Efeu - Die Kulturrundschau

Dreimal Midas, dreifach unfehlbar

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11.08.2022. Europäisches Kino in bester Form - nicht fürs Tablet geeignet, aber die Ambivalenzen des Fortschritts aufspießend, sehen die Filmkritiker mit Carla Simóns Drama "Alcarràs" über spanische Pfirsichbauern. Die FAZ feiert den Perlmuttschimmer von Elisabeth Teiges Sopran. Die NZZ begutachtet das Learn Center von Sou Fujimoto an der Hochschule St. Gallen. Die Musikkritiker trauern um den begnadeten Songschreiber Lamont Dozier. The Nation besucht eine ängstliche Philip-Guston-Ausstellung in Boston.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.08.2022 finden Sie hier

Film

Angenehm unaufgeregt: Carla Simóns "Alcarràs"

Für "Alcarràs" hat Carla Simón in diesem Februar den Goldenen Bären der Berlinale erhalten - jetzt läuft ihr mit Laiendarstellern umgesetztes Drama über spanische Pfirsichbauern, die ihren Beruf kaum mehr ausüben können, auch regulär in den Kinos an. Die Regisseurin "präsentiert eine zutiefst entfremdete Welt und das obwohl die Arbeit auf der Plantage noch ganz händisch abläuft, kaum Technologie zwischen Mensch und Natur geschaltet ist", schreibt Jonas Nestroy im Perlentaucher. "Der Sommer und die sonnendurchfluteten Bilder des Films suchen keine Extreme, wollen weder mit flirrender Fieberhaftigkeit elektrisieren, noch die hitzebedingte Paralyse der Hundstage beschwören: Kein Überschuss an Bewegung, aber eben auch kein Stillstand." Das europäische Kino zeigt sich hier bestens in Form, schwärmt Andreas Kilb in der FAZ: "Wenn man sieht, wie Amazon, Netflix und die anderen Streamingdienste die globale Bilderproduktion unter sich aufteilen, fragt man sich manchmal, welchen Platz das europäische Kino in diesem Kartell der audiovisuellen Supermärkte in Zukunft einnehmen wird. Carla Simóns Film gibt darauf eine Antwort. Er passt in kein Serienformat, und er verweigert sich der Ästhetik des Laptops, in der sich ein erklärendes Bild ans andere reiht. Wer ihn sehen will, muss in ihn eintauchen. Er braucht die große Leinwand mehr als die Superheldenfilme." Auch Freitag-Kritiker Jens Balkenborg ist begeistert: "Simóns humanistischer, vor Leben berstender Film, in dem sich Erinnerung und Fiktion berühren, lässt an Regisseurin Chloé Zhao denken. ... . Jedes Paradies, davon erzählt Carla Simón mit angenehmer Unaufgeregtheit, bittersüßer Schönheit und Poesie, hat seine Halbwertszeit und muss irgendwann Neuem weichen. Und dass dieses Neue in Alcarràs eine gesellschaftliche Notwendigkeit ist, die nicht ohne (persönliche) Opfer zu bekommen ist, dass also die Ambivalenzen des Fortschritts aufgezeigt werden, ist nur ehrlich." Für Dlf Kultur hat Patrick Wellinski mit der Filmemacherin gesprochen.

Ganz große Bastelkiste: Jordan Peeles "Nope"


