Anschluss auch in einem Gespräch auf Dlf Kultur bestärkt hat. Dabei gehe es de l'Horizon eher "um die Verabschiedung der Geschlechterdichotomie, damit das selbst empfundene Dazwischen widerspruchlos gelebt werden kann. Ob das allerdings dem Empfinden und mehr noch den Erfahrungen der von Kim de l'Horizon beschworenen Frauen in Iran entspricht, darf bezweifelt werden. Sie leben im Widerspruch, und das macht sie stark. Sie sind näher am Emanzipationsideal des klassischen Feminismus als an dem des Diversitätsdenkens." In der NZZ reagiert Claudia Mäder eher distanziert auf die Auszeichnung L'Horizons.

Weitere Artikel: Der Verleger Rainer Weiss fragt sich im Tagesspiegel, ob die goldenen Jahre der Frankfurter Buchmesse hinter uns liegen. In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Die Literarische Welt hat ihr Gespräch mit dem spanischen Literaturkritiker Patricio Pron online nachgereicht. Für 54books wirft Leander Steinkopf einen Blick in die Welt des Tratschs und der Missgunst in der schreibenden Zunft. In Marbach las Peter Handke Gedichte von Fabjan Hafner in eigener Übersetzung, berichten Mladen Gladić (Welt) und Hubert Spiegel (FAZ). Im Tagesspiegel führt André Höchemer durch die spanische Comicszene.

Besprochen werden unter anderem die beiden neuen Romane der Eheleute Julia Weber und Heinz Helle, die darin jeweils ihre Beziehungsprobleme verarbeiten ("Die doppelte Belichtung des vermengten Lebens und Schreibens macht den Raum der Autofiktion mehrdimensional", schreibt dazu Ekkehard Knörer in der taz), Serhij Zhadans "Himmel über Charkiw" (NZZ), Ana Penyas' Comic "Sonnenseiten" (Standard), Sara Mesas "Eine Liebe" (SZ) und Alberto Manguels "Fabelhafte Wesen" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Heather Phillipson: Rupture No1. Foto: Tate Liverpool

Die Tate Liverpool zeigt ab morgen die Finalisten des Turner Preises. Einiges kommt Guardian-Kritiker Adrian Searle formal etwas konservativ vor, aber Heather Phillipson Endzeit-Installation "Rupture No 1 findet er großartig: "Eine Reihe blinzelnder Augen, aus Naturdokumentationen geschnitten, blicken uns anklagend an, als ob die ökologische Krise allein unsere Schuld wäre, was sie offenkundig ist. Die Wände der Galerie sind mit Filmen von aufkommenden Stürmen und ziehenden Schwänen überzogen. Sogar die Brachvögel beschweren sich. Auf einer großen Leinwand geht die Sonne auf wie ein Pfirsich, und die Erde, so erklärt uns Phillipson in einem neuen Audiokommentar, hörbar in einem Wald von baumelnden Kopfhörern, ist eine flambierte Tomate."

Hira Nabi: "All That Perishes at the Edge of Land", Filmstill, 2019. Bild: Museum Tinguely

Gleich drei Baseler Ausstellungen setzen sich mit unserem Verhältnis zur Natur auseinander, und FAZ-Kritikerin Ursula Scheer ahnt, dass hier auch die Vorstellungen künstlerischer Autonomie an Grenzen gerät. Unser Handeln gegenüber der Umwelt und dem Tier weist immer auf uns zurück. Zum Beispiel die Schau "Territories of Waste" im Museum Tinguely: "Nichts verschwindet einfach so, auch nicht die Erinnerung: Anca Benera und Arnold Estefán haben für ihre Installation 'The Last Particles' eine laborähnliche Multimedia-Umgebung geschaffen, in der Sand von den Stränden der Normandie, auf denen 1944 die Alliierten landeten, unters Mikroskop kommt. Von einem Magneten angezogen, richten sich schwarze und scharfkantige winzige Fragmente zwischen den hellen Körnern auf, formieren sich wie ein Schwarm, verdichten sich bedrohlich. Was sich visuell eindrücklich präsentiert, sind die eisernen Überreste von Militärgerät, das geologische Materie wird - und in die Nahrungskette eingeht."

