Efeu - Die Kulturrundschau

Chirurgie ist der neue Sex

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25.05.2022. In Cannes pilgern die Kritiker in David Cronenbergs Body-Horrorfilm "Crimes of the Future", einem Schönheitswettbewerb der Organe. Kontrovers nehmen FAZ und Tagesspiegel Sergei Loznitsas "Natural History of Destruction" auf, einen Essay über den Luftkrieg. Die Nachtkritik verfällt mit Thom Luz dem traurigen Zauber der Klavierstimmer. In Suhrkamps Logbuch bekennt Herausgeber Thomas Wörtche, dass er das Wort Krimi kaum noch in den Mund nehmen mag. Und in der Zeit prophezeit Wolfgang Ullrich ein neues Zeitalter des Maskenspiels.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.05.2022 finden Sie hier

Film

Lea Seydoux, Viggo Mortensen und Kristen Stewart begehen "Crimes of the Future"

Es kommt bekanntlich auf innere Werte an: Mit "Crimes of the Future" unternimmt Body-Horror-Altmeister David Cronenberg in Cannes mal wieder einen Exkurs in die Körper und Psychen seiner Protagonisten - und zu diesem Schönheitswettbewerb der Organe pilgern die Kritiker in Scharen. "Cronenbergs aktuelle Losung kommt aus dem Mund einer von Kristen Stewart gespielten Organ-Aktivistin und lautet 'Chirurgie ist der neue Sex'", schreibt Dominik Kamalzadeh im Standard. "Cronenbergs Film ist ein Untergrunddrama mit Kunstanbindung. Der Kanadier weiß nur zu gut, dass auf diesem Feld ... gern Transgressionen geschehen, die dann irgendwann zur Normalität werden. In der pandemischen Wirklichkeit wirkt 'Crimes of the Future' wie ein unerhörter Zwischenruf, der seinen Nachhall aus der Verweigerung klarer moralischer Positionen bezieht. Empörung war gestern, nunmehr geht es darum, mit neuartigen Empfindungen umgehen zu lernen."

Cronenberg "interessiert sich für den Punkt, an dem Fleisch und Metall, Körper und Technik zusammenstoßen", erklärt Andreas Kilb in der FAZ, "nicht weil er die technisierte Welt verteufeln, sondern weil er wissen will, warum der Mensch darin so schlecht funktioniert. In 'Crimes of the Future' bekommt dieses Muster einen aktuellen ökologischen Dreh, denn das Kind, das am Anfang stirbt, ist das erste Exemplar einer neuen menschlichen Spezies, die sich von Plastik ernähren kann." Der Film ist "von einer bizarren Komik, die den Schrecken mehr als ausgleicht", hält Tim Caspar Boehme in der taz fest. Hanns-Georg Rodek von der Welt meldet Zweifel an, ob Cronenberg was Körpermodifikationen betrifft, tatsächlich auf der Höhe der Zeit ist. Auch SZ-Kritiker David Steinitz weiß nicht so recht: "Das Ganze bleibt merkwürdig statisch und ungelenk."

Sergei Loznitsas "Natural History of Destruction"

Auch Andreas Busche vom Tagesspiegel hatte sich von diesem Cronenberg-Spätwerk ein wenig mehr erhofft, kommt in seinem Bericht aber auch auf Sergei Loznitsas neuen Film "Natural History of Destruction" zu sprechen, einen Essayfilm, der Archivmaterial der Bombardements des Zweiten Weltkriegs montiert. "Loznitsa stellt die Propaganda von wehrhaften Alliierten und leidenden Deutschen einander gegenüber, unterlegt mit fragwürdigen Mitteln. Dass beide Kriege moralisch nicht gleichzusetzen sind, schwächt seine Argumentation über die Verhältnismäßigkeit der Kriegsführung aber entscheidend. Die Aggression einer Invasion wird psychologisch durch keinen noch so martialischen Befreiungskrieg verständlicher."