Auf Jordan Peeles neuen, erneut gesellschaftspolitisch tief unterlegten Horrorfilm "Nope" hatten wir an dieser und jener Stelle schon hingewiesen. Nach zwei Erfolgen liegt Hollywood dem afroamerikanischen Regisseur zu Füßen und nur "der Himmel ist die Grenze seiner Fantasie. Wortwörtlich", schreibt Tobias Kniebe in der SZ. Begeistert ist er davon nicht: "Die grenzenlose Freiheit nach einem Sensationserfolg - warum tut sie so vielen Filmemachern nicht gut? Jordan Peele ist da leider keine Ausnahme. Sein Budget erlaubt es ihm, die ganz große Bastelkiste aufzumachen und eine Art Hommage an den Steven Spielberg der 'Unheimlichen Begegnungen' zu inszenieren, da zeigt sich seine Begabung. Anders als sein Vorbild glaubt er aber offenbar, dass er auf starke Figuren und eine packende Geschichte verzichten kann, und dass man ihm schon verzeihen wird, wenn er dieselbe Sequenz immer wieder bringt, nur jedes Mal noch größer." Auch tazler Tim Caspar Boehme wird es an Absurditäten mitunter etwas viel: "Ein bisschen ungelenk didaktisch fügt sich das ins Ganze, überfrachtet es fast. Doch Peele gleicht dies umso stärker mit spektakulären Bildern aus." Auch Julia Lorenz von ZeitOnline hat gewisse Vorbehalte: "Trotz seiner Ideenfülle fühlt sich der 130 Minuten lange Film seltsam zerdehnt an, wie ein Gewaltmarsch durch die heiße Prärie, der einen irgendwann halluzinieren lässt." Für die FR hat Daniel Kothenschulte mit dem Regisseur gesprochen.

Besprochen werden Isabelle Stevers Inzestdrama "Grand Jeté" (Freitag, Tsp, taz), Mike Marzuks "Der junge Häuptling Winnetou" (Perlentaucher, FR, Welt), Jessica Beshirs auf Mubi gezeigter Film "Faya Dayi" (Tsp), Stephen Karams auf Mubi gezeigte Broadway-Adaption "The Humans" (SZ) und "Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr" mit Timothy Spall (SZ). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen.
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Kunst

Philip Guston, Aegean, 1978. The Estate of Philip Guston, courtesy Hauser & Wirth


Eigentlich sollte die große Philip-Guston-Retrospektive schon im Sommer 2020 in Washington gezeigt werden. Dann kam Covid, gleichzeitig wurde der Kampf um "richtige" und zumutbare Kunst immer hässlicher, so dass die Ausstellung erst jetzt, mit vielen Warnschildern versehen, im Museum of Fine Arts in Boston eröffnet wurde. Das Problem, erklärt Barry Schwabsky in The Nation: Guston, ein weißer, in Kanada geborener Jude, war ein vehementer Kritiker des Rassismus in den USA und hat vor allem 69/70 immer wieder vermummte Ku-Klux-Klan-Männer gemalt. Das war den Kuratoren angesichts der Aufstände nach dem Mord an George Floyd zu heikel. Sie verschoben die Ausstellung, was sofort Protest nach sich zog, während andere vor dem "Schaden und dem Schmerz" warnten, den die Klan-Bilder auslösen könnten. Jetzt wurde sie also doch noch eröffnet. Und Schwabsky findet sie einfach bizarr: Für die Kuratoren ist Gustons Auseinandersetzung mit dem Rassismus das einzig wichtige. "Im Gegensatz dazu wird fast keiner der vielen Kriege erwähnt, die die Vereinigten Staaten zu Gustons Lebzeiten führten und die seine Kunst ebenso stark beeinflussten. ... Während der politische Kontext von Gustons Leben und Kunst durch die Zeitleiste auf bizarre Weise eingeengt wird, fehlt der künstlerische und kulturelle Kontext seines Werks gänzlich: Die einzigen künstlerischen Ereignisse, die erwähnt werden, sind eine Handvoll seiner eigenen Ausstellungen." Künstlerkollegen und Bewegungen die er bewunderte, wie die mexikanischen Wandmaler, Abstrakten Expressionisten, Pop-Künstler, Minimalisten und die Underground-Comic-Künstler - "sie werden in der Zeitleiste nie erwähnt. Auch die Poesie und Belletristik, in die er sich vertiefte, fehlt ... Ist dies alles kein wesentlicher Kontext für Gustons Kunst?"

