Efeu - Die Kulturrundschau

Vor allem schönes Wortgeklingel

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26.04.2022. Ein bisschen öde findet die SZ, dass die Goldenen Löwen der Biennale wieder vor allem an die imperialistischen Nationen gingen. Die NZZ berichtet, wie die polnische PiS-Regierung gegen modernes Theater in Krakau Sturm läuft. Die FR wünscht sich einen modernen Regionalismus im Bauen. Die Welt kann sich nicht vorstellen, wie der Klassikbetrieb klimaschonender werden könnte. Der Tages-Anzeiger ahnt angesichts schwindender Streaming-Abos, dass es bald Werbung auf Netflix geben könnte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.04.2022 finden Sie hier

Kunst

Katharina Fritsch: Elefant (1987) Foto: Biennale


Regelmäßig werden die nationalen Pavillons auf der Biennale von Venedig für obsolet erklärt, aber wenn dann die Goldenen Löwen vergeben werden, ist die Aufregung groß, weiß Peter Richter inzwischen in der SZ. Diesmal gingen die Trophäen an den von Sonia Boyce gestalteten britischen Pavillon, an die Amerikanerin Simone Leigh als beste teilnehmende Künstlerin sowie an die Deutsche Katharina Fritsch und die Chilenin Cecilia Vicuña für ihre Lebenswerke: "Meldungen, wonach 'die Biennale' hier in erster Linie 'schwarze Künstlerinnen' habe ehren wollten, stellt Fragen von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht auf den ersten Blick vielleicht ein bisschen arg über die Qualität ihrer künstlerischen Beiträge. Zumal es an hochklassiger Kunst gerade von schwarzen Frauen aller möglichen Herkünfte und Staatsangehörigen bei dieser Biennale auch sonst nicht mangelt. Dass auf diese Weise aber nun mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten ausgerechnet gleich zweimal der Inbegriff dessen triumphiert, was früher mal als imperialistische Nation galt, ist eine Pointe, wie sie auch nur die Miniaturweltgemeinschaft von Venedig so hübsch hinkriegt." Monopol versammelt Stimmen zum deutschen Pavillon.

Besprochen werden die beiden Klimt-Ausstellung in der Albertina Modern und der Marx Halle in Wien (die mit all ihrem Gold und Schnörkel bei Standard-Kritiker Amira Ben Saoud ein gefährliches Gefühl der Übersättigung erzeugen: "Man kann sich ja auch nicht unendlich viele Mozartkugeln hineinstopfen.") die Ausstellung "Kunst und Medizin" im Kunsthaus Zürich (NZZ), André Thomkins' Ausstellung "Kopfarbeit - Handarbeit, Tag und Nacht" in der Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin (FAZ).
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Film

Sehr beeindruckend ist Daniel Rohers BBC-Film über Alexej Nawalny, versichert Phil Harrison im Guardian. Und beeindruckend sind auch die Szenen, in denen sich Nawalny noch als ein freier Mann bewegt: "Für Nawalny sind die sozialen Medien eine Waffe und ein Schutzschild. Als er und seine Frau Yulia beispielsweise das Flugzeug besteigen, das sie nach Moskau zurückbringt, ist er eher erleichtert als irritiert, von einem Wald filmender Telefone begrüßt zu werden. Wenn man sich einem Regime widersetzt, das seine Taten in Dunkelheit hüllt, kann es nicht zu viel Licht geben." Der Film ist bisher in Deutschland offenbar noch nicht zu sehen.

Bei Netflix herrsche "Feueralarm", kommentiert Pascal Blum im Tages-Anzeiger. Grund für die Hektik: Statt prognostizierter zwei Millionen mehr Abos sank die Zahl zuletzt um 200.000. Nun kommen Maßnahmen: Passwort-Sharing soll erschwert werden, das Budget für Produktionen soll sinken. Die für Mai angekündigte vierte Staffel von "Stranger Things" kommt laut Cosmopolitan im übrigen dennoch mit 30 Millionen Budget - pro Episode, wohlgemerkt. Und: "In nächster Zeit prüft Netflix zudem die Einführung eines Abos mit Werbeunterbrechungen - obwohl der Dienst stets beteuerte, er werde das nie tun." Das klingt "wie eine schlechte Pointe. Streaming war immer auch ein Versprechen: kein Glotzen und Zappen, keine nervtötenden Werbeblöcke. Stattdessen ein bisschen Distinktionsgewinn, indem man seine Lieblingsserie findet oder ignoriert, was andere gut finden."

