Efeu - Die Kulturrundschau

Die intellektuelle Unfallgefahr

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02.05.2022. In der FAZ erkennt Viktor Jerofejew im Draufgängertum der Fernfahrer ein Russland, das sich keiner Schuld bewusst ist. Dänemark ist entsetzt über die Zerstörung eines Kunstwerks, das ein Kunstwerk zerstörte, berichtet Politiken. Die Ruhrbarone lassen in der Diskussion um die BDS-Nähe der Documenta nicht nach. Die FR feiert Berlioz' Oper "Béatrice et Bénédict" als Wunderwerk. Die SZ offenbart ihre Liebe zum guten alten Gasteig. Ben Frosts Oper "Der Mordfall Halit Yozgat" jagt der Nachtkritik Kälteschauer über den Rücken.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.05.2022 finden Sie hier

Kunst

Asger Jorns "Das verstörende Entlein", jetzt signiert von Ibi Pippi. 

Dadaismus oder Rechtsradikalismus? Bisher nur in dänischen Medien finden sich Berichte über einen Akt der Zerstörung im Museum Jorn in Silkeborg: Die Aktionskünstlerin Ibi-Pippi Orup Hedegaar hat das Bild "Das verstörende Entlein" des Situationisten Asger Jorn übermalt und mit ihrer eigenen Signatur versehen, berichtet Politiken: "Asger Jorn schuf das Werk 1959, indem er ein Gemälde übermalte, das er auf einem Flohmarkt gekauft hatte. Jorns Entenküken funktioniert nur wegen des Hintergrunds, sagt Ibi-Pippi Orup Hedegaard, die mit ihrem Vandalismus eine Diskussion über die Rechte an Kunstwerken anstoßen will. 'Viele Leute denken, dass Jorn der Eigentümer ist, aber ich bin da ganz anderer Meinung', sagt sie und fügt hinzu: 'Es geht nicht um das rechtliche, sondern um das künstlerische Eigentum. Jorn hatte das Werk gekauft und damit das rechtliche Recht an dem Bild, aber er hatte nicht das künstlerische Recht, das Werk eines anderen Künstlers zu löschen. Genauso wenig wie ich das Recht habe, sein Werk auszulöschen.' Ibi-Pippi Orup Hedegaard wurde landesweit bekannt, als sie sich 2015 einer legalen Geschlechtsumwandlung von einem Mann zu einer Frau unterzog, ohne sich körperlich verändern zu wollen."

Der Politologe Lukas Slothuus sieht den Anschlag auf Jorns Werk in einem  Twitter-Thread als eine rechtsextreme Tat. "Der vandalistische Tat wurde per Livestream von der Organisation 'Patrioterne Går Live' ('Patrioten gehen live') übertragen, einer Abspaltung der offen rassistischen Partei Stram Kurs I."

Thomas Wessel kann es bei den Ruhrbaronen nicht fassen: Die bevorstehende Documenta 15, die wegen BDS-Nähe einiger Akteure seit Monaten in der Kritik steht, kündigt zu diesem Thema drei Diskussionen an. Aber den Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, hat sie selbst auf sein Drängen nicht anhören mögen. Bei den nun geplanten Diskussionen der Documenta sind gut und gerne 50 Prozent der Teilnehmer entweder BDS-nah oder BDS-Verteidiger hat Wessel hier nachgezählt. Wessel wundert sich über Claudia Roth, die eine klare Auseinandersetzung angekündigt hatte: "Keine Rückfrage an eine Documenta-Leitung, die den Zentralrat der Juden monatelang abserviert wie eine lästige Junkmail? Sollte es für Claudia Roth tatsächlich denkbar sein: dass die Bundesrepublik einen Talk finanziert über Judenhass in Deutschland, ohne dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland beteiligt wäre? Stattdessen 50 Prozent BDS? Der über 'anti-palästinensischen Rassismus' informiert?"

In der Welt staunt Marcus Woeller über die "Kaltschnäuzigkeit", mit der die Documenta "Kritik abblockt und dem eigenen Weltbild hinderliche Anschauungen nicht anhört. Warum etwa wird der Vorwurf, antisemitische oder antiisraelische Positionen zu befördern, nicht endlich faktisch ausgeräumt? Stattdessen wird die Kritik egalisierend gekontert, auch 'pauschalisierenden Aussagen über Menschen muslimischen oder sonstigen Hintergrundes' wolle die Documenta 'keine Bühne' geben. Zudem irritiert, wie reflexhaft die politisch Verantwortlichen die unwürdige Kommunikation der Documenta in Schutz nehmen."

