Efeu - Die Kulturrundschau

Bis auf Hüfthöhe

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29.04.2022. Die taz untersucht den Einfluss russischer Oligarchen auf den österreichischen Klassikbetrieb. Die NZZ unterhält sich mit dem ukrainischen Autor Sergei Gerasimow über die Angst, im Krieg jemanden anzurufen, der vielleicht nie mehr antwortet. Wenn man in Cannes Michel Hazanavicius' Zombiekomödie "Z" in "Coupez" umbenennen will, muss dann Zorro künftig Sorro heißen, fragt die Welt entnervt. Die FAZ entdeckt im Städel Museum das Figürliche in der amerikanischen Nachkriegskunst.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.04.2022 finden Sie hier

Musik

Uwe Mattheiss fasst in der taz die Recherchen von Axel Brüggemann zum Filz insbesondere des österreichischen Klassikbetriebs mit russischem Oligarchengeld zusammen. Doch "die Frage, warum gerade gut dotierte Kulturinstitutionen, ausdrücklich unterstützt oder zumindest geduldet von der Politik, für stupid money aus einem autokratischen Regime empfänglich sind, stellt sich nicht erst mit der russischen Invasion. War es die Idee einer besonderen Beziehung zu Russland, die im neutralen Österreich aus Zeiten des Kalten Kriegs immer noch präsent ist, oder ganz einfach nur der Betriebsunfall einerschleichenden Ökonomisierung des Kulturbetriebs? Wenn privates Geld öffentlich finanzierte Institutionen für seine Zwecke zu kapern droht, entsteht nicht nur ein Problem für Kultur und Moral, sondern eines für die Demokratie."

Die Feuilletons liefern die Nachrufe zum Tod von Klaus Schulze, den wir gestern morgen bereits gemeldet hatten. Wenn der Elektro-Pionier und Synthesizer-Hexenmeister in den frühen Siebzigern vor seinen sich aufwölbenden Instrumentetürmen saß, sah man einen "sanften, fast kindlichen Hippie vor wildem Kabelgewirr", schreibt Thomas Kramar in der Presse. "Schulz hatte als Erster den Rubikon zur konsequenten Sphärenmusik überschritten", würdigt Stefan Trinks in der FAZ den Verstorbenen. "Ein besonderes Vermögen Schulzes war die sanfte Synästhesie. Wenn dem Tag die Augen gehören, der Nacht hingegen die Ohren, musste man bei dem immer mit bildhaften Klängen 'malenden' Schulze nur kurz die Augen schließen - schon bewegten sich vor dem inneren Sehorgan Farbgeometrien wie Amplituden auf und ab oder rotierten, feuerwerksgleich, Kreise und Lichtblumen."

Für Uwe Schütte auf ZeitOnline ist Klaus Schulze viel eher als Erfinder der elektronischen Popmusik anzusehen als etwa Kraftwerk. Was diesseits der Geschichte wie "New-Age-Gedudel" anmutet, war seinerzeit "ungeheuerlich neu, fremdartig und aufregend". Und was Schulze und Co. damals "im Sinn hatten, darf man durchaus als Versuch einer Entnazifizierung mit den Mitteln der Musik verstehen. … Zeitlebens blieb Schulze der emanzipativen Überzeugung treu, dass der Synthesizer eine universelle Musikmaschine darstellt, die alle Beschränkungen von Zeit, Ort und sozialen Grenzen zu überwinden vermag. Für Schulze kam der elektronischen Musik die künstlerische Aufgabe zu, eine Brücke zwischen menschlichem Geist und Universum zu schlagen, jenseits von Traum und Halluzination."

