Efeu - Die Kulturrundschau

So grau und real

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28.09.2022. Der Guardian erkennt das Genie von Lucian Freud: Er schaute einfach hin und zeigte, was er sah. Die taz ahnt, dass Li Ruijuns sanftes Bauerndrama "Return to Dust" in China verboten wurde, weil er das Publikum zu sehr berührte. In der SZ wandelt Judith Schalansky durch die Bibliothek der Zukunft. Der Standard sieht Bully Herbig mit seiner Mediensatire "Tausend Zeilen" der Logik des Lügenreporters Claas Relotius ungut nahe kommen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.09.2022 finden Sie hier

Kunst

Lucian Freud: Hotel Bedroom, 1954. Bild: National Gallery 

Die National Gallery prunkt mit einer Blockbuster-Schau zu Lucian Freud. Im Guardian kann Jonathan Jones anders, als vor diesem Künstler niederzuknieen, der selbst als Porträtist der Queen nicht schmeichelte: "Seine Genialität liegt in seiner unschuldigen Einfachheit. Schau einfach hin und zeige ehrlich, was du siehst. Es war das klarste und bescheidenste Glaubensbekenntnis, und doch bedeutete es, eine ganze Wagenladung philosophischer und künstlerischer Ablenkung zu ignorieren, und das ein ganzes Arbeitsleben lang. Schon in den ersten Selbstporträts dieser Schau ist er sich seiner Berufung bewusst, mit großen Augen blickt er aus einem messerscharfen Gesicht in die Welt. Damit schmeichelt er sich selbst? Fotografien zeigen, dass er wirklich so gut aussah. Auf seinem Bild 'Hotel Bedroom' von 1954 steht er im Schatten, die Hände in den Taschen, grüblerisch unter Igelhaaren, während seine neue Frau (es war seine zweite) Caroline Blackwood im Vordergrund im Bett liegt, blass und hell beleuchtet, ihr Haar zerzaust auf dem Kissen, offenbar besorgt, ihre langen, dünnen Finger an der Wange. Es waren ihre Flitterwochen. Es ist ein Moment der Angst und Ungewissheit in einer jungen Ehe, während wir von ihrer Blässe zu seiner verschatteten Wildheit und dann zu einem Fenster auf der anderen Straßenseite blicken, durch das wir einen Blick in einen anderen Raum werfen, ein Theater der verschiedenen Geschichten. Freud könnte hier eine Fiktion inszenieren, nur ist sie so grau und real."

Wolfgang Mattheuer: Der Nachbar, der will fliegen, 1985. Bild: Mink


Schön, dass der Software-Unternehmer Hasso Plattner Potsdams Terrassencafé Minsk vor dem Abriss bewahrt hat, um dort DDR-Kunst zu zeigen, doch in der taz hätte es Sophie Jung noch schöner gefunden, wenn sich die Stadt selbst um ihre DDR-Moderne gekümmert hätte und ihre Bauten nicht der Willkür ihrer Mäzene überließe, die sonst vor allem in Barock investieren. In der FR versichert Ingeborg Ruthe aber, dass die Fotografien des zur Eröffnung geladenen kanadischen Künstlers Stan Douglas erstaunlich gut zu den Bildern des DDR-Malers Wolfgang Mattheuer passen: "Zwei besondere Künstler der späten Moderne treffen aufeinander. Aber vielleicht auch zwei Zweifler dessen, was die Welt so Fortschritt nennt. Mögen Stan Douglas' herbstlich bunt belaubte Schrebergärten kurz vorm Winterschlaf, mögen Mattheuers Ausblicke aus einer Dachluke auf die Landschaft seiner vogtländischen Heimat oder die Gartenmotive seines Spätwerks, das Hasso Plattner sammelte - mag das alles so friedlich und versöhnlich wirken: Etwas Beunruhigendes, Unheilvolles steckt in den Landschaften beider Künstler. Es sind auch Motive ernüchterter, dekonstruierender Romantiker, die eine gesellschaftliche Hybris ausdrücken."
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Film

Zeigt die Armut der chinesischen Landbevölkerung: "Return to Dust"

Li Ruijuns Kinofilm "Return to Dust", der auf der Berlinale nach Schnittauflagen gezeigt werden durfte, wurde in China nun (nach zunächst sogar positivem Feedback in den Staatsmedien) komplett verboten, berichtet Fabian Kretschmer in der taz. "Der sperrige Film, der die unkonventionelle Liebesgeschichte zwischen einem verarmten Bauern und einer körperlich behinderten Frau erzählt, wartet mit all jenen Eigenschaften auf, die in der Volksrepublik das Publikum verschrecken und die Zensurbehörden auf den Plan rufen: ein niedriges Budget, statische Kameraeinstellungen und eine schwer zu verdauende Gesellschaftskritik." Dennoch hatte der Film an den chinesischen Kinokassen zunächst ansehnlichen Erfolg, was die Zensoren einschreiten ließ. "Staatschef Xi Jinping geriert sich zwar als Mann des einfachen Volks, der sich der 'Armutsbekämpfung' in den Provinzen verschrieben hat. Doch zugleich verlangt er, dass sein Volk möglichst wenig von den sozialen Problemen zu sehen bekommt: Die Künste sollen laut Xi 'positive Energien' versprühen und die Leute 'harmonisieren'."