Hier der Link der Documenta zu den geplanten Diskussionen "We Need to Talk": "Das Gespräch geht der Frage nach, inwiefern deutsches und internationales Antisemitismus- und Rassismus-Verständnis divergieren. In Deutschland hat sich im Bewusstsein seiner historischen Verantwortung eine besonders sensibilisierte diskursive Kultur entwickelt..."  Allerdings berühren nur zwei der drei geplanten Diskussionen das Thema Antisemitismus. Die dritte Diskussion stellt die Frage: "Was ist anti-muslimischer und anti-palästinensischer Rassismus?" In seinem Brief an Claudia Roth hatte Schuster laut dpa geschrieben: "Mehrfach haben wir darum gebeten, hier als Dachverband der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland mit unserer Expertise eingebunden zu werden... Auch aus Ihrem Haus wurden wir bedauerlicherweise nicht über den weiteren Fortgang informiert."

Weiteres: In der SZ berichtet Joseph Hanimann, dass sich der Louvre nach einer kritischen Revision von der Illusion verabschiedet, den größten Schatz an Zeichnungen von Giorgio Vasari zu besitzen: "Einwandfrei als aus Vasaris Sammlung kommend können heute weltweit kaum mehr als 30 Blätter angesehen werden. Die Beweislast hat sich umgedreht."
Archiv: Kunst

Literatur

Mit dem Auto von Moskau nach Finnland, mit der Fähre ins Baltikum und schließlich nach Deutschland, so ging die Route, die der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew gewählt hat, um sein Heimatland zumindest fürs Erste, wahrscheinlich aber endgültig zu verlassen - weil er mit seinem Land nichts mehr zu tun haben will und weil er fürchtet, dass sich die letzten Schlupflöcher bald schließen könnten: "Die Fernfahrer bretterten verwegen und fröhlich über die Piste", erzählt er in der FAZ. "Mit Mühe die Fahrspur ausmachend, erkenne ich in dieser Keckheit der Fernfahrer Russland, das sich keiner Schuld bewusst ist. Es ist Krieg, doch über dem Land liegt Bewusstlosigkeit über das, was sich ereignet. Ich fuhr durch ein Russland, das nicht fähig ist, sich zu entschuldigen, da es nicht weiß wofür. Der Zorn der Europäer macht die Russen im besten Fall zu schuldlos Schuldigen. In Wahrheit ist Russland ein draufgängerischer Fernfahrer." Dlf (hier) und Dlf Kultur (dort) haben sich vor wenigen Tagen mit Jerofejew unterhalten.

Gustav Seibt widmet sich in der SZ dem Trend zu Büchern über historische Jahre, wobei sich der Fundus an noch nicht Beackertem hier langsam neigt. Was reizt an diesem Konzept "Zunächst ist es eine offene Form, die fast beliebige Füllung erlaubt. Der abgesteckte Zeitraum eines Jahres wird zur Wundertüte", denn "Jahresbücher funktionieren wie 365 Tage lange Zeitungen, samt Sportteil und Vermischtem. Das ist bunt und unterhaltend. Es begrenzt den Stoff aber auch, bei vollkommener Freiheit der Quellenverwendung." Und dann "lässt die wundersam zusammenstimmende Gleichzeitigkeit fast etwas wie einen geheimen Weltplan aufscheinen: Achsenzeiten und Schwellenjahre!" Dabei ist allerdings "die intellektuelle Unfallgefahr hoch".

Weitere Artikel: Die NZZ bringt eine neue Folge aus Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw. In der FAS erzählt die ukrainische Schriftstellerin und Regisseurin Iryna Tsilyk von ihrer Flucht aus Kiew - und ihrer erneuten Rückkehr in ihre Heimatstadt. In Zeit berichtet Maxim Biller von einem gemeinsamen Essen mit dem Aktivisten und Autor Yascha Mounk. Arno Widmann (FR), Paul Jandl (NZZ) und Marc Reichwein (Welt) erinnern an Novalis, der vor 250 Jahren geboren wurde. Beim Dlf Kultur gibt es dazu eine "Lange Nacht".