Die ersten Bilder des Films zeigen das Landleben, dann fressen sich immer mehr Hakenkreuze ins Bild, was schließlich ins Bombardement der deutschen Städte mündet. "Wenn man sich fragt, warum Loznitsa nicht auch Archivaufnahmen aus Dresden verwendet, wo das Grauen noch größer war, kommt man der Idee des Films auf die Spur", schreibt Andreas Kilb in der FAZ. "Der ukrainische Regisseur wollte eben keine Anklage formulieren, sondern einen Vorgang beschreiben, die Ausdehnung des Krieges auf die Zivilbevölkerung." Der Film "entstand nach den Essays des deutschen Schriftstellers W. G. Sebald über 'Luftkrieg und Literatur' (deren englische Ausgabe denselben Titel trägt wie der Film), aber sein aktueller Auslöser war die Zerstörung Aleppos."

Weitere Artikel: Thomas Abeltshauser spricht in der taz mit der Regisseurin Iciár Bollaín über deren neuen Film "Maixabel", der den Terror der ETA thematisiert. Die Schauspielerin Adèle Haenel werde künftig keine Filme mehr drehen, sondern sich aufs Theater konzentieren, denn die Filmbranche, sagte sie in einem Interview, sei "absolut reaktionär, rassistisch und patriarchalisch", meldet Kathleen Hildebran in der SZ.

Besprochen werden James Bennings Essayfilm "United States of Americas" (SZ), John Maddens "Die Täuschung" (SZ, FAZ), der neue "Top Gun"-Film mit Tom Cruise (BLZ) und Jonas Rothlaenders Männer-Doku "Das starke Geschlecht" (SZ). Außerdem informiert uns die SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Literatur

In einem Essay auf Logbuch Suhrkamp erklärt der Krimi-Herausgeber des Hauses, Thomas Wörtche, warum er zunehmend Skrupel hat, das Wort "Krimi" auf die von ihm betreuten Veröffentlichungen drucken zu lassen. "Ich habe zunehmend den Eindruck habe, dass 'Krimi' ein derart fatal lenkender Begriff geworden ist, der die Potentiale und Möglichkeiten von Kriminalromanen unter sich begräbt. ... Aber: Ein guter Kriminalroman ist ein guter Roman" und "der Unterhaltungswert, dessen sich kein Buch der Welt schämen muss, leitet sich aber nicht aus der Komponente 'Krimi', sondern aus der Qualität des gesamten, nicht auf eine Komponente reduzierbaren Romans her, der eben auch ein Kriminalroman ist. Und dennoch, weil auch diese Formel aus der Gruselkiste des Feuilletons an dieser Stelle regelmäßig auftaucht, keinesfalls 'mehr als ein Kriminalroman'. Weniger als ein Kriminalroman kann meinethalben ein 'Krimi' sein, aber 'mehr als ein Kriminalroman' geht nicht, weil ein guter Kriminalroman ein guter Roman ist, der das Kerngeschäft von Kriminalliteratur betreibt: sich literarisch mit der Verfasstheit dieser Welt auseinanderzusetzen."

Weitere Artikel: Gerrit Bartels (Tsp) und Michael Wurmitzer (Standard) liefern Details zum anstehenden Bachmann-Wettbewerb, der in diesem Jahr etwas anders als sonst ablaufen wird. Im Standard trauert Ronald Pohl vorsorglich um die im Schwinden begriffene Tradition der Wiener Arbeiterliteratur. Felix Lill wirft für die Berliner Zeitung einen Blick auf das Phänomen homosexueller Manga-Stoffe. Dem deutschen PEN hilft nach der Schlammschlacht von Gotha nur noch eine strenge Klausur mit Doppelzimmern, glossiert Hubert Spiegel allenfalls halb ernst gemeint in der FAZ.

Besprochen werden unter anderem Hamid Ismailovs "Wunderkind Erjan" (NZZ), James Tynion IVs Comic "The Department of Truth" über Verschwörungstheorien (Tsp), Wolfram Lotz' "Heilige Schrift" (Standard), Jenny Hvals "Perlenbrauerei" (BLZ), J. M. G. Le Clézios "Bretonisches Lied" (SZ) und Paul Austers "In Flammen" über das Leben des Schriftstellers Stephen Crane (FAZ). Außerdem kürt die SZ die besten Bücher des Monats.
Archiv: Literatur