Weiteres: Um die Rieckhallen neben dem Hamburger Bahnhof wird auf Hochtouren verhandelt, berichtet Birgit Rieger im Tagessspiegel, auch wenn die Lage angesichts der anstehenden Neuwahlen immer verfahrener erscheint.
Archiv: Kunst

Bühne

Daniel Barenboim ist mit seinen fast achtzig Jahren schwer erkrankt, es ist ungewiss, wann er wieder dirigieren kann und wie lange er noch Generalmusikdirektor der Staatsoper bleiben kann. In der Berliner Zeitung blickt Peter Uehling mit wenig Begeisterung in die Zukunft: Mit Elisabeth Sobotka bekommt das Haus 2024 eine Intendantin, die sich vor allem auf "gediegen massentaugliches Musiktheater" versteht, meint Uehling, der allerdings Christian Thielemann als Barenboims Nachfolger noch mehr fürchtet: "Er fragt nicht nach der gesellschaftlichen Relevanz von Oper und Konzert, er interessiert sich nicht für Formate jenseits des zweistündigen Konzerts, seine Vorliebe für das deutsche Repertoire des 19. Jahrhunderts ist berüchtigt, Uraufführungen werden vermieden, so weit es irgend geht... Indes spricht für Thielemann, dass er mit 63 Jahren in einem eben noch akzeptablen Alter für den Posten ist. Denn Barenboim hat durch die Einladung vorwiegend sehr junger oder sehr alter Dirigenten an das Pult der Staatskapelle verhindert, dass sein Orchester möglichen Nachfolgern begegnet. Dass ein Orchester dieses Ranges blind einen Dirigenten wählt, der es noch nie dirigiert hat, ist unvorstellbar, insofern hat Thielemann bei der Staatskapelle gute Karten."

Leos Janaceks "Das schlaue Füchslein". Foto: Monika und Karl Forster / Theater an der Wien

Auch in Wien schwindet das Publikum, dabei prunken die dortigen Bühnen mit hervorragenden Inszenierungen, wie Helmut Mauró in der SZ feststellt. Vor allem die kleineren Bühnen holen gegenüber der Staatsoper auf, berichtet er, etwa das Theater an der Wien, das sich den norwegischen Regisseur Stefan Herheim als Künstlerintendanten ins Haus geholt hat: "In seiner Inszenierung von Janáčeks 'Das schlaue Füchslein' zeigt Herheim nicht nur virtuoses Regiehandwerk und elegante Personenregie, sondern changiert auf die für ihn so typische Weise zwischen theatraler Leichtigkeit und spielerischem Ernst. Als würde er beidem misstrauen, legt er das Gewicht auf der einen Seite auf lustig agierende Tierdarsteller, ein andermal wieder auf die tiefergehende Frage, was uns eigentlich berechtigt, über Tiere zu herrschen." Weniger begeistert zeigt sich Reinhard Kagel indes in der FAZ, für ihn lässt die Inszenierung zu viele Fragen offen.

Besprochen werden Clemens J. Setz' Stück  "Der Triumph der Waldrebe in Europa" am Schauspiel Stuttgart (SZ), Evelyn Herlitzius' Regiedebüt mit Beethovens "Fidelio" am Staatstheater Wiesbaden (FR) und Anne Lenks Inszenierung von Lessings "Minna von Barnhelm" am Deutschen Theater in Berlin (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Die Unbestechlichen: Maria Schraders "She Said"

Als Oscar-Kandidatin positioniert sich Maria Schrader mit ihrem Film "She Said" iin den Augen von Welt-Kritikerin Marie-Luise Goldmann. Denn mit ihrer im Dezember anlaufenden amerikanischen Produktion über die Journalistinnen Megan Twohey und Jodi Kantor, die Harvey Weinsteins Übergriffe aufdeckten und den Hollywood-Mogul zu Fall brachten, triggere die deutsche Filmemacherin wirklich alles, was es für die Auszeichnung brauche: "Die Oscar-Jury belohnt ein ambitioniertes Vordringen zum Wahrheitskern seit jeher zuverlässig", meint Goldmann. Der Regisseurin schaffe es, "sexuelle Belästigungen, Machtmissbrauch und Vergewaltigungen weder als reines Indidivualproblem, noch als reines Strukturproblem erscheinen zu lassen. ... Immer wieder werden Wimmelbilder aus der Distanz gezeigt, in der Mensa oder im Büro, sodass man erst suchen muss, wer da spricht, bevor die Kamera an die handelnden Personen heranzoomt. Es könnte jeder sein."

