Efeu - Die Kulturrundschau

Stumm bleibt die Prophetin

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.05.2022. Die Filmkritiker schwärmen von den Traumbildern, Tilda Swinton und einem Ding aus dem B-Film-Kosmos in Apichatpong Weerasethakuls "Memoria". Die FR groovt sich beim Festival der jungen Talente im Frankfurter Kunstverein mit einem Pilz ein. Die nachtkritik beobachtet den großen William Kentridge bei den Vorbereitungen für seine Kammeroper "Sibyl". Die SZ bewundert neue Dorfarchitektur. Die FAZ hört die Poetikvorlesung von Judith Hermann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.05.2022 finden Sie hier

Film

Vetraute Ikone, unvertrautes Geräusch: "Memoria" von Apichatpong Weerasethakul

Tilda Swinton hat einen Knall - buchstäblich. Einen Knall, der sie (beziehungsweise die Biologin Jessica, die sie verkörpert) jeden Morgen beim Aufwachen heimsucht. Fortan begibt sie sich auf die Suche nach dem Geräusch und dessen Ursachen - davon erzählt Apichatpong Weerasethakul in seinem neuen Film "Memoria". "Bei Weerasethakul ist alles Wahrnehmung, nichts Erzählung", würdigt Thekla Dannenberg im Perlentaucher das Kino des thailändischen Auteurs. In "Memoria" reiht er "eine ganze Serie von Traumbildern aneinander, unerklärliche Passagen und rätselhafte Begegnungen. Sie scheinen spröder, verkopfter als in seinen vorherigen Filmen." Dabei ist "das Schöne" an dieser "rauschenden und berauschende Soundinstallation", wie Ekkehard Knörer in der taz schreibt: "Man weiß nie, was kommt, es kann buchstäblich alles passieren, Erscheinungen sind jederzeit möglich." Tilda Swinton stellt sich hier zwar ganz in den Dienst der Sache, "doch ist sie als Ikone am Ende vielleicht doch des von vornherein Vertrauten zu viel". Cosima Lutz berichtet in der Welt von unerwarteten Freuden: "Da durchkreuzt plötzlich ein Ding aus dem B-Film-Kosmos diese vermeintlich so überhöhte, krass intellektuelle Kunstwelt, dass es ein ziemlich durchgeknallter Spaß ist." Ferner zu beobachten ist eine "Kopplung von Lebendigem und Unlebendigem", die "ganz unschuldig in technischen Begriffen kolportiert wird: Menschen fungieren als Antennen und Festplatten, einmal lauscht Jessicha einer Art Paläo-Podcast aus einem Stein, der uralte Vibrationen gespeichert hat." Außerdem besprechen den Film Daniel Kothenschulte (FR), Fritz Göttler (SZ), Daniel Nehm (Zeit) und Bert Rebhandl (FAZ) den Film.

Außerdem: Lukas Foerster (Filmdienst) und Fabien Tietke (Tagesspiegel) empfehlen dem Berliner Publikum die Retrospektive Frederick Wiseman im Kino Arsenal. Japanische Animationsfilme könnten in Zukunft den Marvel-Blockbustern künftig den Rang ablaufen, glaubt Magdalena Pulz auf ZeitOnline.

Besprochen werden Daniel Rohers Dokumentarfilm "Nawalny" (Freitag, Standard, FAZ, taz, mehr dazu hier und dort), Majid Majidis "Sun Children" (Perlentaucher, Tsp), die DVD-Ausgabe von Abel Ferraras "Zeros and Ones" (taz), RP Kahls "Als Susan Sontag im Publikum saß" (taz), die zweite Staffel der Apple-Serie "Teheran" (Freitag), Sam Raimis "Doctor Strange in the Multiverse of Madness" (ZeitOnline, FR), David Tebouls Dokumentarfilm "Sigmund Freud" (SZ) und Mimi Caves auf Disney+ gezeigte Horrorkomödie "Fresh" (SZ). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Kunst