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Über die Zeichnung hinaus" in der Zitadelle Spandau in Berlin (Tsp), die Ausstellung "Surrealism Beyond Borders" in der Tate London (wo der "Prozess der Dekolonisierung" als eine der Triebkräfte der Kunstbewegung ausgemacht wird, wie Catrin Lorch in der SZ zufrieden konstatiert), die Ausstellung "VolksWagner. Popularisierung - Aneignung - Kitsch" im Richard-Wagner-Museum Bayreuth (SZ) und die Ausstellung "1929/1955. Die erste documenta und das Vergessen einer Künstler:innengeneration" im Zentrum für verfolgte Künste Solingen (FAZ).
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Architektur

Hubertus Adam begutachtet für die NZZ das Learn Center, das der japanische Architekt Sou Fujimoto an die Hochschule St. Gallen angebaut hat (Bilder). Glas, Raster und Struktur sind seine Kennzeichen, was den Kritiker an eine "strahlende Stufenpyramide aus Quadern" erinnert. "Kern des Neubaus bildet ein Atrium mit einer Grundfläche von 15×20 Metern und halbkreisförmig in den Luftraum auskragenden Treppenläufen. Das war für die beteiligten Ingenieure Schnetzer Puskas aus Basel eine große Herausforderung. Wozu dient aber der Square? Es gehe um attraktive, verschiedenen Bedürfnissen gerecht werdende Lernplätze sowie um Raum für experimentelle Lehrformen, hieß es etwas nebulös im Jurybericht von 2017. Das Dilemma der beteiligten Architekten: eine konkrete und möglichst auch noch ikonische räumliche Voraussetzung zu schaffen für die Zukunft des Lernens, von der allerdings niemand weiß, wie sie sich in zehn oder zwanzig Jahren darstellt." Auf Bildern von den Innenräumen sieht es aus wie Hogwarth aus Glas. Ob sich auch hier die Treppen immer wieder verschieben, wissen wir allerdings nicht.

Bernhard Schulz (Tsp) und Niklas Maak (FAZ) gratulieren dem Architekten und Schöpfer des Holocaust-Mahnmals Peter Eisenman zum Neunzigsten.
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Bühne

Elisabeth Teige als Senta in "Der fliegende Holländer". Foto: Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele


In Bayreuth feiert die FAZ eine Entdeckung: die norwegische Sopranistin Elisabeth Teige, die erst Freia im "Rheingold", dann Gutrune in der "Götterdämmerung" und jetzt Senta im "Fliegenden Holländer" sang. "Ein einzigartiger, jugendlich-dramatischer Sopran ist da zu bestaunen: Teige versteht es auf wundersame Weise, die Wärme des Brustregisters in die Kopfstimme hineinzunehmen und, ohne zu brüllen, die vielfältigen Nuancen der Kopfstimme enorm zu verstärken. Der Effekt ist verwirrend: Man glaubt, der kostbare, stets halb verschattete Perlmuttschimmer Elisabeth Schwarzkopfs bekomme einen Booster von sagenhafter Kraft, mit viel Körper im Klang. ... Nach dem wirklich sensationellen Bayreuth-Debüt von Grigorian als Senta im vergangenen Jahr konnte man sich mit Recht fragen, ob die Inszenierung des 'Holländers' von Dmitri Tcherniakov ohne diese überragende Sängerin und Darstellerin nicht in sich zusammenfallen würde."

Weiteres: Navid Kermani besucht für die Zeit die Passionsspiele in Oberammergau, die - anders als viele Theater - total ausgebucht sind: "Intendanten ebenso wie Bischöfe müssten sich fragen, welche Sehnsucht die Menschen nach Oberammergau treibt, die sich in den Theatern und Gottesdiensten offenbar nicht mehr erfüllt." Im Van Magazin resümiert Eleonore Büning Opern-Neuproduktionen der Salzburger Festspiele. Besprochen wird die Performance "J'ai pleuré avec les chiens" der kanadischen Choreografin Daina Ashbee beim Berliner "Tanz im August" (taz).
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Literatur

Für "eine hervorragende Entscheidung" hält auch Adam Soboczynski in der Zeit, dass Emine Sevgi Özdamar in diesem Jahr den Büchner-Preis erhält (unser Resümee). In unserem Onlinebuchladen Eichendorff21 haben wir Ihnen aus diesem Anlass einige Bücher von Autorinnen und Autoren zusammengestellt, die auf Deutsch schreiben, deren Muttersprache Deutsch aber nicht ist. Die Schriftstellerin Asal Dardan verrät in der SZ, was sie derzeit auf den Nachttisch liegen hat. Andreas Platthaus schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Bilderbuchkünstler Raymond Briggs.