Besprochen werden die auf Netflix gezeigte Dokuserie "Our Great National Parks", durch die ein barfüßiger Barack Obama führt (TA), Sylvie Ohayons "Haute Couture" (SZ), Will Sharpes "The Electrical Life of Louis Wain" mit Benedict Cumberbatch (SZ) und die auf Sky gezeigte Polizeiserie "We Own The City" (FAZ).
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Literatur

Timo Posselt spricht in der SZ mit der belarussischen Schriftstellerin Volha Hapeyeva, die von ihrem Aufenthalt als Stadtschreiberin in Graz 2020 wegen der unhaltbaren Zustände in ihrem Land nicht mehr nach Hause zurückgekehrt ist und sich nun als Stipendiumsnomadin im westeuropäischen Exil durchschlägt. "Für den Moment wohne ich jetzt hier in München, aber ich mache keine Pläne mehr und lebe von heute auf morgen", erzählt sie und spricht im weiteren über die Sicherheit von Hab und Gut und dem Gefühl, eine feste Heimat zu haben: "Das Leben, das ich jetzt führe, lehrt mich auch, dass ich das nicht wollen muss. Jeder Ort kann potenziell meiner sein. Wenn die Menschen glauben, dass sie mit einer Eigentumswohnung einen Ort für sich haben, ist dies eine Illusion. Ein Feuer, der Bankrott, ein Regimewechsel kann einem alles schnell wieder nehmen. Am Materiellen festhalten zu können, ist beruhigend. Aber ich habe gelernt, diese Illusion aufzugeben."

Paul Ingendaay hat sich für die FAZ im spanischen Literaturbetrieb umgesehen, wo die Autoren schon allesamt mit den Füßen scharrend die Entscheidung erwarten, wer von ihnen alles im Herbst zur Frankfurter Buchmesse kommen darf. Erst am 9. Juni wird die Liste bekannt gegeben, "ein Blick ins Programm des Gastlandauftritts belehrt über die fünf Auswahlkriterien: 'Bibliodiversität', Innovation, sprachlicher Pluralismus, Geschlechterparität und Nachhaltigkeit. Daraus geht schon einmal hervor, dass Frauen und Männer gleich stark vertreten sein dürften. In welchem Verhältnis man aber die vier offiziellen Sprachen des Landes repräsentiert - Spanisch, Katalanisch, Baskisch, Galicisch -, woran man Innovation messen könnte, was an Literatur 'nachhaltig' sein soll und so weiter: Wie entscheidet man das? Natürlich wird es auch um Minderheiten gehen, soziale, kulturelle, sexuelle, um Migration und Bildungshintergrund, was denn sonst? Vielleicht auch um Genres, ob innovativ oder nicht."

Weitere Artikel: Ute Büsing hat für den Tagesspiegel einen Auftritt der New Yorker Essayistin Fran Lebowitz besucht. Martin Oehlen war derweil für die FR in Stuttgart, wo Martin Walser sein aktuelles "Traumbuch" präsentierte.

Besprochen werden unter anderem Tove Ditlevsens "Gesichter" (online nachgereicht von der FAS), Ana Schnabls "Meisterwerk" (NZZ), Kristine Bilkaus "Nebenan" (Tsp), Karl Corinos "Von der Seele träumen dürfen" über Leben und Werk von Robert Musil (taz), David Diops "Reise ohne Wiederkehr oder Die geheimen Hefte des Michel Adanson" (SZ) und Adania Shiblis "Eine Nebensache" (FAZ).
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Bühne