Die Documenta hat ihre Gesprächsreihe abgesetzt, die sie nach Antisemitismusvorwürfen angeboten hatte (unser Resümee), berichtet Swantje Karich in der Welt. "'Zum jetzigen Zeitpunkt scheint das Ziel, mit der Gesprächsreihe einen offenen, multiperspektivischen Dialog zu eröffnen, nur schwer realisierbar.' Das ist eine Ansage, die viel erzählt über das krachende Scheitern des Kassler Krisenmanagments", meint Karich, die über die patzige Art der Absage staunt. "Der Oberbürgermeister der Stadt Kassel und Aufsichtsratsvorsitzende der Documenta, Christian Geselle, hat sich mit seinem immer gleichen Kunstfreiheits-Lamento zu Wort gemeldet, keine Zeile zur Frage des Antisemitismus: 'Es ist die künstlerische Freiheit der Documenta, die geplante Veranstaltungsreihe We need to talk. Art - Freedom - Solidarity vorerst auszusetzen und ein verändertes Format für Gespräche zu entwickeln.'"

Soeren Baptism Yawei Chen Mona Nguyen Minju Oh, Bottom Recreation Center, 2022, VR installation, Courtesy: the artists


Sandra Danicke hat sich für die FR beim Festival der jungen Talente im Frankfurter Kunstverein umgesehen und bleibt an einem Pilz hängen: Man bekommt "eine Ahnung von dem, was in Pflanzen und Pilzen vor sich geht", mit dem Projekt "Transitions of Transmissions", schwärmt sie: "Man sieht und hört Pflanzen atmen oder vernimmt ihren Herzschlag. Genau genommen ist es natürlich kein Herzschlag, es handelt sich um bio-elektrische Felder, die mithilfe von elektronischen Geräten hörbar gemacht werden und mit menschlichen Performerinnen und Performern eine Art Dialog führen. Eine Jam-Session zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren also, bei der die Pflanzen und Pilze den Ton angeben. Zum Einsatz kommen unter anderem ein Klavier und eine Paella-Pfanne. Wer hätte gedacht, dass ein Baumpilz aus dem Frankfurter Stadtwald zu hektischem Geblubber imstande ist? Bloß: Was will er uns sagen? Der Pilz reagiere auf Berührung, erzählt Sarah Melz, eine der Performerinnen. 'Er braucht etwa zehn Minuten, bis er sich eingegroovt hat. Dann singt er mit.' Was für ein Erlebnis."

Weiteres: Gunda Bartels unterhält sich für den Tagesspiegel mit Anna Havemann, die das "Haus Kunst Mitte" in Berlin wiedereröffnet hat. Natalie Mayroth berichtet in der taz von der Kunstmesse in Neu Delhi. Besprochen wird eine Ausstellung der Graphic Novel "treiben" von Bernadette Schweihoff in der Kommunalen Galerie Wilmersdorf (taz)
Archiv: Kunst

Literatur

In Frankfurt hat Judith Hermann ihre erste, wegen der Pandemie schon häufiger verschobene Poetikvorlesung absolviert. Auf den Krieg in der Ukraine kam sie nicht zu sprechen, da das Skript schon lange vorbereitet war - was ihr unterschiedlich ausgelegt wurde, berichten die Feuilletons. Stattdessen erzählte sie von einer Zufallsbegegnung mit ihrem langjährigen Therapeuten, den sie auch in einer Kurzgeschichte verarbeitet hat. Zu privat, zu wenig Schreibwerkstatt? Von wegen, meint Elena Witzeck in der FAZ: "Hier erklärt eine Schriftstellerin, die im Prozess des Schreibens das Vordergründige Schicht für Schicht abträgt, bis nur noch ein Gerippe dasteht, die kleinste Puppe der Matroschka, wie Hermann sagt, ihre Suche nach dem Kern literarischer Sprache. Entfremden, entstellen, und am Ende klingt es wahr, so attestiert ihr es der Analytiker in ihrem Bericht. Ein ungewohnt offener Zugang zu ihrem Werk, auch eine versteckte Verteidigung: Wer es bis jetzt noch nicht verstanden hat: Das will ich, und nichts daran ist einfach." Weitere Berichte liefern Miryam Schellbach (SZ) und Christoph Schröder (Dlf Kultur).