Besprochen werden unter anderem James Ellroys "Allgemeine Panik" (Standard), Emily Segals "Rückläufiger Merkur" (online nachgereicht von der FAZ), Hernan Diaz' "Treue" (FR), Ahmet Altans "Hayat heißt Leben" (54books), die gesammelten "Ernie Pike"-Comics von Hugo Pratt und Héctor Oesterheld (Tsp), James Lee Burkes Krimi "Die Tote im Eisblock" (TA) und Ralf Rothmanns "Die Nacht unterm Schnee" (FAZ).
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Musik

Vor hundert Jahren wurde die Internationale Gesellschaft für Neue Musik gegründet - Max Nyffeler zieht in der FAZ Bilanz, wie es um die Neue Musik steht. Sein Fazit fällt ernüchtert aus: Heute wird "marketingbewusst auf die Hör- und Sehgewohnheiten des jüngeren, internetaffinen Publikums eingegangen. ... Das segmentierte Publikum wird mit den ihm vertrauten Sounds, mit hinreichend Spektakel und den gerade gängigen politischen Slogans bedient. Die einst gesellschaftstheoretisch untermauerten Ideen von Avantgarde und Fortschritt werden damit endgültig verwässert. Komponiert wird für den Tag, zelebriert wird die Feier des Jetzt - Ausnahmen bestätigen die Regel. Das hat durchaus anregende und oft erhellende Züge, wirkt aber auch selbstreferenziell und vernachlässigt die mit Reflexion verbundenen Zeitdimensionen Vergangenheit und Zukunft. Unverkennbar ist dabei: Das genaue Hören, dessen Bedeutung für eine humane Existenz noch der späte Luigi Nono unerbittlich gefordert hat, verliert an Bedeutung."

Der Songschreiber Lamont Dozier ist tot. Er schuf ewige Pop-Klassiker wie "You Can't Hurry Love", "Baby Love" und "Stop in the Name of Love". Gemeinsam mit Brian und Eddie Holland war er in den Sechzigern eine verlässliche Hitmaschine "am Motown-Fließband", wie Karl Bruckmaier in der FAZ erinnert. "Sie hatten es perfekt drauf, mit hysterischem Zappel-Pop für die Supremes oder symphonischen Soul für die Four Tops den Beatles und der ganzen britischen Pop-Invasion die ersten Plätze in den Hitparaden streitig zu machen. Wie das ging? Lamont Dozier erzählte mir vor einigen Jahren, wie man sich noch vor dem Frühstück zu dritt ums Klavier drängelte, Kaffee und Donuts vergaß, Dur und Moll hin und her schob, Pikkoloflöten ins Spiel brachte, Gesangsstimmen in unmöglich scheinende Höhen pitchen wollte: dreimal Midas, dreifach unfehlbar." Einen weiteren Nachruf schreibt Detlef Diederichsen in der taz. Der Guardian hat auf Youtube ein Medley zusammengestellt:



Außerdem: Marielle Kreienborg berichtet in der taz vom Locus-Festival in Apulien. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen befasst sich Arno Lücker in dieser Woche hier mit Elisabeth Kuyper und dort mit Gloria Coates. Außerdem vergleicht Lücker für VAN diverse Interpretationen von Beethovens fünftem Klavierkonzert.

Besprochen werden eine Biografie der Dirigentin Simone Young (Tsp), eine Aufführung von Mozarts c-Moll-Messe durch Philippe Herreweghe und die Camerata Salzburg (SZ), ein Konzert von Seeed (Tsp) und eine EP von Pussy Riot ("tiefenkandierter Teenage-Synthie-Pop mit Urban-Einschlag", schreibt Jakob Biazza in der SZ).
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