Efeu - Die Kulturrundschau

Das Überleben des listigen Hasen

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26.09.2022. Tagesspiegel und Nachtkritik tauchen mit Luigi Nonos Flüchtlingsoper "Intolleranza 1960" an der Komischen Oper in die europäische Eiswüste. Der Tagesspiegel lernt auch auf der Biennale Istanbul, wie man einen Drachen zur Strecke bringt. Die FAS fühlt sich von Edward Bergers Bombast-Produktion "Im Westen nichts Neues" nicht an den Krieg erinnert, wie es der Regisseur gern hätte, sondern an andere Kriegsfilme. ZeitOnline und FAZ trauern um den Jazz-Saxofonisten Pharoah Sanders, der die Ästhetik eines Schreis kultivierte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.09.2022 finden Sie hier

Bühne

Der Emigrante in der Eiswüste: Luigi Nonos "Intolleranza 1960". Foto: Barbara Braun / Komische Oper

An der Komischen Oper haben Dirigent Gabriel Feltz und Regisseur Marco Storman Luigi Nonos Flüchtlingsoper "Intolleranza 1960" auf die Bühne gebracht und dafür den gesamten Zuschauersaal zu einer Eiswüste umgebaut. Im Tagesspiegel weiß Frederik Hanssen, was für ein Ereignis das ist, aber verstört hat ihn die Inszenierung nicht: Der Schnee glitzert ihm zu sehr, kein einziges Mal zeigt sich das Blut jener Jahre: "Sehr souverän wirkt das - und viel weniger provokant als erwartet klingt für den Hörer des Jahres 2022 auch Luigi Nonos zwölftönige Avantgardepartitur. In den Werken des Italieners sind es stets die leisen, intimen Momente, die die stärkste Kraft entfalten, doch bei der 'Intolleranza'-Premiere am Samstag wirken selbst die dissonanten Ausbrüche, die extremen Lautstärkeeruptionen ästhetisch schlüssig, ja geradezu schön. So wie auch die ganze Optik der Inszenierung in ihrer weißen Wattigkeit." In der Nachtkritik bleibt auch Georg Kasch auf Distanz zu dieser Aufbereitung von Nonos speziellem Mix aus serieller Musik und Agitprop und Texten von Carolin Emcke. Aber der Chor haut ihn um: "Wie die Chorsolist:innen insbesondere in den A-cappella-Momenten die Klänge auffächern und in den Raum stellen, Töne wie Geister einfangen und wieder fliegen lassen, wie sie als weiße Lemuren über die Bühne gleiten oder die Arme zum Emigrante recken, als wär's eine Szene aus Fritz Langs 'Metropolis' - das ist schon toll!"

Drei Stunden dauerte die Aufführung des koreanischen Gesangsepos "Das Lied vom Unterwasserpalast", und nicht eine Minute davon war langweilig, freut sich Tye Maurice Thomas im Tagesspiegel, der in der Ufa-Fabrik beim Jeong Ga Ak Hoe-Festival traditionelle Aufführungspraxis erlebte: Eine einzige Sängerin erzählt die Handlung, ein Trommler bettet sie in einen Rhythmus ein: "Pansori ist nicht nur höchste Stimmkunst, sondern auch handfestes Volkstheater. Derbe Zoten gehören genauso dazu wie altchinesische Lyrik, Sprichwörter und medizinisches Wissen. Immer kreist die zeitlose Geschichte um Schein und Sein, die Leichtgläubigkeit der Mächtigen, träges Beamtentum und das gefahrvolle Überleben des listigen Hasen." In der SZ erlebte Reinhard J. Brembeck Ähnliches bei Auftritt des koreanischen Gugak Center, das auf seiner Tour durch Deutschland nun auch am Münchner Prinzregententheater Ahnenrituale des koreanischen Königshofs zeigte: "Alles ist feierlich und erhaben." (mehr hier)