Außerdem: Chimamanda Ngozi Adichie erklärt im Zeit-Interview, warum sie Feministin ist - worüber sie gerade auch ein Buch geschrieben hat. In der SZ verrät Thea Dorn, was sie gerade liest und welche Ansichten zur Literatur sie hat. Gerrit Bartels erinnert im Tagesspiegel an Céleste Albaret, Marcel Prousts Haushälterin. Vincent Büssow orientiert sich für die taz in der Welt von Kinderbuchverlagen "mit feministisch-queerem Fokus". Die NZZ setzt Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw fort.

Besprochen werden unter anderem Sibylle Bergs "RCE" (FR, NZZ), Gabriele Tergits "So war's eben" (Tell), Timo Feldhaus' "Mary Shelleys Zimmer" (Freitag), Peter Handkes "Zwiegespräch" (SZ), Amanda Lee Koes "Die letzten Strahlen eines Sterns" (Dlf Kultur), Keanu Reeves' Comic "BRZRKR" (Standard), Bernadette Schweihoffs Comic "treiben" (taz), Hannes Binders Comic "Sherlock Holmes - Das letzte Problem" (Tsp), eine Ausstellung im Forum Schweizer Geschichte in Schwyz über Schweizer Sagen (NZZ) und Lea Draegers Psychiatrie-Roman "Wenn ich euch verraten könnte" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus William Kentridges "Sibyl". Foto: Stella Olivier


Ein beeindruckter Andreas Wilink durfte für die nachtkritik William Kentridge bei seinen Vorbereitungen für die Aufführung seiner Kammeroper "Sibyl" zur Eröffnung der Ruhrfestspiele Recklinghausen zusehen und rätseln: "Stumm bleibt die Prophetin in 'Waiting for the Sibyl'. Aber tänzerisch wogt sie auf ihrem Bühnen-Fleck, während Kentridges malende Schreibhand ihre Erscheinung mit der Projektion von Tabellen, Schriftlisten und Farbfeldern sowie dem legendären Baumblattwerk lebendig macht. Bildnerisch gibt er ihr Zunge und Sprache: Sie stellt Fragen an unsere Leben, fordert auf zu Veränderung und Widerstand, bei banalen Dingen wie weltstürzenden, warnt, wirft Schatten des Zweifels auf, drängt, dies und das zu vermeiden und Lasten abzuwerfen, ob alte Socken, verjährte Hoffnungen oder fatale Illusionen. So steht's geschrieben. Wem aber gelten die Mitteilungen?"

Weiteres: Online sehen kann man bei der nachtkritik ein Videogespräch von Thomas Köck und Moritz Rinke zur Ästhetik einer neuen Dramatik. Besprochen werden das Musical "Shrek" in Halberstadt (nmz), Verdis "Otello" an der Oper Kiel (nmz) und Christopher Rüpings Adaption von Mieko Kawakamis Roman "Brüste und Eier" am Hamburger Thalia Theater (Zeit).
Archiv: Bühne

