Efeu - Die Kulturrundschau

Sehnsucht nach dem analogen Glamour

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17.05.2022. Heute eröffnen die Filmfestspiele von Cannes. Die taz ist gespannt, wie das Weltkino dem Krieg in der Ukraine entgegentreten wird. Die SZ sieht die Kinoliebe neu erwachen. In der FAZ erklärt F.C. Delius seinen Austritt aus dem PEN. Die NZZ feiert den Maler Brice Marden als Kontrolleur seiner Gefühle. taz und Nachtkritik erliegen in Lies Pauwels "Baroque"-Schauspiel der Sinnenfülle. Und ZeitOnline annonciert die Rückkehr der Botanisieriens in der Mode.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.05.2022 finden Sie hier

Film

Heute beginnt das Filmfestival in Cannes. Hollywoods "Streaming-Euphorie" aus der Hochphase der Pandemie ist vorbei, bemerkt David Steinitz in der SZ. "Alle haben gemerkt, dass Filme ohne Festival- und Kinoauswertung, ohne rote Teppiche und Premierenpartys und die Berichterstattung, die das alles nach sich zieht, meistens im Streaming-Sumpf absaufen." Und da Netflix gerade erstmals schrumpft, dämmert auch den klassischen Streamern, "weshalb sich in der Filmbranche gerade eine wiedererwachte Kinoliebe und eine große Sehnsucht nach dem analogen Glamour von Cannes diagnostizieren lässt". Was sich auch an der beeindruckenden Liste der Stars ablesen lässt, die an die Croisette kommen: Léa Seydoux, Tom Cruise, Julianne Moore, Tom Hanks, Kristen Stewart, Tilda Swinton, Idris Elba, Michelle Williams, Viggo Mortensen, Anne Hathaway, Anthony Hopkins und Louis Garrel.

"Mariupolis 2" von Mantas Kvedaravičius © RR


"Das Weltkino scheint erneut mit geballten Kräften vertreten", freut sich Tim Caspar Boehme in der taz - noch mehr erwartet er aber einen Festivaljahrgang im Zeichen des Krieges: "Die Aufnahmen des litauischen Dokumentarfilmers Mantas Kvedaravičius, die dieser in Mariupol drehte, bevor er Anfang April in russische Gefangenschaft geriet und getötet wurde, sind von seiner Partnerin Hanna Bilobrova, die ihn während der Dreharbeiten begleitete, außer Landes gebracht worden. Zusammen mit der Cutterin Dounia Sichov hat Bilobrova das Material geschnitten. 'Mariupolis 2' wurde vom Festival nachträglich ins Programm aufgenommen." Weitere Schlaglichter auf den aktuellen Konflikt versprechen Filme von Sergei Loznitsa und Kirill Serebrennikow.

Dass es in diesem Jahr nun auch endlich wieder Partys in Cannes geben darf, nimmt FR-Kritiker Daniel Kothenschulte nach zwei Pandemiejahren erfreut zur Kenntnis - auch wenn ihm beim Gedanken zu feiern, während in der Ukraine Bomben fallen, etwas mulmig wird. "Umso wichtiger wird es sein, die Wirklichkeit nicht auszusperren." Doch alles in allem zeigt sich Cannes mal wieder "als Bastion der Leinwandkunst, und das Programm wirkt wie ein Manifest dazu", schreibt der Kritiker und freut sich insbesondere auf die neuen Filme von Kelly Reichardt und Claire Denis.

Besprochen werden Julian Radlmaiers marxistische Vampirkomödie "Blutsauger" (Welt, mehr dazu hier und dort), Peeter Rebanes "Firebird" (Tsp, taz, unsere Kritik hier) und die Netflix-Serie "Anatomy of a Scandal" (FR).
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Literatur

Schwer enttäuscht muss der Schriftsteller F.C. Delius in der FAZ feststellen, dass das deutsche PEN-Zentrum, das ihm einst in den Siebzigern bei einem Gefecht mit Siemens als "moralische Rückenstärkung" beistand, nach der Schlammschlacht von Gotha (unsere Resümees hier und dort) nicht mehr sein Verein sein kann. "Nie hätte ich gedacht, dass der PEN so tief sinken könnte, einen derart tapferen und klugen Mann wie Deniz Yücel öffentlich zu demütigen (mit einer Abstimmung von 75 zu 73 für ihn), so dass diesem aufrichtigen Präsidenten, was immer er zu dem einen oder anderen Kleingeist gesagt haben mag, nichts anderes als Rück- und Austritt übrig blieb. ... Statt von einem Verein der Bratwurstbudenbetreiber zu sprechen, die ja immerhin noch hin und wieder ein paar Bratwürste anzubieten haben, würde ich sagen: Die 73 Mitglieder, die gegen ihn gestimmt hatten, sind für mich ein Club von Kleingeistern, die wenig oder nichts zum Kauen zu bieten haben."