Besprochen werden unter anderem Djaïli Amaodu Amals "Die ungeduldigen Frauen" (taz), David Diops "Reise ohne Wiederkehr" (Standard), Bora Ćosićs "Operation Kaspar" (Freitag), Julia Zejns Comic "Andere Umstände" über eine Abtreibung (Tsp), Stewart O'Nans "Ocean State" (ZeitOnline), Peter Handkes "Innere Dialoge an den Rändern" (Standard), Kathy Ackers "Bis aufs Blut" (Dlf Kultur), Eckhart Nickels "Spitzweg" (Tsp, Welt), Frida Nilssons Kinderbuch "Sommer mit Krähe (und ziemlich vielen Abenteuern)" (online nachgereicht von der FAZ) und Riku Ondas Krimi "Die Aosawa-Morde" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus Béatrice et Bénédict. Foto: Hans-Jörg Michel

In der FR versteht Judith von Sternburg, warum die deutschen Bühnn so selten Berlioz' Wunderwerk "Béatrice et Bénédict" spielen, mit dem ihr die Kölner Oper ein "delikates Hörerlebnis" bescherte: "Die weder lange noch umständlich umzusetzende, sehr komische, unmittelbar wirkungsvolle Oper hat nur eine einzige Tücke, französische Dialoge von flotter Länge, die andererseits ein fittes Ensemble von heute nicht mehr in Verlegenheit bringen. Berlioz' letztes Bühnenwerk, 1862 in Baden-Baden uraufgeführt, ist musikalisch nicht weniger interessant als seine 'Troyens', das Tragische wendet sich hier nur ins Heitere und Abgeklärte, aber was heißt hier 'nur'. Komisch bis ins Alberne und dabei noch weise zu sein, ist auch in der Musik eine hohe Kunst, und 'Béatrice et Bénédict' ist für Berlioz, was für Verdi 'Falstaff' ist."

Szene aus "Der Mordfall Halit Yozgat". Foto: Sandra Then


Zu recht quälend und ermüdend findet Jan Fischer in der Nachtkritik Ben Frosts Oper "Der Mordfall Halit Yozgat" nach der Recherche "77sqm_9:26min" von Forensic Architecture am Staatstheater Hannover, die den Tathergang des NSU-Mordes in Kassel und die Verwicklung des Verfassungsschutzes darinzu rekonstruieren versucht: "Im Gerichtsverfahren konnte nie eindeutig geklärt werden, wer Yozgat ermordet hat. Und auch Ben Frost hat das natürlich nicht vor. Vielmehr schält er in 'Der Mordfall Halit Yozgat' ganz buchstäblich Schicht für Schicht der Geschichte ab - so lange, bis da eben nur noch Kälte ist, der Wind, der Schnee, das Bühnenpersonal im eisigen Wind zittert und die bedrohlichen Gestalten aus der Kälte auftauchen. Aus der forensischen Rekonstruktion wird mit jedem Durchgang ein Stück mehr die Frage nach dem Kontext des Mordes, nach Rassismus in der Gesellschaft, vielleicht, die Frage nach denen, die dahinterstehen und ihren Netzwerken."

Besprochen werden außerdem Andreas Homokis "Rheingold"-Inszenierung am Zürcher Opernhaus, (die NZZ-Kritiker Christian Wildhagen zufolge auf jedeDeutung verzichtet, währen Gianandrea Noseda "angenehm zivilisiert" dirigiere), Barrie Koskys Verdi-Inszenierung "Falstaff" an der Komische Oper in Berlin (ein Triumph, jubelt Frederik Hanssen im Tsp, für Peter Uehling in der BlZ fühlt es sich allerdings mitunter an, als würden ihm "gewaltsam die Mundwinkel hochgerissen"), Christopher Rüpings Adaption von Mieko Kawakamis Roman "Brüste und Eier" am Hamburger Thalia Theater (Nachtkritik, SZ), Antigone Akgüns Diskursstück ""Leer/Stand - Der Brotladen oder: Wem gehört der Stadtraum?" am Bremer Stadttheater (taz), Martin Schläpfers Choreografie "Die Jahreszeiten" und Mette Ingvartsens "The Dancing Public" im Wiener Tanzquartier (Standard) und die Uraufführung von Johannes Kalitzkes Oper "Kapitän Nemos Bibliothek" in Schwetzingen (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Can Dündar erklärt auf ZeitOnline, was es mit der Serie "Teşkilat" auf sich hat, die im türkischen Staatsfernsehen gerade mit großem Erfolg läuft. Dabei handelt es sich um "eine Art Promotionserie für den türkischen Nachrichtendienst", wenn darin türkische Agenten etwa in Deutschland rechtsradikale Mörder aus den Neunzigern jagen, die mittlerweile ihrerseits im deutschen Geheimdienst arbeiten. "Mit versteckten oder auch ganz offenen Botschaften lenken die Regierungsmedien die Öffentlichkeit, machen Regimegegner zur Zielscheibe oder geben Hinweise auf diplomatischer Ebene", erklärt Dündar zur Funktion, die solche Serien in Erdogans Politik erfüllen. "Es klingt kindisch, doch dieses Heldenepos ist imstande, bei einem Teil des Publikums, das aufgrund der Wirtschaftskrise nicht genug zu essen auf dem Tisch hat und im Dunkeln sitzt, um Strom zu sparen, das Gefühl auszulösen, immerhin sei 'unser Geheimdienst' stark. Reicht das aber aus, Erdoğan die Wahlen gewinnen zu lassen?"