Besprochen werden Kay Voges' Inszenierung des "Faust" als Live-Shooting am Wiener Volkstheater (die Margarete Affenzeller im Standard "gut argumentiert, aber nicht schön anzuschauen" findet, Nachtkritik), Tony Kushners "Engel in Amerika" und ein Dokumentarstück zu Olympia 1972 am Münchner Residenztheater (SZ), Besprochen werden das Stück "The ghosts are returning", in dem sich das deutsch.kongolesische Künstlerkollektiv Centre d'Art Waza mit der Restitution geraubter menschlicher Überreste befasst (taz), Claudia Bauers Inszenierung von Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen" in Kassel (FAZ), Tschechows "Platonow" am Deutschen Theater in Berlin (Tsp, FAZ).
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Kunst

Ziemlich aufregend findet Werner Bloch im Tagesspiegel die Biennale Istanbul, die sich nur auf den ersten Blick harmlos gebe: "Bei der Performance in Kadikoy, einem industriellen Stadtviertel auf der asiatischen Seite, schwenken weiß gekleidete Jugendliche Fahnen, auf denen 'Freiheit', 'Rebellion', 'Demokratie' steht. Die Performer erstarren, schwirren aus, ein hoch konzentriertes Spektakel. Dann erscheint ein schwarzer Drache, auf dem Rücken der Schriftzug 'Ich beobachte euch'. Diesen Satz verwendet der türkische Staatspräsident Erdogan gerne, wenn es um Intellektuelle und Künstler geht. Er nennt sie auch Schmarotzer, Schmeißfliegen und sinnloses Pack. Der Drache wird in der Aufführung zur Strecke gebracht, die ein Highlight der Biennale ist. In Kadikoy regiert die Opposition, deshalb kann die Aufführung in Gazhane stattfinden, einem zum hippen Kulturzentrum mutierten Gaswerk. Eine Performance wie ein Peitschenknall."

Weiteres: Die Documenta-Leitung hätte sich besser auf die erwartbaren Konflikte  vorbereiten müssen, meint der Historiker Hanno Loewy im Interview mit dem Standard. Schließlich hätten deutsche Medien bereits Monate vor Beginn ihre "bis ins Rassistische abgleitende Kampagne" gegen die Kunstschau begonnen.
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Stichwörter: Biennale Istanbul, Documenta

Literatur

Der Schriftsteller Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Im NZZ-Gespräch zu ihrem 80. Geburtstag plaudert Krimi-Autorin Donna Leon über ihren Commissario Brunetti und ihren Werdegang. Gerrit Bartels vom Tagesspiegel lässt sich von Peter Fabjan den Gutshof dessen Bruders, Thomas Bernhard, zeigen. Auf ZeitOnline erzählt die Schriftstellerin Tabea Hertzog von ihrem Abschied von ihrer im Koma liegenden Großmutter. In der Welt erinnert Mara Delius an den vergangenes Jahr gestorbenen Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer, der heute 90 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden unter anderem Anna Kims "Geschichte eines Kindes" (Tsp), Daniela Dröschers "Lügen über meine Mutter" (online nachgereicht von der FAZ), Yanns und Édiths Comicadaption von Emily Brontës "Sturmhöhe" (Tsp), Nacha Vollenweiders autobiografischer Comic "Zurück in die Heimat" (Tsp), Lukas Hartmanns "Ins Unbekannte" (Standard), Friedrich Sieburgs "Die Fliege im Bernstein. Tagebuch vom November 1944 bis Mai 1945" (Welt) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Tom Gaulds Bilderbuch "Der kleine Holzroboter und die Baumstumpfprinzessin" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Kristina Maidt-Zinke über Ulrich Kochs "In diesem Gedicht bist du schon einmal gewesen, als du nicht mehr weiter wusstest":

"Wie jedes Mal, wenn der Sommer
sich neigt. Sein Rücken ist noch warm
von der Sonne..."
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Film

Forcierter Naturalismus: "Im Westen nichts Neues"