Weitere Artikel: Jeffrey Arlo Brown spricht für das VAN-Magazin mit dem Trompeter Håkan Hardenberger, der kürzlich 60 Jahre alt geworden ist. Irene Suchy hat für VAN den Bratschisten Hatto Beyerle besucht. Im Standard porträtiert Amira Ben Saoud die Newcomerin Oska. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker in dieser Woche hier Franziska Lebrun und dort Margaret Bonds. Und Olivia Giovetti präsentiert im VAN-Magazin den Mix der Woche.

Besprochen werden das Berliner Konzert des Sinfonieorchester Kiews (Tsp), die Wiederveröffentlichung des Associates-Album "Sulk" aus dem Jahr 1982 (taz), das neue Rammstein-Album "Zeit" (SZ, Welt) und ein von Lorenzo Viotti dirigiertes Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich (NZZ).
Archiv: Musik

Kunst

Chuck Close, Selbstporträt, 1999. Städel Museum, Frankfurt am Main. © Chuck Close, courtesy Pace Gallery


So absolut abstrakt wie man immer denkt war die amerikanische Nachkriegskunst gar nicht, lernt ein überraschter Stefan Trinks (FAZ) in der Grafikausstellung "Into the New. Menschsein: Von Pollock bis Bourgeois" im Frankfurter Städel Museum: Sie "offeriert unzählige Bilder vom Menschen, vielleicht gerade als Ausgleich zu den parallelen abstrakten Großformaten in der Malerei. ... Natürlich hatte es mit Chuck Close oder Jim Dine stets Künstler gegeben, die durch die Jahrzehnte hindurch am Figurativen festhielten. Doch auch bei Close' gepixeltem 'Selbstbildnis' aus dem Jahr 1999 lässt sich ersehen, wie mathematisch exakt und damit abstrakt der Künstler jedes Kästchen seines in Quadraten parzellierten Antlitzes errechnet hat. Und umgekehrt schälte sich in einem merkwürdigen Überkreuzungsprinzip auch bei Kern-Abstrakten wie Pollock oder Jasper Johns in der Forschung der letzten Jahre immer mehr heraus, wie sehr sie zeitlebens am Menschenbild festhielten. Nicht nur offenbaren Pollocks Drippings bei längerem Hinsehen stets Figürliches, es finden sich darüber hinaus gar Agglomerationen von Leibern und Knäuel tanzender Menschen."

Fürs Gallery Weekend in Berlin empfiehlt Laura Storfner im Tagesspiegel einen Abstecher zur Ausstellung von Joan Jonas in der Galerie Heidi, Joana Nietfeld, Joana Nietfeld empfiehlt Ser Serpas in der Galerie Barbara Weiss und Gunda Bartels sah Kyriaki Gonis dystopische Videokunst im Kunstverein Ost. Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Wirtshaussterben? Wirtshausleben!" im Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg (FAZ)
Archiv: Kunst

Literatur

Im neuen Eintrag seines Kriegstagebuchs in der NZZ erzählt Sergei Gerasimow von den Tannen, die er im vom Wasser abgeschnittenen Charkiw gepflanzt hat und verströmt Zuversicht: In ein paar 100 Jahren "werden sie achtzig Meter hoch sein, das ist fast so hoch wie ein zwanzigstöckiges Gebäude. Dann wird sich niemand mehr an Putin erinnern, außer ein paar öden Historikern, aber meine Tannen, die jetzt kürzer noch als ein Streichholz sind, werden leben und gedeihen." Auch die ganz neue Folge des Kriegstagebuchs steht schon online. Außerdem spricht die NZZ mit Gerasimow über seine aktuelle Lage. In Charkiw verbessere sich demnach zwar die Versorgungslage, auch wenn es zuweilen tagelang kein Wasser gibt. Die Angst bleibt dennoch, "wenn die Explosionen zu nah sind. Ich habe natürlich immer Angst, dass Menschen, die ich liebe, verletzt werden könnten. Ich habe Angst vor Atombomben und chemischen Waffen. Ich habe immer Angst, wenn ich jemanden anrufe und am anderen Ende niemand den Hörer abnimmt."