Außerdem: Dominik Kamalzadeh resümiert im Standard das auf den osteuropäischen Film spezialisierte Festival "Crossing Europe" in Linz. Michael Ranze verneigt sich im Filmdienst vor dem französischen Schauspieler Serge Reggiani, der vor 100 Jahren geboren wurde. Besprochen wird die Apple-Serie "Severance" ("das stille Serien-Highlight des Jahres", schreibt Titus Blome auf 54books).
Archiv: Film

Musik

München sollte dem bis auf weiteres verschobenen, wahrscheinlich aber wohl endgültig abgeblasenen Bau des neuen Konzerthauses nicht weiter hinterhertrauern, sondern in Zukunft etwas mehr auf den in ein paar Jahren hoffentlich sanierten Gasteig halten, meint Laura Weißmüller in der SZ. Abriss und Neubau wären ja schon aus Klimaschutzgründen Wahnsinn gewesen, schreibt sie. Der fürs Gasteig eingereichte Sanierungsentwurf hingegen lässt sie hoffen, zumal der legendär umstrittene Konzertsaal nun unter Mitarbeit von Yasuhisa Toyota grunderneuert werden soll: "Die Ränge sollen steiler gestellt und der Saal mit vielen Reflektionsflächen ausgestattet werden. Außerdem wird das Orchester mehr in die Mitte geschoben, und die Decke bekommt einen Sternenhimmel, der die Aufgabe eines riesigen Akustiksegels übernimmt." Zudem könnten die Infrastruktur für gleich zwei Münchner Orchester geschaffen werden, die Münchner Philharmoniker und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Dabei "geht es um so etwas wie das Erstbelegungsrecht, darum, wer repräsentative Konzerte wie das an Silvester oder an Neujahr spielen darf. Es geht also darum, wer sich als Gast und wer als Hausherr fühlen darf. Das haben die beiden Weltklasseorchester im Gasteig jahrzehntelang hinbekommen."

Weitere Artikel: Jonathan Fischer berichtet in einer Reportage für ZeitOnline von einem vom Goethe-Institut ausgerichteten Talentwettbewerb in Senegal. Dagmar Leischow spricht in der taz mit der US-Sängerin Bonnie Raitt, die bei den Grammys für ihr Lebenswerk geehrt wurde. Im Tagesspiegel porträtiert Louisa Zimmer die Berliner Popmusikerin Mia Morgan. Amira Ben Saoud resümiert im Standard den Auftakt des Donaufestivals in Krems, wo Arca mitunter die Peitsche knallen ließ. Barbara Volkwein zeigt sich in der NMZ überzeugt vom Relaunch von miz.org, der digitalen Wissensplattform des Deutschen Musikrats. Christian Schachinger sortiert in einer kleinen Standard-Notiz die Lage des politischen Liedes. In der NMZ ärgert sich Theo Geißler über die ausbaufähige Musikberichterstattung im ZDF.

Besprochen werden der Berliner Auftritt des gerade durch Deutschland tourenden Sinfonieorchesters Kiew (FAZ), ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko (Tsp) und ein gemeinsames Album von Ry Cooder und Taj Mahal (Standard).
Archiv: Musik