Kunst

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In der Zeit sieht der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich eine neue Kunst der Maskerade entstehen. Auf Instagram weisen KünstlerInnen, Cyberpunks und Dragqueens - Cindy Sherman, Carina Shoshtary Sasha Velour, Cho Gi-Seok, Johanna Jaskowska oder Eszter Magyar - den Weg in eine neue Utopie der Selbstgestaltung, meint Ullrich: "Wer sich hier nicht um ein starkes, markantes Bild von sich bemüht oder es an Vorsicht gegenüber ungeschützter Sichtbarkeit fehlen lässt, macht schnell negative Erfahrungen. So verliert man mit einer zu unspezifischen Selbstgestaltung in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit und wird von den Algorithmen der Plattformen benachteiligt, ja marginalisiert. Und wer unbedarft zu viel oder das Falsche von sich preisgibt, droht zum Opfer von Gesichtserkennungssoftware und Datenhandel, von Bodyshaming oder Stalking zu werden, büßt also gerade die Hoheit über das eigene Bild ein. Daher dürften die engagierten Formen des Sichmaskierens auch mehr als nur eine kurzzeitige Mode sein. Innerhalb der langen Geschichte der Masken hat im Netz vielmehr gerade erst ein großes neues Kapitel begonnen."

Das Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum wird seine Benin-Bronzen zurückgeben. Zur Zeit werden sie zum Abschied präsentiert, aber seltsam kontextlos, schreibt Patrick Bahners in der FAZ. Man hat die Etiketten abgenommen und verzichtet auf jede textuelle Einordnung. Damit, so Bahners, soll ein "Unlearning" demonstriert werden, wie die modische postkoloniale Vokabel lautet. Nur eine Schrifttafel im Vorraum weise den Objekte eine bis heute absolute Macht zu. Und da platzt Bahners die Hutschnur: "Faktische Grundlage der absoluten Königsmacht war die Sklaverei. In der kurzen Kölner Geschichte des Oba-Regimes kommen 'Sklav*innen' einmal vor - als Gegenstand des Handels mit Europäern. Das Manifest des Kölner Ausstellungsprojekts fragt: 'Was könnte es für Museen bedeuten, aktive Akteure in der 'globalen Reparatur' von transgenerationell weitergegebenen kolonialen Traumata zu werden?' Politisch bedeutet es, so ist in Köln zu besichtigen, dass Gewalt nur zur Sprache gebracht werden darf, wenn sie den Kolonialherren zugerechnet werden kann."

Weiteres: In der Welt weist Ulf Poschardt darauf hin, dass zur Documenta 15 kein einziger israelischer Künstler eingeladen wurde, was für eine Reihe internationaler jüdischer Organisationen Beleg ist, dass "der Boykott Israels in dem fast ausschließlich aus Steuergeldern finanzierten Kunst- und Kulturbetrieb weitgehend Konsens" ist, so das von Poschardt zitierte American Jewish Committee (AJC). Besprochen werden eine Ausstellung aktueller Kriegsbilder des ukrainischen Fotografen Mykhaylo Palinchak neben Radierung von Goya in der Wiener Albertina (die Katharina Rustler im Standard als Geste der Solidarität würdigt), die kunsthistorische Schau "Espressioni Con Frazioni" der Kuratotin Carolyn Christov-Bakargiev im Kunstmuseum Castello di Rivoli bei Turin (SZ) und die Ausstellung "Fake. Die ganze Wahrheit" im Deutschen Hygiene-Museum (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Dem kleinen Scheiß auf der Spur: Thom Luz' "Werckmeister Harmonien". Foto: Gianmarco Bresadola / Staatsoper Berlin

Sehr charmant findet Janis El-Bira in der Nachtkritik Thom Luz' neues Stück "Werckmeister Harmonien" im Apollosaal der Berliner Staatsoper, eine Hommage auf den Klavierstimmer, für den am Ende immer "ein kleiner Scheiß" bleibe, wie El-Bira erklärt: "Nicht existenziell ist das gemeint, sondern ganz berufspraktisch: Weil nämlich zwölf reine Quinten mathematisch nur ungefähr sieben Oktaven ergeben, und weil somit ein Rest bleibt, der als berühmtes pythagoreisches Komma die Gelehrten aller Zeiten zu kühnster Zahlenakrobatik angetrieben hat. Ein kleiner Scheiß eben, der dem Klavierstimmer aber heilige Verpflichtung ist. Im Feintuning von Quinten und Terzen soll er diesen Rest und mit ihm die Musik zum Schweben bringen, während er selbst im Schatten bleibt. Der Klavierstimmer sei, heißt es hier auch, nun mal ein bescheidener Gott. Ein trauriger Zauberer."