In der FAZ mahnt Jan Wiele den von Yücel ins Spiel gebrachten Alterskonflikt, an dem die ganze Eskalation sich wohl entzündet haben dürfte, zu begraben. Dass sich ausgerechnet Alt-68er von einem Wort wie "Silberrücken" angegangen fühlen, findet zwar auch Wiele überspannt. Doch "warum hat sich Yücels Präsidium-Fraktion in Gotha in den stundenlangen Rechenschaftsberichten und Fragerunden so energisch bemüht zu zeigen, dass die als Altersdiskriminierung aufgefassten Metaphern aus seinen Korrespondenzen und Diskussionen doch nur harmlose Sprachbilder seien? In seiner letzten Rede vor der Abstimmung beschwor Yücel ja nochmals: 'Es ist kein Generationenkonflikt!' Nur um abends auf Twitter dann zu posten, der PEN sei ein Verein von 'Ü70-Spießern'."

Außerdem: In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Für Tell unterzieht Sieglinde Geisel Uwe Tellkamps "Der Schlaf in den Uhren" (heute auch besprochen in Tagesspiegel und NZZ) dem Page-99-Test.

Besprochen werden unter anderem Sine Ergüns Kurzgeschichtensammlung "Solche wie Sie" (54books), Christiane Hoffmanns "Alles, was wir nicht erinnern" (SZ), die Werkausgabe Mechtilde Lichnowsky (Intellectures), Olga Radetzkajas Neuübersetzung von Viktor Schklowskis "Zoo" (taz), Leonard F. Seidls Krimi "Vom Untergang" (Freitag) und Natasha Browns "Zusammenkunft" (FAZ).
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Bühne

Lies Pauwels' "Baroque". Foto: Fred Debrock / Schauspielhaus Bochum 

Am Bochumer Schauspielhaus hat die belgische Regisseurin Lies Pauwels das Stück "Baroque" inszeniert, indem sie Nachtkritiker Andreas Wilink zufolge die Epoche der Sinnenfreude und des Zeitlichkeitsdenkens zu "Slogan, Parole, Kampfruf" machte: "Vor der Kulisse barocker Welterfahrung - eine raumhohe Vorhang-Draperie lüftet in ihren Falten die Abbildung eines üppigen Stilllebens - und bei elegischer, selten ironisch auf Distanz gehender Grundstimmung zeigen Pauwels und ihre neun Interpret:innen in mehr lose ungebundenen und kursorischen als stringenten Szenen und Situationen die Beschäftigung mit dem eigenen Körper und den Blick der Anderen auf ihn. Ist er schön oder versehrt, dick oder rank und schlank, alt oder jung, weiblich oder männlich und alles dazwischen, untröstlich oder frohgemut, angstvoll, beschämt oder seiner gewiss." In der taz lernt Benjamin Trilling die Lektion: "'Baroque' inszeniert damit auch eine wütende Aufklärung, welche die Diskriminierung von Mehrgewichtigen in einem gesellschaftlichen Kontext aus Diät- und Kulturindustrie einordnet - auch in Bezug auf Judy Freespirits und Aldebarans 'Fat Liberation Manifesto', das im Programmheft zitiert wird."

Besprochen werden neue Kompositionen bei der Münchner Biennale für Musiktheater (SZ), der Stückemarkt des Berliner Theatertreffens (taz), das "Stück für Fluss und Bühne" vom Ensemble 9. November im Gallus-Theater (FR), Bertolt Brechts "Happy End"-Songspiel am Berliner Renaissance Theater (Tsp) und Satoko Ichiharas Pop-Version der "Madama Butterfly" bei den Wiener Festwochen (Standard).
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Kunst