Peter Körte wirft für die FAS einen Blick auf die Hoffnungsträger der deutschen Filmproduktion für den kommenden Kinoherbst in diesem Annus Horribilis, das deutlich niedrigere Zahlen als vor der Coronakrise mit sich brachte, aber keinen Ausgleich in Form von Staatshilfen. Dass Edward Bergers Netflix-Produktion "Im Westen nichts Neues" (nach Remarques gleichnamigem Roman) für den Oscar ins Rennen gehen soll, ist schon mal keine gute Nachricht, findet Körte: "Die russische Invasion war nicht absehbar, als der Film gedreht wurde. Berger hält es jedoch für 'den richtigen Zeitpunkt, diesen Film zu zeigen' - 'wir scheinen immer wieder zu vergessen, was Krieg ist'. Dass sein Film nun aber der Erinnerung auf die Sprünge hilft, muss man bezweifeln. Durch die Formsprache des großen Kinoepos, in seiner Mischung aus pathetischer Botschaft und üppigen Production Values, erinnert er vor allem an Kriegsfilme, die man gesehen hat."

Weitere Artikel: Beim Filmfestival in San Sebastián "zeigte sich das spanische Kino beeindruckender und vielfältiger denn je", berichtet Thomas Abeltshauser in der taz. In der FR plaudert Michael "Bully" Herbig über seinen Relotius-Film. Valerie Dirk berichtet im Standard von einer Tagung über Machtmissbrauch an Filmsets. Nachrufe auf die Schauspielerin Louise Fletcher schreiben Bert Rebhandl (FAZ) und Tobias Kniebe (SZ).

Besprochen werden François Ozons "Peter von Kant" (Jungle World, unsere Kritik hier) und die britische Serie "The Undeclared War" (Freitag).
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Musik



Der große Jazzsaxofonist Pharoah Sanders ist gestorben. In der Blütezeit des Free Jazz hielt er "zu den zornigen, destruktiven Aspekten dieser Musik von vornherein Distanz", schreibt Jens Balzer auf ZeitOnline. Auf John Coltranes "Ascension" fand er künstlerisch zu seiner Form: "Da windet er sich aus dem Ensemblespiel in einem kurzen, aber atemberaubenden Solo heraus, in verzweifelten, unendlich einsam wirkenden, in den höchsten Lagen dürr sich in den Himmel erhebenden Saxofonschreien - wonach die Band sich in Gestalt eines gedämpft dissonanten Geschnatters wieder zu ihm gesellt, wie Freunde, die ihn nun tröstend begrüßen, eine vorübergehend verlorene Seele musikalisch umarmen. Für die spätere Musik von Pharoah Sanders ist das ein emblematischer Moment: So frei seine Musik immer gewesen ist, so stark spricht auch der Wunsch nach Gemeinschaft aus ihr. Es gibt in ihr keine musikalischen Hierarchien, keinen musikalischen Vorder- und Hintergrund; die tiefe Sehnsucht, von der sie kündet, ist die Sehnsucht nach Gleichheit und nach der Verbindung der Menschen in der Kunst und im Geist."

Überhaupt Coltrane: Von 1964 bis zu dessen Tod im Jahr 1967 zählte Sanders zu dessen engen Weggefährten. Damals "kultivierte Sanders eine 'Ästhetik des Schreis', die im Jazz ihresgleichen sucht", schreibt Peter Kemper in der FAZ. "Bei dem Versuch, den unendlichen Raum zwischen einem C und Cis zu erforschen, zogen beide in ihren solistischen Höhenflügen maßlose Kreise. ... Erst im Innern des ekstatischen Schreis, in seinem tiefsten Glutkern - vergleichbar dem beinahe windstillen Auge eines Wirbelsturms - herrscht vollkommener Frieden. Im Interview erklärte er: 'Wenn ich spiele, versuche ich das Horn in meinen Händen zu vergessen und den Sound in meinem Innern zu erkunden. Bewusst habe ich dann gar nicht die Absicht, auf dem Instrument zu schreien. Vielmehr will ich all meine Kraft im Saxophon bündeln; und dann passiert es eben, dass die Noten zerfließen, unwichtig werden und sich in purem Klang auflösen.'" Auch Ueli Bernays würdigt in der NZZ den Ekstatiker Sanders: "Wann immer eine Improvisation Coltrane an den Rand der Ekstase führte, stürzte sich Sanders nachher mitten in diese hinein. Mit sogenannten 'sheets of sounds', mit aufwühlenden Spaltklängen und hechelnder Überblastechnik entwickelte er eine hymnische Inbrunst sondergleichen."

