Efeu - Die Kulturrundschau

Das mörderische Rudel gibt nicht auf

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15.08.2022. Der Schock über den Angriff auf Salman Rushdie hält an. Den einzelnen Täter könnte er vergessen, schreibt Bernard-Henri Lévy in der SZ, doch nicht die Feiglinge, die stets bereits sind, vor der iranischen Fatwa einzuknicken. Im Observer sieht Kenan Malik in der Fatwa die Keimzelle des Identitätsdenkes. In der NZZ gibt Hamed Abdel-Samad wenig auf arabische Beileidsbekundungen. Das Filmfestival von Locarno geht mit einem Goldenen Leoparden für Júlia Murats "Regra 34" zu Ende. taz und DlfKultur freuen sich, die NZZ beklagt einen Hang zum Grellen unter dem neuen Festivalleiter. Der Guardian geißelt den Zynismus, den das Architekturbüro MVRDV in Tiranas Zentrum einbetoniert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.08.2022 finden Sie hier

Literatur

Salman Rushdies Zustand hat sich nach dem Attentat in New York diversen Agenturmeldungen zufolge leicht gebessert - bleibende Schäden wird er aller Wahrscheinlichkeit dennoch davon tragen. Er spreche wieder und zeige Humor, twitterte sein Sohn (während die iranische Propaganda den Anschlag ekelhaft feiert):



Außerdem melden Geheimdienste, dass der mutmaßliche Täter offenbar Kontakte zum Iran hatte.

Der Schock sitzt tief. Rushdie selbst gab sich in den letzten Jahren betont gelassen, was seine Gefahrenlage betrifft. Doch "den einzelnen Kopfgeldjäger oder Verrückten mag man vergessen und verachten, aber das mörderische Rudel gibt nicht auf", schreibt in der SZ Bernhard-Henry Lévy, der außerdem an einige "Angsthasen" seit der vom Ajatollah Khomeini verhängten Fatwa 1989 erinnert: Der französische Außenminister Roland Dumas verweigerte Rushdie ein Visum für einen Besuch in Frankreich, Prinz Charles beschwerte sich einst über die Kosten für Rushdies Sicherheit. Was Lévy "in all diesen Jahren beeindruckte, war diese Stille, mit der Rushdie seine Heldenrolle spielte. Er sah ja, dass kaum ein Jahr verging, in dem nicht eine große Hauptstadt einen falschen iranischen Diplomaten auswies, der mit seiner Fatwa in Verbindung stand. Er wusste, dass es immer noch angebliche Freunde der muslimischen Völker gibt, die trotz der Attentate auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und den Supermarkt Hyper Kasher und all den anderen Morden der Meinung sind, dass man den Glauben eines anderen niemals beleidigen dürfe und dass, wenn dem Beleidiger ein Unglück widerfahre, er es selbst verschuldet habe."

"Es gibt vielleicht keinen lebenden - wie freudig ich das jetzt hinschreibe - Schriftsteller, der so viel nachgedacht und geschrieben hat über den Umgang der Menschen und der Autoren mit der Lüge", schreibt Arno Widmann in der FR. "Sie ist das Mittel, das uns hinaus hilft aus der Wirklichkeit. Ohne sie würden wir uns selbst ins Gefängnis setzen einer Welt aus lauter Protokollsätzen."

Hamed Abdel-Samad ärgert sich in der NZZ beim Blick in die Social-Media-Accounts von Intellektuellen aus der arabischen Welt, die den Anschlag auf Rushdie zwar verurteilen, aber im gleichen Atemzug auch dessen "Satanische Verse" als Verbrechen darstellen: "Die absolute Mehrheit dachte nicht an den alten Mann, der zwischen Leben und Tod schwebt, sondern sah, dass ihre Religion das eigentliche Opfer des Anschlags ist. Sie hatten Angst, dass der Vorfall dem Image des Islam schaden und Wasser auf die Mühlen der Islamophobie im Westen giessen würde. Ihre Ansichten waren Ausdruck von Infantilität, Egoismus und mangelndem Verantwortungsbewusstsein, die ich für viel gefährlicher halte als den Islamismus selbst."

