Efeu - Die Kulturrundschau

Abschied von der Lesbarkeit der Welt

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08.08.2022. Der Bayreuther "Ring" ist durch. Der Presse geht es den Umständen entsprechend widerprüchlich. Zwanzig Minuten Buhorkan stoppte die SZ nach der "Götterdämmerung". Die FAZ spricht gar von einer Hinrichtung. "Egal - in vier Jahren klatschen sie alle", verspricht die Welt, die als einzige Zeitung die "große Kraft" dieser Inszenierung lobt. Die taz bewundert die Totenköpfe der Hamburger Künstlerin Magda Krawcewicz. Das Gedicht hat den Krieg kommen sehen, ist sich der ungarische Lyriker Gábor Schein bei Zeit online sicher.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.08.2022 finden Sie hier

Bühne

Der Ring als Familienserie: Hier eine Szene aus dem "Rheingold". Foto: Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele


In Bayreuth fürchtete SZ-Kritiker Egbert Tholl einen Moment lang, eine Saalschlacht würde ausbrechen, als Valentin Schwarz nach der "Götterdämmerung", dem letzten Teil des Rings, auf die Bühne trat: "Die einen brüllen ihren, nun ja, Hass heraus, die anderen stehen und klatschen ostentativ, vielleicht auch, weil sie den neuen 'Ring des Nibelungen' überlebt haben. Angesichts dieser disparaten Reaktionen kann man nun lange diskutieren, ob dieser 'Ring' Kult wird oder ein Desaster ist." Kohärent war er nicht, aber damit hat Tholl kein Problem, "weil heutzutage ausgedehnte Familiengeschichten selten noch stringent erzählt werden können, dazu ist unsere Welt zu disparat. Schwarz' Sammelsurium der (kruden) Einfälle und sekundenkurzer Geistesblitze taugt durchaus zur Metapher unserer Gegenwart. Allerdings dehnt er die Inkohärenz vom Inhaltlichen aufs Handwerkliche aus. Es gibt lange Momente brillanter Personenführung (erster Aufzug bei Gunther daheim), es gibt noch längere, in denen nichts passiert (der ganze zweite Aufzug)" und die zwei Orchester, mit Cornelius Meister am Pult, konnten es auch nicht raushauen: Hätte Meister "doch nur auf Christian Thielemann gehört und bedacht, dass man nach vier Stunden Musik in der 'Götterdämmerung' noch Luft nach oben haben muss, damit der Trauermarsch knallt. Hier knallt nichts."

In der FAZ kann Jan Brachmann den fast zwanzigminütigen Buhorkan (er schreibt von einer "Hinrichtung") aus tiefstem Herzen nachvollziehen: Mal ist der "Ring" ein anonymer Junge, mal der junge Hagen, Walhall eine Designerlampe, Notung erst Pistole, dann Schwert. Jeder Objektbezug ist ausgelöscht. "Deutlicher können Valentin Schwarz und Andy Besuch nicht den Stinkefinger in Richtung des um Deutung bemühten Publikums ausfahren und ihm zu verstehen geben: 'Wir haben die Arbeit am Sinn satt. Ihr seid uns scheißegal.' Doch diese 'Ring'-Regie ist auch ein Symptom unserer Zeit und lohnt daher die Auseinandersetzung. Sie beschreibt nicht nur unser Abgleiten in eine kulturelle Demenz durch Überalterung, kreative Erschöpfung und jugendliches Desinteresse an der Überlieferung. Sie vollzieht auch den Abschied von der Lesbarkeit der Welt und resigniert vor der Einsicht, dass Wohnlichkeit im sinnfreien Kosmos nur eine Farce sei. Aus ihr spricht der Pessimismus einer neuen Generation (Schwarz ist 33 Jahre alt), die keine Wetten mehr auf die Zukunft abschließt."

Welt-Kritiker Peter Huth gehörte zu den wenigen, die sich zu klatschen trauten. "'Egal - in vier Jahren klatschen sie alle', rufen wir uns zu. ... Wer kam, um den 'ultimativen Ring' zu sehen, wurde enttäuscht. Und war hier auch falsch. Der 'Ring' und seine Inszenierungen sind ein Teil des großen Wagner-Multiversums, das aus einer unendlichen Anzahl von Varianten der Deutung besteht. Manche gelungen, andere weniger. Ganz objektiv und ganz subjektiv. Jede hat ihre Berechtigung, da können die Krakeeler so laut buhen, wie sie möchten. Das ist das Wesen der Festspiele, das ist Wagner, das ist Bayreuth und das ist Werkstatt", lobt Huth. "Schade, dass nun ausgerechnet dem Schluss sozusagen auf dem Trockenen eines abgelassenen Pools die Luft ausgegangen ist. Über weite Strecken hat es gleichwohl funktioniert", findet auch Joachim Lange in der nmz.