"In der Höchstphase des Modern Jazz Mitte der Sechzigerjahre gehörte Sanders zur legendären Dreifaltigkeit der Avantgarde", ruft Andrian Kreye in der SZ in Erinnerung. Aber er blieb dort nicht stehen, 2021 schuf er gemeinsam mit Floating Points und dem London Symphony Orchestra sein letztes großes und ziemlich einschlagendes Meisterwerk, die Suite "Promises", die "irgendwo zwischen Jazz, Ambient und zeitgenössischer Klassik ein Monument des Wohlklangs in die Musikgeschichte stellte. In den Momenten der gezielten Stille setzte er das Geräusch der Tonklappen und seinen Atem als Stilmittel ein. Brachial war da nichts in dieser Dreiviertelstunde. Er verstand es, sein Instrument zwischen den hypnotischen Akkorden des jungen Londoners und den flirrenden Klangflächen des Orchesters als Leitplanke einer perfekten Ästhetik einzusetzen. Das Album wurde dann im zweiten Pandemiejahr 2021 zum unerwarteten Welthit. Nicht nur wegen der Schönheit, sondern auch, weil Sanders immer aus den Tiefen einer Spiritualität schöpfte, die auf das seuchen-traumatisierte Publikum so etwas wie eine Heilwirkung hatte."



Wolfgang Sandner von der FAZ ist begeistert von dem neuen Saal des Casals Forums in Kronberg im Taunus, den ein Team des Akustikers Martijn Vercammen gestaltetet hat: "Man muss kein Prophet sein, um ihm künftig einen Platz unter den besten Kammermusiksälen weltweit einzuräumen." Der Saal scheint ihm "mit seiner das Intime fördernden Gestalt" geradezu "ideale Bedingungen für Klangerzeugung" zu bieten: "Die Akustik scheint dem spezifischen Charakter individueller Instrumente gerecht zu werden und so die Transparenz eines Ensembleklangs noch zu verstärken. Bei so unterschiedlichen Kompositionen wie Béla Bartóks Divertimento und Tschaikowskys Violinkonzert durch das Chamber Orchestra of Europe war es ohrenfällig." Auch architektonisch ist der Bau gelungen, freut sich Matthias Alexander ebenfalls in der FAZ.

Weitere Artikel: Gallig nimmt Frederik Hanssen im Tagesspiegel zur Kenntnis, dass der zuletzt wegen seiner, gelinde gesagt, vagen Haltung zum russischen Krieg gegen die Ukraine in die Kritik geratene Dirigent Teodor Currentzis mit blumiger Weltverbesserungsrhetorik darüber hinweg täuscht, dass das Programm seines neuen Orchesters "Utopia" vor allem Werke aus dem Kernrepertoire bietet. Im Standard denkt Karl Fluch über das komplexe bis paradoxe Verhältnis der Popmusik zu Tod und Untergang nach: "Popmusik stirbt einerseits die schönsten Tode, beschwört andererseits als Medium der grenzenlosen Fantasie das Unbekannte, das Neue, die Veränderung zum Guten, gibt Hoffnung." Besprochen werden Beth Ortons "Weather Alive" (Pitchfork), ein Auftritt von Ed Sheeran in Frankfurt (FR) und Oliver Sims Album "Hideous Bastard" (FAS).
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