Manuel Müller (NZZ) und Andreas Fanizadeh (taz) erzählen nach, wie der greise Ajatollah Chomeini 1989 dazu aufrief, Salman Rushdie wegen seines Romans "Die satanischen Verse" zu ermorden. "Erstaunlich" findet es Gerrit Bartels in seiner Zusammenfassung der Fatwa-Geschichte für den Tagesspiegel, "dass gerade in den Jahren der Hochzeit des islamistischen Terrors Anfang und Mitte der Zehnerjahre Jahre die Sorge um Rushdie sich in Grenzen hielt." Gero van Randow hält auf ZeitOnline zur Fatwa fest: "'Die satanischen Verse' sind ein lustiges, anrührendes, fabulierendes, spottendes, spielerisches Buch, das nun gar nicht antiislamisch ist; wer sich durch diesen Roman beleidigt wähnt, muss schon von einer aufs Äußerste gespannten Bereitschaft dazu durchdrungen sein. ... Nein, Salman Rushdie ist kein Provokateur, er ist ein Symbol des Freiheitswillens. Und um es gleich zu sagen: eines universellen Freiheitswillens. Der ist mitnichten ein westliches Ding, irgendein geistiger Wurmfortsatz des Kolonialismus oder dergleichen, auch kein 'westlicher Wert'. Vergessliche muss man vielleicht daran erinnern, dass sich die antikolonialen Bewegungen noch stets als Freiheitsbewegungen verstanden."

Im Observer deutet Kenan Malik die Fatwa als Keimzelle des Identitätsdenkens: "Die Anti-Rushdie-Kampagne war vielleicht der erste große Wutausbruch über die Verunglimpfung von Identitätssymbolen in einer Zeit, in der diese Symbole neue Bedeutung erlangten. Briten mit muslimischem Hintergrund, die in den 1970er und frühen achtziger Jahren aufwuchsen, sahen 'muslimisch' selten als ihre Hauptidentität. Die Rushdie-Affäre kündigte einen Wandel in der Selbstwahrnehmung und die Anfänge einer ausgeprägten muslimischen Identität an." Taslima Nasreen erinnert sich in The Print daran, wie es war, als sie in Bangladesch zur Solidarität mit Rushdie aufrief, was ihr selbst ein Preisgeld auf ihren Kopf einbrachte: Der Islam sei nicht zu kritisieren, das steht so schließlich im Koran. "Der Islam wurde von der kritischen Prüfung, die für andere Religionen gilt, ausgenommen. Letztere konnten ihre Fehler und Irrtümer nur deshalb korrigieren, Barbarei und Diskriminierung beseitigen und der Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen ein Ende setzen, weil sie von Regierungen und fortschrittlichen Denkern einer kritischen Prüfung unterzogen wurden. Doch im Islam gibt es nach wie vor alle Formen von Brutalität, Gräueltaten und Diskriminierung von Frauen."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt hier und dort den zweiten Teil seines Kriegstagebuchs aus Charkiw fort. Steffen Schroeder erzählt in der FAZ von seiner literarischen Annäherung an das Verhältnis zwischen dem von Nazis ermordeten Erwin Planck und dessen Vater, worüber er einen Roman geschrieben hat. Auch Samuel Beckett war mal Opfer eines Messerangriffs, erinnert Matthias Heine in der Literarischen Welt.

Besprochen werden unter anderem N.K. Jemisins "Die Wächterinnen von New York" (Freitag), Thomas Hürlimanns "Der Rote Diamant" (Tsp), Émile Bravos Comic "Spirou oder: die Hoffnung" (Tsp), Andi Watsons Comic "Die Lesereise" (taz), Sigrid Nunez' "Eine Feder auf dem Atem Gottes" (Tsp), Anna Kims "Geschichte eines Kindes" (Standard), Behzad Karim Khanis "Hund Wolf Schakal" (Zeit), Christine Koschmieders "Dry" (Freitag), eine Ausstellung im Deutschen Romantik-Museum Frankfurt zum Briefwechsel zwischen Friedrich Schlegel und Novalis (FAZ) und neue Hörbücher, darunter Rolf Beckers Lesung von Gottfried Benns Rönne-Novelle "Gehirn" (FAZ).
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Film