Außerdem: Aktuelle Kinosatiren sind viel zu unbissig, kritisiert Sebastian Seidler in der Berliner Zeitung. Gunda Bartels führt im Tagesspiegel durchs Programm des Festivals Dok.Leipzig. Thomas Hummitzsch hat die ungekürzte Version seines zuvor in der taz erschienenen Gesprächs mit Ruben Östlund in sein Intellectures-Blog gestellt. In der FAZ gratuliert Nina Bub dem Fernsehproduzenten Chuck Lorre zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Lucile Hadžihalilovićs auf Mubi gezeigter Kunst-Horrorfilm "Earwig" (Tsp), Sönke Wortmanns "Der Nachname" (Tsp), der Anime "One Piece: Red" (NZZ) und die Netflix-Serie "The Playlist" über die Geschichte von Spotify (TA).
Archiv: Film

Musik

Eine große CD-Box lädt zur Wiederentdeckung des Musikpädagogen und Pianisten Carl Seemann ein, was den Zeit-Rezensenten Wolfram Goertz an selige Kindheitstage denken lässt, die von Seemanns Bartók-Aufnahmen begleitet waren. Den Nachwuchs hatte Seemann damals in den Fünfzigern "in der Kunst der subtilen Durchdringung von Klavierliteratur unterwiesen" und bei Konzerten "bekam das Publikum Lektionen in Genauigkeit und Stilgefühl. Nie war er sich zu schade für die Kunst der kleinen Dinge, wie die Box demonstriert: für die besagten Bartók-Mikrokosmen, für die vielversprechenden Kleinen Präludien von Bach oder für die zärtlich-fragilen Zwölf Variationen Mozarts. In Beethovens Bagatellen entdeckte er das Hintergründige. ...  Brahms' Fantasien sind bei Seemann Nachtstücke im Sinne Schumanns, die sich vehement gegen jede notarielle Beglaubigung wehren. Wer ihn mit diesen Werken hört, wird in eine herbstliche Welt der langen Schatten und des diffusen Lichts entführt. In Seemanns Brahms wird es früh dunkel. Man ist gezwungen, noch schärfer zu hören. Das Kunststück liegt in der unspektakulären Art, in der Seemann hier einen Spätromantiker und Klassizisten der gefährdeten Schönheit inszenierte."



Die Coronakrise ist zu Beginn bemerkenswert schnell vom Pop aufgegriffen worden, doch zur gegenwärtigen Krise rund um den russischen Krieg gegen die Ukraine herrscht "zumindest außerhalb der Ukraine" auffälliges Schweigen, schreibt Joachim Hentzschel in der SZ, "und ehrlich gesagt ist das sehr gut so." Denn rund um den Abgrund des Krieges "gibt es derzeit einfach nichts zu transzendieren, zu inspirieren oder fantasieren. Keine weiteren Bilder, Metaphern, Metaebenen. Man kann sehr konkret Spenden sammeln und damit Hilfe leisten. Viel mehr ist da nicht. ... Sogar pazifistische 'Stop the war'-Songs wären deplatziert, wie man sie aus dem Woodstock-Vietnam-Komplex der 60er und frühen 70er kennt. Denn sie würden - absichtlich oder nicht - genau den Zynikern in die Hände spielen, die vor allem die Ukraine und ihre Unterstützer zu Zugeständnissen und Kapitulation auffordern."

Weitere Artikel: Manuel Brug sondiert für die Welt die undurchsichtige Nachrichtenlage zum Tod des ukrainischen Dirigenten Juri Kerpatenko, der nach ukrainischen Meldungen von russischen Soldaten erschossen worden sein soll, was die russische Seite erwartungsgemäß dementiert. Außerdem schwärmt Brug in der Welt von den Vorzügen des neuen Kammermusiksaals in der Kronberg Academy im Taunus. Ljubiša Tošic plauscht im Standard mit dem Dirigenten Christian Muthspiel. Und die Agenturen melden, dass der Pianist Michael Ponti gestorben ist.

Besprochen werden Anna Prohaskas und Isabelle Fausts Aufnahme von György Kurtágs "Kafka-Fragmente" (SZ), eine Doku über den Rapper Apache 207 (Freitag), der Memoir des Grazer Konzertveranstalters Vojo Radkovic über die Siebziger (Standard) und neue Popveröffentlichungen, darunter Brian Enos "Foreverandevernomore" (Standard). Wir hören rein:

Archiv: Musik