Architektur

Neues Dorfzentrum von Adept für Aabenraa. Foto: Haans Joosten


Dass gute Architektur auch den immer verwaisteren Dörfern auf dem Land neues Leben einhauchen können, zeigt SZ-Kritikerin Laura Weißmüller die Ausstellung "Schön hier", die das Deutsche Architekturmuseum in einer alten Scheune im Freilichtmuseum Hessenpark aufgebaut hat. Neu gestaltete Dorfzentren können den Bevölkerungsrückgang aufhalten, lernt sie. "Das Rathaus von Meck Architekten in Maitenbeth schafft das mit seinem Sitzungssaal, der sich zum Dorfplatz hin komplett öffnen lässt. In der Schweiz hat das Büro LVPH Architectes dagegen ehemals leer stehende Häuser in der Mitte der Ortschaft Cressier so umgebaut, dass sie im Erdgeschoss nun Gemeinschaftsräume bieten und darüber unterschiedlich große Wohnungen. Und in Dänemark schuf das Büro Adept mit großzügigen Geste eine ringförmige Sitzskulptur, die zum Treffpunkt der Bewohner von Aabenraa avancierte. Krapfen statt Donut ist die Devise, wenn es gilt, dem Flächenfraß am Dorfrand Einhalt zu gebieten und die dümpelnden Dorfkerne zu reaktivieren."

Besprochen wird die Ausstellung "station urbaner kulturen", die an ein Beteiligungs- und Umgestaltungsprojekt des Architekten Lucien Kroll in der Plattenbaulandschaft von Berlin-Hellersdorf erinnert, in der nGbK Hellersdorf (taz).
Archiv: Architektur

Musik

Folgt nach dem Russland-Beben in der Klassik nun der China-Schock? Nach dem - natürlich imaginierten - Angriff der Volksrepublik auf Taiwan in der vergangenen Woche haben jedenfalls zahlreiche Orchester ihre Gastspiele dort abgesagt, berichtet Hartmut Welscher in einem großen - imaginiert-satirischen - Debattenüberblick fürs VAN-Magazin, wie umgekehrt chinesische Orchester ausgeladen werden und Bekenntnisse gefordert werden. Insbesondere um Lang Langs Schweigen drehen sich die Debatten, berichtet Welscher. "Verständnis für Chinas Angriff äußert hingegen der russische Dirigent Valery Gergiev", der ein Siegeskonzert für die Zeit "nach der sicher erfolgreichen Operation zur Wiedervereinigung des chinesischen Brudervolkes" ankündigte. "Ähnlich wie die deutsche Politik sehen sich indes auch deutsche Kulturinstitutionen und -unternehmen dem Vorwurf ausgesetzt, zu lange gegenüber den politischen Realitäten in China, dem hegemonialen Expansionsstreben unter Präsident Xi Jinping und den Menschenrechtsverletzungen die Augen verschlossen zu haben." Vielen finden "die plötzlich zur Schau getragene politische Sensibilität und den selbstgefälligen Moralismus vonseiten einiger Kulturinstitutionen scheinheilig. Wie die deutsche Wirtschaft habe auch der Klassik-Jet-Set jahrelang auf China gesetzt und es als 'Boom-Standort' verklärt."

Weitere Artikel: Christina Rietz denkt in ihrem VAN-Kommentar darüber nach, ob die Strategie der Kirchen, mit jugendlicherer Musik dem (vom Perlentaucher natürlich begrüßten) Publikumsschwund in den Gotteshäusern entgegen zu wirken, tatsächlich aufgeht. Felix Linsmeiser erklärt im VAN-Magazin, was es mit der Wiederentdeckung der Komponistin Florence Price auf sich hat. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker in dieser Woche über Minna Keal (hier) und über Matilde Capuis (dort). Wolf Biermann ist nach Rom gereist, entnehmen wir Christian Schuberts Bericht in der FAZ.

Besprochen werden das Comeback-Album von Marc Almonds Soft Cell (der Platte fehle "der Charme der hoppertatschigen Klänge der Gründerzeit", seufzt Christian Schachinger im Standard), das neue Album von Sharon Van Etten (ZeitOnline), Tourajs Album "Me, without you, the spring, without you" (taz), ein Auftritt von Sam Fender (NZZ) und das neue Album von Spiritualized (Standard). Wir hören rein:

Archiv: Musik