Im deutschen Zeitgeist herrsche eine "Bindestrichphobie", die eine "Bindestrichabstinenz" nach sich ziehe, mahnt Rainer Moritz vom Literaturhaus Hamburg in der FAZ die Öffentlichkeit und erklärt damit das Sommerloch in diesem Jahr schon vor dem Mai für eröffnet. Zur besseren Verständlichkeit vom Duden geduldete Schreibweisen wie "Lotto-Annahmestelle" mutieren im Übermut des "anything goes" zu "Zauber Gewürz", "Spargel Salat" und "Frühlings Eisbecher", sogar im belesenen Kulturbetrieb grassiert die Unsitte ("S. Fischer Verlag"). Aber "vielleicht signalisiert die Scheu vor dem Bindestrich ja den Zustand unserer Gesellschaft: Wo ein Riss durch die Bevölkerung geht, wir übers Fehlende von Gemeinsamem und Verbindendem klagen, da täte uns der Bindestrich gut. Ihn zu setzen würde die Zerrissenheit in unserem Land mildern. Manchmal verweisen Rechtschreibprobleme offenbar auf größere Probleme."

Weitere Artikel: Daniel Haas freut sich in der FAZ darüber, wie buchstäblich nüchtern und nötig spröde, aber dennoch nicht ohne genau erkundete Wortwahl der auf haarsträubende Herausforderungen spezialisierte Übersetzer Ulrich Blumenbach den Broschürenklassiker für Drogensüchtige, den "Basic Text" der Narcotics Anonymous, ins Deutsche übertragen hat. Außerdem verrät uns der Sozialphilosoph Axel Honneth, was er früher gerne las und heute gerne liest.

Besprochen werden unter anderem Richard Wrights "Der Mann im Untergrund" (Perlentaucher), Sven Hanuscheks Arno-Schmidt-Biografie (online nachgereicht von der FAZ), Reid Kikuo Johnsons Comic "Kein anderer" (Tsp) und Peter Handkes "Innerer Dialog an den Rändern" (Dlf Kultur).
Archiv: Literatur

Architektur

Zimmer im Wilmina in der Kantstraße. Foto: Grüntuch und Ernst Architekten


In der FAZ begeistert sich Michael Mönninger für den Umbau des ehemaligen Gerichtsgefängnisses an der Berliner Kantstraße, das die Architekten Grüntuch & Ernst in ein Hotel- und Ausstellungszentrum verwandelt haben. Ein "funkelndes Stadtjuwel" ist es geworden, versichert Mönninger. "Um die Wucht der meterdicken Mauern, düsteren Korridore und engen Durchgänge zu mildern, schälten die Architekten alles heraus, was den Lichteinfall behinderte. Radikal an die Substanz gingen sie bei den Zellenfenstern, die nun den Eindruck erwecken, als sei hier die Kunst ins Leben getreten, die der amerikanischer Bildhauer Gordon Matta-Clark seit 1960 beim gewaltsamen Zerschneiden von Altbauten praktiziert hatte. Mit Einverständnis des Denkmalamtes ließen die Bauherren die knapp hundert Oberlichtfenster in den Zellen mehr als doppelt so groß aufbrechen; Bauarbeiter schnitten mit Diamant-Kettensägen die Laibungen bis auf Hüfthöhe herunter. Der Effekt ist umwerfend".