Spielerisch und einvernehmlich: Júlia Murats "Regra 34" fordert heraus

Das Filmfestival von Locarno ist zu Ende - gewonnen haben vor allem: Frauen. Júlia Murats "Regra 34" gewann den Goldenen Leoparden für den besten Film, für die beste Regie ausgezeichnet wurde Valentina Maurel für ihren Film "Tengo sueños eléctricos". "Geballte Frauenpower", sagt dazu Anke Leweke im Dlf Kultur und stellt die Gewinnerfilme im einzelnen kurz vor. Murat fordert ihr Publikum heraus, schreibt Thomas Abeltshauser in der taz, etwa darin, "wie sie die BDSM-Kultur, in der spielerisch und einvernehmlich sexuelle Fantasien um Macht und Unterwerfung ausgelebt werden, direkt neben Aussagen missbrauchter Frauen stellt. Der Körper ist politisch in 'Regra 34' und Murats Film ist ein anarchisches und mutiges Zeichen des Widerstands im rechtsextrem regierten Brasilien und dessen extrem hoher Femizidrate. Bei aller Explizität verhandelt Murat klug Debatten über Gender, Rassismus und Dekolonialisierung, die in ihrer Heimat maßgeblich von der schwarzen Community vorangetrieben werden." Dieser Film "folgt einer Frau, die konsequent versucht, sich aller Regeln zu entledigen", hält Anke Leweke fest - diesmal allerdings im Tagesspiegel. "Es ist eine bewusste und selbstbestimmte Achterbahnfahrt. Und man muss als Zuschauerin entscheiden, ob man aufspringt."

Bei den Schweizer Kommentatoren regt sich derweil Unmut. Es ist der zweite Jahrgang des neuen künstlerischen Leiters Giona A. Nazzaro - und dessen Vorliebe für Thriller, Genre und andere grelle Filmarten lässt manche um die Zukunft des Festivals als gediegene Arthouse-Veranstaltung bangen. "Oft schauten wir in Locarno ein Drama, das irgendwie noch ein Krimi werden musste, oder erlebten übersteuerte Brutalität, die eher irritierend wirkte, als dass sie effektiv gewesen wäre", beschwert sich Pascal Blum im Tagesanzeiger: "Das avanciertere Kino musste man dieses Jahr regelrecht suchen." Es war der 75. Jahrgang des Festivals "und es sah alt aus", kommentiert Andreas Scheiner in der NZZ: Selbst Provinzfestivals haben eine höhere Stardichte und dann gab es zum Auftakt zynisches Geballer mit Brad Pitt: "Man kann einen Actionfilm auf der Piazza programmieren. Aber nicht diesen und nicht an diesem Abend. Wie man hörte, stieß der Brutalo nach dem Risotto-Empfang vielen Leuten sauer auf. ... Die einzig mögliche Erklärung, weshalb man sich für den Reißer entschieden hat: Man hoffte, Hauptdarsteller Brad Pitt würde kommen. Für die Deutschlandpremiere weilte er in Berlin, er hätte es nicht weit gehabt. Er ließ sich trotzdem nicht breitschlagen."

Außerdem: Marion Löhndorf (NZZ) und Daniel Kothenschulte (FR) schreiben Nachrufe auf die Schauspielerin Anne Heche. Besprochen werden Carla Simóns "Alcarràs" (Jungle World, Zeit, mehr dazu hier), Diana El Jeiroudis Dokumentarfilm "Republic of Silence" (Tsp), die Netflix-Serie "Kleo" (FAZ) und die Netflix-Vampirkomödie "Day Shift" mit Jamie Foxx (BLZ).
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Architektur