Besprochen werden außerdem Thorsten Lensings "Verrückt nach Trost" in Salzburg (nachtkritik, SZ), eine Choreografie der australischen Tanzkompanie Marrugeku beim Berliner Tanz im August (Tsp) und Georg Quanders Inszenierung von Carl Heinrich Grauns "Silla" bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik (nmz).
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Film

Udo Kier mit Bart in "My Neighbor Adolf"

Beim Festival in Locarno präsentiert Udo Kier seinen neuen Film "My Neighbor Adolf", in dem er Hitler zwar nicht zum ersten Mal spielt, aber zum ersten Mal ernst und nicht in einer grellen Groteske. Die NZZ hat den Schauspieler, der einst von Londons Straßen weg für seinen ersten Film gecastet wurde, zum anekdotenprallen Gespräch über Leben und Werk getroffen. Fazit daraus: Der Mann war einfach immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort. "Fassbinder lernte ich schon in Köln kennen in einer Kneipe, da war er fünfzehn, ich war sechzehn. Jedenfalls, Sie müssen sich das so vorstellen, dass ich in London mit meinem wenigen Geld in einen Nachtklub wollte, wo die Prominenz verkehrte. Ich wollte das auch einmal erleben. Da habe ich dann also alleine mein Glas getrunken, und es kam der Kellner und sagte: 'Herr Visconti möchte Sie gerne einladen zu einem Champagner mit Herrn Nurejew.' Das war der berühmteste Tänzer der Welt. Ich wusste weder, wer der eine noch wer der andere war, und meinte zum Kellner: 'Sagen Sie doch dem Mann, er soll selber kommen - wieso schickt er Sie?' Es gibt Fotos von dem Abend: Auf der einen Seite hängt Nurejew an mir, auf der andern Visconti. Und dann kam noch ein anderer Mann hinzu, sehr gut aussehend, blond, Helmut Berger. So muss man sich das vorstellen." Seine Rolle im von Andy Warhol produzierten "Frankenstein 3D" verdankte er dann auch dem Umstand, dass er im Flugzeug zufällig neben dem Regisseur Paul Morrissey saß.

Außerdem: Katrin Hillgruber führt im Tagesspiegel durch das Schaffen des Schauspielers Matt Dillon, der in diesem Jahr den Lifetime Achievement Award des Filmfestivals Locarno ausgezeichnet wird.

Besprochen werden der neue Eberhofer-Krimi "Guglhupfgeschwader" (FAZ), die Netflix-Dokuserie "Is anyone up!?", die erzählt, wie es dem Betreiber einer Rache-Porno-Website an den Kragen geht (taz), Régis Roinsards "Warten auf Bojangles" (FAZ), die Netflix-Serie "Uncoupled" (BLZ) und die Animationsserie "Luck" auf AppleTV (SZ).
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Kunst

Magda Krawcewicz, Small Idols Romantica / No. 1-3. Foto: Galerie Holthoff


Jan Zier besucht für die taz die Hamburger Malerin und Bildhauerin Magda Krawcewicz, die gern auf Mythen und Symbole zurückgreift, "die das eigene Unterbewusstsein ebenso wie das  kollektive Gedächtnis ansprechen. 'Ich suche nach Begriffen, die eine Welt eröffnen, zu der viele Bilder passen.' So wie bei ihren Idolen, die auf den ersten Blick leicht morbide wirken: kleine Totenköpfe aus Porzellan, die einen in einem stillen, klaren, einem sehr lebendigen Weiß anstrahlen. Hinter der Oberfläche offenbaren sich alle Brüche des genauso zarten wie zeitlosen Materials. Sie sind geschmückt mit Federn und Muscheln, Pocken und Schlangenhäuten und erinnern damit zwar an Fetischobjekte. Doch sie behalten ihre Leichtigkeit, weil sie keiner spezifischen Zeit oder Kultur zuzuordnen sind und auch keine ganz eigene erschaffen wollen. Und obwohl sie eben Idole sind, haftet diesen Werken so gar nichts Religiöses an. Wohl aber spielen die kleinen kultischen Werke mit der ganzen Kraft des Mythologischen - und zwar ganz kulturübergreifend." Mehr demnächst in der Hamburger Galerie Holthoff.

Weiteres: Kevin Hanschke recherchiert für die FAZ, wie die Museen, die zum Schutz ihrer Exponate die richtige Raumtemperatur halten müssen, mit der Klimakrise umgehen. Besprochen wird Reto Pulfers Ausstellung "Blitzzzustand" im Kunsthaus Potsdam (taz).
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Literatur

Der ungarische Lyriker Gábor Schein lässt auf ZeitOnline seine erschütternden Kriegseindrücke der letzten Monate Revue passieren und denkt über Lyrik im Krieg nach: "Das Gedicht ist das Sinnesorgan der Zukunft. Seit Langem sagt es, schreit es hinaus, es kommt ein Krieg. Hier wird er ausbrechen, in Osteuropa. Auf diesem Teil des Kontinents, der mit seinen wundervollen im Frühlingswind wogenden Rapsfeldern, den sich über die seichten Hügel erstreckenden Weizenfeldern die Sinne betört, doch der nie etwas anderes war alsein furchtbarer Fleischamboss, eine Blutmühle."