Besprochen wird Greg Woolfs Band "Metropolis" über Aufstieg und Niedergang antiker Städte (NZZ).
Archiv: Architektur

Bühne

Szene aus "Beyond Caring". Foto: Gianmarco Bresadola


"Beyond Caring" von Alexander Zeldin hätte toll sein können und ist es in Momenten auch, schreibt Nachtkritiker Christian Rakow nach der Aufführung an der Berliner Schaubühne. Zeldin erzählt von einer Putzkolonne in einer Fleischfabrik, "eine wunderbar unterspielte, durch und durch gedämpfte Milieuansicht, mit Personen, denen der große dramatische Aufschwung nicht vergönnt ist. Die einfach so ihr Leben ausbreiten, undeutlich und unzusammenhängend. Am unteren Ende der langen Nahrungskette, im Niedrigstlohnsektor unter Neonröhren." Doch dann "beginnt der Abend sein diskretes Konzept zu verraten. Aus heiterem Himmel fallen Schuberts Trotzkopf Becky und Schulzes Leseratte Michael übereinander her und rammeln einen Quickie an die schmuddelige Fliesenwand." Warum plötzlich dieser "abgegriffene Realismus"? Rakow erschließt es sich nicht.

Besprochen wird außerdem Tom Stoppards Geschichtsdrama "Leopoldstadt", das Janusz Kica am Theater in der Josefstadt in Wien inszeniert hat (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Film

Hanns-Georg Rodek von der Welt rollt genervt mit den Augen: Das Filmfestival von Cannes hat nach Protesten aus der Ukraine darauf gedrängt, dass der Eröffnungsfilm, Michel Hazanavicius' Zombiekomödie "Z (Comme Z)", in "Coupez" umbenannt wird, um wegen des Buchstaben "Z" reifende Assoziationen zur russischen Kriegspropaganda zu unterbinden. "Zwischen einer französischen Zombiekomödie mit 'Z' im Titel und der Unterstützung eines Angriffskriegs liegen Welten, das ist westlich von Kaliningrad jedermann klar. In Frankreich lautet die Bezeichnung für B-Filme 'Série Z', sollen die Franzosen sie nicht mehr gebrauchen? Sollen sie Zorro in Sorro umbenennen und Costa-Gavras' antimilitaristischen Filmklassiker 'Z' ins Archiv verbannen?"

Außerdem: Dominik Kamalzadeh porträtiert im Standard die Komikerin Meltem Kaptan, die mit Andreas Dresens "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" gerade ihren Durchbruch als Schauspielerin hat. Sebastian Seidler denkt im Filmdienst über die Filme von Gaspar Noé nach, dessen aktuellen Film "Vortex" aktuell Tagesspiegel, Filmbulletin und die Welt besprechen (mehr dazu bereits hier).

Besprochen werden Jonas Mekas' "New York Diaries" (SZ), die SF-Western-Serie "Outer Range" mit Josh Brolin (FAZ), Florence Miailhes Animationsfilm "Die Odyssee" (taz), Lukas Rinkers "Ach du Scheiße!" (critic.de), "Downtown Abbey 2" (Standard), die zweite Staffel der Serie "Russian Doll" (Freitag) und die Apple-Serie "Shining Girls" (taz).
Archiv: Film

Design

Angelica Blechschmidt, Nachtblaues Satinkleid, Chanel, H/W 2004, MK&G, Foto: Anne Schönharting


"Dressed - 7 Frauen - 200 Jahre Mode" heißt die aktuelle Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Sie "erzählt in Baumwolle, Seide oder Leder gearbeitete Geschichte der Mode selbst, aber auch der Frauen und ihrer Schicksale", schreibt Niklas Berger in der taz. Das Spektrum reicht von höchst repräsentativer Mode bis zu "echtem Individualismus: Ines Ortner entwarf und fertigte ihre Outfits selbst; unter dem Nom de guerre 'Rapunzel' ist sie im Hamburger Punk und Theater in den 1980er-Jahren bekannt geworden. Ein Minirock, der von Weitem noch wie ein Kettenhemd anmutet, entpuppt sich aus der Nähe als zusammengesetzt aus Bierdosen-Aufrisslaschen. Ortners Kleidung widerstrebt der Ästhetik des Establishments, sucht die Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Normen - dass sie genau damit Mainstream-Trends inspiriert haben könnte, gehört zum besonderen Charakter der Mode."
Archiv: Design