Spannend, aber falsch: "Tausend Zeilen" von Michael "Bully" Herbig

Michael "Bully" Herbig hat mit "Tausend Zeilen" Juan Morenos Buch zum Relotius-Skandal verfilmt und dabei nur zur Sicherheit von vornherein so viel verfremdet, dass man ihn schwerlich festnageln kann: Aus Relotius wird da Begonius. Der frühere Komödienblockbuster-Regisseur versucht aus der Vorlage einen sämigen Thriller zu schöpfen, schreibt ein ziemlich genervter Bert Rebhandl im Standard. Doch "spannend ist das wahrscheinlich nicht einmal für Eingeweihte", da Herbig "einfach zu naiv" vorgeht. Wie die Aufarbeitung des Skandals zeige auch dieser Film "von Beginn an in die falsche Richtung. Sie hätte sich besser mit der Sprache von Relotius (der ja mit seinen Manierismen eher ein Symptom als ein Einzelfall war) befasst, kommt nun aber als eine Genresimulation daher, die so tut, als käme es vor allem auf Heldentum an. Das soll die Verdienste von Juan Moreno nicht schmälern, läuft aber auf dieselben Logiken der Fiktionalisierung hinaus, auf denen das System Relotius beruhte. Dass diese Logiken hier offen zutage liegen, weil Herbig mit dem ganzen Operationswerkzeug des Spannungskinos herumfuchtelt wie ein Möchtegern-Spielberg, macht die Sache nur noch falscher." SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh findet den Film hingegen "lustig, und irgendwie wahrhaftig", auch wenn der Film jedes Risiko und Fettnäpfchen von vornherein in weitem Abstand umschifft. Aber "man sieht, was Michael Herbig für ein hervorragender Handwerker ist".

Außerdem: Gerhard Gnauck schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Schauspieler Franciszek Pieczka. Besprochen werden Edward Bergers für Netflix produzierte Remarque-Verfilmung "Im Weste nichts Neues" (der stöhnende FAZ-Kritiker Andreas Kilb sieht "hölzerne Symbolik und überzüchtete Kamerabilder"), Andrew Dominiks auf Netflix gezeigter Marilyn-Monroe-Film "Blonde" (taz, mehr dazu hier) und die Arte-Doku "Kabul Airport" über die tumultartigen Zustände am Flughafen in Kabul bei der Luftbrücke im August 2021 (FAZ).

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Literatur

Die Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky wird im nächsten Jahr zur norwegischen Future Library einen Text beitragen, der wie alle weiteren Texte dieses Projekts nach einer feierlichen Übergabe-Zeremonie für die nächsten 100 Jahre weggesperrt und nach Ablauf dieser Frist auf Papier gedruckt werden wird, für das die Bäume derzeit im Wachsen begriffen sind. "Natürlich geht es letztlich um Mythos, etwas, das wir loswerden wollen, und nach dem wir uns trotzdem insgeheim sehnen", sagt Schalansky im SZ-Gespräch. "Das Bezwingende an der 'Future Library' ist, dass das Rituelle sichtbar ist, der Kern aber im Verborgenen liegt. ... Wie alle Traditionen wird auch diese ein Eigenleben entwickeln. Zukünftige Autoren werden damit anders umgehen, vielleicht wird es eines Tages Gegenbewegungen und Abspaltungen geben oder es schon in fünfzig Jahren als ein Relikt angesehen werden, das kaum mehr Beachtung findet, ein esoterischer Wurmfortsatz aus der jüngeren Vergangenheit, der nur aus alter Anhänglichkeit noch fortgeführt wird. Schon jetzt hat es etwas historisches, wenn man sich die Zeremonie von Margaret Atwood aus dem Jahr 2014 anschaut. Schon nach acht Jahren wirken Aufnahmeformate und Bildqualität nicht mehr zeitgenössisch."