Luxus in Skanderbeg-Gestalt. Rendering: MVRDV

Im Guardian knöpft sich Oliver Wainwright das niederländische Architekturbüro MVRDV vor, das in Albanien einen bisher unbekannten Zynismus an den Tag lege: Eigentlich für seine Slapstick-Architektur gefeiert, setze das Büro grotesk banale Bauten ins Zentrum von Tirana, etwa eine lachhaft unförmige Shopping Mall, ein Hochhaus, dessen Fassade die albanische Landkarte nachzeichnet, oder Luxusappartments in der Gestalt des Nationalhelden Skanderbeg: "In einem Vortrag im Jahr 2018, als die beiden Türme in der Entwicklung waren, sprach der Architekt Winy Maas die offenkundige nationalistische Symbolik an. 'Ich habe mit einigen europäischen Politikern über dieses Thema diskutiert', sagte er. 'Denn: Darf man das tun? Ist Nationalismus gut oder schlecht? Albanien braucht ihn, um zu zeigen, dass es sexy ist und dass es eigentlich ziemlich cool ist.' Wie ein hyperaktives Kind, das zu viel Zucker konsumiert hat, raste Maas auf der Bühne hin und her und schwärmte von seiner Liebe zu Albanien. Er beschrieb es als 'ein Land ohne Geld, das nur Kaffee trinkt und in dem es nichts zu tun gibt' - die perfekte Leere für seine ausgefallenen Ideen, 'wie ein Mini-China' mit reichlich Möglichkeiten für Architekten. 'Die Bauherren werden immer reicher', sagte er aufgeregt, erwähnte aber nicht, woher das Geld kommen könnte, um angesichts der verarmten Wirtschaft des Landes solch berauschende Visionen zu bauen. In einem Bericht der Globalen Initiative gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität aus dem Jahr 2020 wurde festgestellt, dass die albanische Bauindustrie zu einem beliebten Hotspot für internationale kriminelle Banden geworden ist, um Geld vor allem aus dem Drogenhandel zu waschen."
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Musik

Besprochen werden Kokorokos Debütalbum "Could We Be More" (Tsp, mehr dazu bereits hier), ein Berliner Konzert von Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra mit dem Pianisten Lang Lang (Tsp) und eine konzertante Aufführung von Beethovens "Fidelio" beim Festival Grafenegg (Standard).
Archiv: Musik

Bühne

Im Standard stellt Stphan Hilpold die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak vor, die bei den Salzburger Festspielen ihre Version der "Iphigenie" inszenieren wird, bei der Agamemnon seine Tochter opfert, um seine Karriere an der Universität nicht zu gefährden: "'Alles ist politisch in der Kunst', sagt Marciniak und hält zu mittäglicher Stunde ein Plädoyer für Toleranz und gegen Ausgrenzung: 'Die Bühne ist die Plattform, auf der ich für meine Anliegen kämpfen kann.'"

In der FR bemerkt Judith von Sternburg im Grunde doch erfreut, dass es im Theater keine Sommerpause mehr gibt: "Neben vielem anderem, wirklich vielem anderem wird im Sommer zum Beispiel inzwischen jeder zur Verfügung stehende Hügel und jede verfügbare Ruine mit Freilichttheateraufführungen bespielt." Besprochen wird Kid Koalas Bühnenfassung seines Comics "The Storyville Mosquito" auf Kampnagel in Hamburg (taz).
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Kunst

Luis Gordillo: Raton: No gravity, 2021/22. Bild: Carlier Gebauer.

Völlig eingenommen ist Christian Meixner im Tagesspiegel von den überbordenden Leinwänden des spanischen Malers Luis Gordillo, dessen Werke die Galerie Carlier Gebauer in Berlin zeigt und der ihr eher wie ein junger Wilder erscheint denn als ein versierter Malerstar: "Den Begriff 'Mixed Media' nimmt er wörtlich, arbeitet Fotografien und Versatzstücke populärer Comics mit ein, verfremdet die Motive und schneidet anschließend Löcher in das Gewebe, unter dem noch andere Strukturen sichtbar werden. Malend habe er das 'Gefühl zu perforieren, Löcher zu machen', verriet der Künstler vor längerem in einem Interview. Dieser Zustand sucht nach einem realen Äquivalent und mündet in den Schnitten durch die Leinwand: 'Ich frage mich, was sich dahinter verbirgt.'"

Außerdem: In der FAZ schildert Andreas Kilb die schwierige Arbeit des Wörlitzer Gartenreichs unter den Bedingungen der Dürre - viele Bäume mussten gefällt werden, und auch personalpolitisch kommt die Instituion nicht zur Ruhe.
Archiv: Kunst
Stichwörter: Gordillo, Luis