Im großen Standard-Gespräch spricht die Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo vom Druck, der auf ihr laste, wenn sie auf die Rolle der schwarzen Aktivistin reduziert werde, wie sie es seit ihrer Auszeichnung 2016 mit dem Bachmannpreis erlebe: "Nun sehne ich mich danach, Momente genießen zu können, in denen es vorwiegend darum gehen wird, was ich mit meiner Literatur künstlerisch umsetzte, auch wenn das nie zu hundert Prozent von meinem Aktivismus zu trennen sein wird." Etwa was ihren Umgang mit der deutschen Sprache als gelernter Sprache betrifft: Ihr Lektor "versteht, dass es mir nicht darum geht, einen Text zu schreiben, der durchkorrigiert und ausgebügelt ist. Die Lesenden sollen ruhig merken, dass ich Deutsch später im Leben gelernt habe. Denn das ist Teil der Erzählung."

Weitere Artikel: Der momentan selbst im Exil lebende, russische Schriftsteller Viktor Jerofejew erzählt in der Zeit von seinem Besuch im Heinrich-Böll-Haus und erinnert an die Solidarität des Schriftstellers mit den Dissidenten der Sowjetunion. Lena Karger liest für die Welt nach, was sich aus Hans Falladas "Kleiner Mann - was nun?" für Inflationszeiten lernen lässt. Hannes Hintermeier hat sich für die FAZ mit dem Psychiater Paulus Hochgatterer getroffen, der im Nebenberuf Schriftsteller ist und die Pandemie-Eindrücke aus dem ersten Beruf für den zweiten erst noch sortieren muss.

Besprochen werden unter anderem die Anthologie "Der papierene Freund" mit Tagebucheinträgen jüdischer Kinder und Jugendlicher aus der NS-Zeit (taz), Michael Krügers "Das Strandbad" (Tsp), Imre Kertészs "Heimweh nach dem Tod. Arbeitstagebuch zur Entstehung des 'Romans eines Schicksallosen'" (Standard), Hatice Acikgoez' Novelle "ein oktopus hat drei herzen" (Freitag), Tina Brenneisens Comic "True Stories - Marie Luis erzählt" (Tsp), Laure Gauthiers Gedichtband "kaspar aus stein" (NZZ), Hanna Bervoets "Dieser Beitrag wurde entfernt" (FR), Andrej Kurkows "Samson und Nadjeschda" (Tsp), Ralph Waldo Emersons "Tagebücher" (ZeitOnline) und Frida Nilssons Kinderbuch "Sem und Mo im Land der Lindwürmer" (online nachgereicht von der FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Uwe Wittstock über Mascha Kalékos "Wiedersehen mit Berlin":

"Berlin, im März. Die erste Deutschlandreise,
Seit man vor tausend Jahren mich verbannt.
Ich seh die Stadt auf eine neue Weise..."
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Musik

In der FAZ geht Dietmar Dath vor dem Label Karlrecords auf die Knie, die mit einer Box verdienstvollerweise Iannis Xenakis' elektroakustische Werke gebündelt zugänglich macht. Sie "dokumentiert die Spur der Irr- und Weltfahrten samt Sprüngen, Tauchgängen und Höhenflügen, die diese spezielle Werkgruppe des Komponisten birgt." So beschert das Finale der Box "zunächst die unwahrscheinliche Einsicht, dass Musik 'aus dem Computer', also eine, in der nicht ein Menschenbewusstsein, sondern etwas anderes dem Material folgend dieses logisch entwickelt, das kein händischer Klavierunsinn mehr blockiert, Wirkungen auffahren kann, die jeden fade amusischen Rationalismus effektiv (zer-)stören können. ... Nach 'Unwahrscheinlichkeit als Wahrheit' hört sich insbesondere 'Gendy3' an: Die konkrete Schall-stiftet-Drift-und-Sog-im-Raum-Vernunft dieses Stücks macht den auf den ersten Blick so unheimlichen Satz 'Die Maschine denkt' als etwas fassbar, das Erfahrungstatsachen der Sorte 'Holz arbeitet' oder 'die See tobt' verwandt ist. Zugleich kommt das alles irgendwie auch von Orgelmusik her, aber so, wie ein QR-Code vom byzantinischen Mosaikwesen herstammt. Selbst Rauschen klingt hier wie gestimmt."



Außerdem: Harald Eggebrecht resümiert in der SZ die Musiktage Hitzacker. Andreas Hartmann stellt in der taz das Klangkunstprojekt "Monstercall" des Komponisten Nico Sauer vor, der am Tegeler See in Berlin einem angeblichen Seemonster auf die Schliche kommen will. Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf die Sängerin Judith Durham. Unter anderem der Standard meldet, dass der Neue-Musik-Doyen Lothar Knessl gestorben ist.

Besprochen werden Salzburger Konzerte von Yuja Wang  (eine "großartige Pianistin", schwärmt Helmut Mauró in der SZ) und Grigory Sokolov (in dessen Spiel wird selbst Beethoven "zum Brüllen komisch", schreibt Michael Stallknecht in der  SZ) sowie Auftritte von K.I.Z. (BLZ) und Kelvin Jones (FR).
Archiv: Musik