Silke Huysmans und Hannes Dereere: "Out of the Blue"

Gegen wachsende moralische Verzweiflung auch im Theater empfiehlt Astrid Kaminsky in der taz präzises Nachdenken, wie es Silke Huysmans und Hannes Dereere mit ihrem Dokumentartheaterabend "Out of the Blue" beim Brüsseler Kunstenfestivaldesarts vormachen, einem Stück über Tiefseebergbau, das durch einen komplexen Wissensraum steuere: "Anlass der Erschließung ist der weltweite Nickel-, Kobalt-, Kupfer- und Manganbedarf. Im Stillen Ozean gibt es ein größeres Vorkommen davon als auf der restlichen Erde im Gesamten, so die Interessenvertreter. Das Argument für den Abbau ist schlagkräftig: Die Mineralien werden für jene Batterien gebraucht, die den Strom aus erneuerbaren Energien speichern. Somit wäre Tiefseebergbau für eine klimaneutrale EU im Jahr 2050 unerlässlich. Dabei würde eine Landschaft industriell genutzt, die sich seit Millionen von Jahren unberührt entwickelt hat und deren Bewohner:innen eine Lebensdauer von etwa 2.000 Jahren haben, was sie für Wissenschaftler:innen extrem schwer zu erforschen macht. Die Fragen, die das Thema aufwirft, sind dabei nicht technischer, sondern moralischer Art: Ist die Erde für den Menschen gemacht? Entscheidet sich diese Spezies irgendwann gegen ihre Hybris und dafür, ihren Aufenthalt hier als Gastrecht zu betrachten? Können Grenzen des Nichtwissens zu Horizonten der Bescheidenheit werden?"

Weiteres: In der FR meldet Judith von Sternburg die deprimierenden Zahlen, mit denen Intendant des Frankfurter Schauspiels, Anselm Weber, aufwarten musste: "Insgesamt 60 Prozent aktuelle Auslastung, von 7000 Abonnements wird etwa die Hälfte noch gehalten." Besprochen werden die beiden "eigenwilligen" Opern "Bluthaus" und "Thomas" von Georg Friedrich Haas bei Münchens neuem Festival für frühes und zeitgenössisches Musiktheater (SZ, FAZ), Peter Konwitschnys "Walküre"-Inszenierung in Dortmund (Zeit), das IT-Stück "Keine Menschenseele" der Gruppe Laokoon am Wiener Burgtheater (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

David Signer ist für die NZZ nach Tulsa, Oklahoma, gereist, um dort das neu eröffnete Bob-Dylan-Archiv zu besuchen, wo sich satte 100.000 Objekte aus der Sammlung des Meisters besichtigen lassen. Dieses "Zentrum legt den Fokus auf Arbeit, Kreativität und Wandel. ... Die Notizbücher, die Dylan immer mit sich trug, zeigen, wie seine Songs nach und nach Form annahmen und endlos umgearbeitet wurden. Er entpuppt sich als verblüffende Kombination von Spontaneität und Perfektionismus." So entsteht der "Eindruck eines fokussierten, unermüdlichen, von seiner Arbeit besessenen Menschen. All die Exzentrizitäten, die oft über ihn kolportiert werden, erscheinen so weniger als Allüren als vielmehr als Versuche eines Hypersensiblen, inmitten des Starrummels seine eigene Welt zu verteidigen, die er braucht, um kreativ zu sein."

Besprochen werden der Wiener Auftritt von Dua Lipa (Standard), sowie neue Alben von Kurt Vile (Jungle World), Bryan Ferry (SZ)  und des österreichischen Elektro-Duos Tosca ("weder Verismo noch atonaler Mathtechno, sondern vom Gedanken der Wiedergeburt erfüllt", erklärt SZ-Popkolumnistin Juliane Liebert).



Und ein Hörtipp: Im SWR-Feature erzählt Patrick Banush die Geschichte von Cornel Chiriac, einem ziemlich aufmüpfigen Radio-DJ im Rumänien der Sechziger: Nachdem er als Reaktion auf die Niederschlagung des Prager Frühlings "Back in the USSR" von den Beatles spielte, musste er (unter abenteuerlichen Bedingungen) fliehen, besuchte Woodstock und landete schließlich in der Münchner Bohème.
Archiv: Musik