Weitere Artikel: Der Standard spricht mit Daniel Kehlmann unter anderem über Mathematiker, die Gefahren der Sozialen Medien und die Unsinnigkeit von Kanonbildung: "Wer möchte schon das lesen, was sein Lehrer empfiehlt?" In der NZZ setzt der Schriftsteller Sergei Gerasimow hier und dort sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Christian Schachinger freut sich im Standard über 60 Jahre Spider-Man. Kristina Maidt-Zinke (SZ) und Maria Wiesner (FAZ) gratulieren der Krimi-Autorin Donna Leon zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Karen Duves "Sisi" (NZZ), Thomas Melles "Das leichte Leben" (Freitag), Ian McEwans "Lektionen" (FR), Luka Lenzins Comic "Nadel und Folie" (taz), Ulla Hahns "Tage in Vitopia" (FR), Rachel Cusks Essaysammlung "Coventry" (ZeitOnline) und Dörte Hansens "Zur See" (FAZ).
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Bühne

Ruth Bohsung und Nina Steils in Heinrich Bölls "Verlorenen Ehre der Katharina Blum". Foto: Gabriela Neeb / Münchner Volkstheater

Mit Erleichterung quittiert Teresa Grenzmann in der FAZ, dass das Münchner Volkstheater in seiner Bühnenfassung von Heinrich Bölls Roman "DIe verlorene Ehre der Katharina Blum" auf Anspielungen gegen die Sozialen Medien verzichtet. Das Stück bleibt auch in der Inszenierung von Philipp Arnold eines über die Gewalt fingierter Wirklichkeit: "Hauptdarstellerin Ruth Bohsung trägt diesen Zwiespalt, die Verzagtheit in stillen, bangen Blicken und kleinen, präzisen Handgriffen nach außen. Sie trägt den gesamten Abend, verleiht ihm, als natürliches Zentrum im Wirbel demonstrativer Inszeniertheit, eine klare, unaufgeregte Tiefe."

Die Koloratursopranistin Catherine Gayer erzählt im Tagesspiegel, wie Luigi Nono sie für die Uraufführung seiner Oper "Intolleranza 1960" nach Venedig holte, um ihr die Rolle der Gefährtin auf den Leib zu schreiben. Die Premiere wurde tumultös: "Venedig war damals politisch gespalten. Die Statisten der Produktion stammten zumeist von der Giudecca-Insel, einem Arbeiterviertel, wo auch Luigi Nono wohnte. Bei der Uraufführung saßen dann auch Faschisten im Teatro La Fenice, mit der Absicht, die Vorstellung zu sabotieren. Sie haben sehr viel Lärm gemacht und sogar Stinkbomben auf das BBC Orchestra geworfen. Bruno Maderna schrie 'Fascisti!' ins Mikrofon bei seinem Dirigentenpult, die Vorstellung musste unterbrochen werden."

Weiteres: Im Tagesspiegel erinnert Steffen Damm, dass Bertolt Brecht vor hundert Jahren mit "Trommeln in der Nacht" sein erstes Stück auf die Bühne brachte. Besprochen wird Kay Voges' "Faust"-Inszenierung am Wiener Volkstheater (SZ).
Archiv: Bühne

Musik

Anastasia Tikhomirova berichtet in der taz von ihrem Besuch des von der Telekom zu Werbezwecken ausgerufenen Electronic-Beats-Festivals in Zagreb. "Besonders beliebt ist elektronische Musik bisher jedoch nicht bei jungen Leuten", muss sie dort allerdings feststellen. "Das Durchschnittsalter der kroatischen Technoszene, die keine feste Gruppe, sondern eher eine bunte Mischung aus Punks, Hippies, Emos und Normalos ist, liegt überraschenderweise bei 30 Jahren und älter. Die Generation Z hört lieber serbischen Turbo-Folk mit dystopischen und sexistischen Texten und Balkan-Trap, auch 'Cajke' genannt. Videos von Cajke-Künstler:innen erreichen bis zu 20 Millionen Klicks auf Youtube."

Weitere Artikel: Im Standard freut sich Christian Schachinger auf das Wiener Konzert von Nouvelle Vague. Jakob Biazza schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Wanda-Keyboarder Christian Hummer. Und Pitchfork kürt die 250 besten Songs der Neunziger. Auf der Spitzenposition dieser Song, der wirklich sehr viel von dem, was an den Neunzigern nicht gut war, auf den Punkt bringt.



Besprochen werden der Saisonauftakt der Wiener Symphoniker unter Emmanuel Tjeknavorian (Standard), Cari Caris Album "Welcome to Kookoo Island" (Standard), The Koreatown Odditys Rap-Album "ISTHISFORREAL?" (FR) und Courtings Album "Guitar Music" (ZeitOnline).
Archiv: Musik