Brice Marden: Muses Drwaing, 1989/91. Bild: Kunstmuseum Basel

NZZ
-Kritiker Philipp Meier hört die Zen-Poesie erklingen aus den Bildern des Amerikaners Brice Marden, dem das Kunstmuseum Basel eine Ausstellung widmet: "Zwar hat Marden wie seine Künstlerkollegen der Minimal Art mit kühler Reduktion, monochromen Paneelen und gedämpften Farbtönen auf die emotionsgeladene Malerei der Meister des abstrakten Expressionismus reagiert. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Seine Arbeiten basieren auf Erlebnissen und Sinneseindrücken, auf Gefühl also und nichts anderem: 'I think of myself as a romantic artist', hat Brice Marden einmal gesagt. Was allerdings diese Gefühle betrifft, so ist Marden ein Meister der Regie. Er versteht sich auf die Kunst, nur das Wesentliche zu offenbaren. Er hat seine Gefühle unter Kontrolle wie der Jazzmusiker sein Instrument, der Dichter seine Worte, der Kalligraf seinen Stift oder Pinsel. Marden setzt das Emotionale sparsam ein, in kleinen Dosen mischt er es unter seine Farben. Kostbare Destillate sind seine Zeichnungen. Und so verstärkt er die Wirkung."

Besprochen werden die David-Hockney-Schau in der Berliner Gemäldegalerie (die FR-Kritikerin Ingeborg Ruthe als Geschenk für alle bezeichnet, "die nie an den Tod der Malerei glaubten", Monopol), Gustav Klimts Zeichnungen in der Wiener Albertina modern (FAZ).
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Design

In aktuellen Kollektionen taucht vermehrt die zylinderförmige Tasche auf, ist Tillman Prüfer vom ZeitMagazin aufgefallen, den das Accessoire an eine Botanisiertrommel aus dem 19. Jahrhundert erinnert, die dem Einsammeln reizender Pflanzen diente. "Schön wäre es, wenn die Rückkehr der Botanisiertrommel die Rückkehr des Botanisierens einleiten würde. Freilich lässt sich die Zylinder-Tasche auch weniger poetisch interpretieren. Bei Acne Studios gibt es ein etwas größeres Modell. Es sieht so aus, als würde genau eine Yogamatte hineinpassen."
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Stichwörter: Mode

Musik

SZ-Jazzkolumnist Andrian Kreye ist völlig umgehauen vom Alben-Diptych "Amaryllis" und "Belladonna" der Gitarristin Mary Halvorson - für Kreye ist sie ein Genie. Auf dem erstgenannten, mit einem Jazz-Sextett und einem Streichquartett eingespielten Album ist ein "grandioser Parcours aus Motiven, Freiräumen und Spannungsbögen" zu erleben, "auf 'Belladonna' spielt sie alleine mit dem Streichquartett. Wie die freie Gitarre und die durchkomponierten Passagen der Streicher einen 'Pulse' finden, ist eine streckenweise verblüffende Verschränkung zweier Formen, die sonst ungefähr so weit auseinanderliegen wie zwei Partikel an den entgegengesetzten Enden des Zeit-Raum-Kontinuums. Quanten-Jazz. Mit allen Sprüngen, die in der Metapher liegen. Man ahnt, was für Hochgefühle die Musikerinnen da im Studio gehabt haben müssen." Wir hören rein:



Oksana Lyniv sprach kürzlich in der FAZ davon, dass es eine verbindliche Anweisung des ukrainischen Kulturministeriums gebe, keine russische Musik aufzuführen. Der Pianist Alexey Botvinov, Leiter des Festivals in Odessa, widerspricht dem, schreibt Patrick Bahners in der FAZ: Er "versteht die Vorschriften anders. Er versicherte, sie genau studiert zu haben: Nur lebende russische Musiker, die den Krieg nicht verurteilen wollten, seien unerwünschte Personen, nicht tote Komponisten."

Außerdem: Eine Studie hat sich mit den physiologischen Reaktionen von Konzertgängern befasst, berichtet Rasmus Peters in einem online nachgereichten FAZ-Artikel. Die Bibliothek des Komponisten Alban Berg wird gescannt, meldet Wilhelm Sinkovicz in der Presse. Kirsten Liese erinnert im Tagesspiegel an Otmar Suitner, Daniel Barenboims Vorgänger an der Berliner Staatsoper. Marco Frei gratuliert in der NZZ dem Schweizer Komponisten Dieter Ammann zum 60. Geburtstag.

Besprochen werden Kendrick Lamars neues Album (Standard, mehr dazu hier), Nichtseattles Album "Kommunistenlibido" (Jungle World), das neue Album von Arcade Fire (NZZ), sowie Konzerte von Tool (ZeitOnline-Kritikerin Laura Ewert beobachtet "andauernde Samenergüsse in Licht, Schreien, Saitengeknödel und Trommelzucken") und der Pet Shop Boys (TA).
Archiv: Musik