Adam Mickiewicz' "Totenfeier". Foto: Bartek Barczyk / Juliusz-Slowacki-Teatr

Die polnische PiS-Regierung läuft wieder einmal Sturm gegen das moderne Theater, berichtet Felix Ackermann in der NZZ. Diesmal trifft der Furor der Kulturkämpfer das von Krzysztof Gluchowski geleitete Juliusz-Slowacki-Teatr in Krakau, das es wagte, das Nationalepos "Die Totenfeier" von Adam Mickiewicz auf das heutige Polen umzumünzen. "Die Reaktion der PiS war eindeutig: Wer aus der Totenfeier eine Kritik an der römisch-katholischen Kirche und der polnischen Rechten macht, soll nicht aus nationalen Mitteln finanziert werden. Bereits seit Monaten geführte Verhandlungen um die Förderung des Juliusz-Slowacki-Theaters aus Mitteln des Ministeriums für nationales Kulturerbe wurden auf Eis gelegt. Direktor Gluchowski musste umgehend einen Produktionsstopp verhängen, weil die Förderung vonseiten der Woiwodschaft gerade für die Deckung der laufenden Kosten reicht. In einer öffentlichen Aktion bittet er um Spenden für das 130 Jahre alte Theater. Nachdem im Programm des Theaters das Konzert der Sängerin Maria Peszek aufgetaucht war, die in ihren Texten radikal feministische Kritik als Protest-Soundtrack verarbeitet, gingen die Kulturpolitiker der PiS zur nächsten Eskalationsstufe über. Das Regionalparlament beschloss, ein Verfahren zur Absetzung von Gluchowski als Direktor einzuleiten, obwohl sein Vertrag noch über zwei Jahre läuft."

Weiteres: In der taz berichtet Jürgen Vogt vom ersten Inklusionsfestival für performative Künste in Uruguay.

Besprochen werden eine minimalistische "Tannhäuser"-Aufführung unter Dirigent Kent Nagano an der Staatsoper Hamburg (SZ, FAZ), Milo Raus Inszenierung von Schillers "Wilhelm Tell" (FAZ) und Wagners "Der fliegende Holländer" an der Oper Graz (Standard).
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Architektur

Gegen global austauschbare Schuhschachtelbauten plädiert Robert Kaltenbrunner in der FR für mehr Regionalismus in der Architektur und zwar in der Form der Tessiner Schule, die ortstypische, aber dezidiert moderne Bauten schuf und damit auch Beispiel gab für die Architektur in Graubünden, Südtirol und Vorarlberg: "Bruno Taut, eines unkritischen Historismus sicherlich unverdächtig, notierte 1905 in seinem Tagebuch: 'Wir Architekten gehen zur Tradition zurück. Weil wir einsehen, welche Geschmacklosigkeit durch das Opfern der guten alten Sitte im Bauen eingerissen ist.' Seine Konsequenz lautete: 'Darum wollen wir wieder an das gute Alte anknüpfen und daraus gutes Neues machen.' Daraus darf man folgern, dass die Auseinandersetzung mit den lokalen Gegebenheiten durchaus einen architektonischen Selbstfindungsprozess manifestiert. Mit Retro-Architektur hat das nichts zu tun."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Kaltenbrunner, Robert

Musik

"Vor allem schönes Wortgeklingel" hört Welt-Kritiker Manuel Brug in den vollmundig verkündeten Vorhaben im Klassikbetrieb, sich künftig klimaschonender zu präsentieren - und vor allem sei das alles doch "sehr rührend und naiv". Denn: "Die Klassik hat zur Klimaverschmutzung natürlich nur einen verschwindend geringen Teil beigetragen", aber sie wisse, "was man der doch gern auch ein wenig woken, kulturbeflissenen Klientel schuldig ist." Gibt es künftig also nur noch Konzerte, die per Bahn erreichbar sind? Von wegen: "Musikbetrieb ist auch Wettbewerb. Und den gewinnen Orchester im internen Ranking nur, wenn sie in den Weltmetropolen und bei den bedeutendsten Festivals präsent sind. ... Stars müssen gastieren, jetzt zum Teil noch hektischer, um verlorene Gagen aus zwei Spielzeiten auszugleichen."

Außerdem: Nachrufe auf den Austro-Popper Willi Resetarits schreiben Peter Praschl (Welt), Martin Lhotzky (FAZ) und Oliver Hochkeppel (SZ).

Besprochen werden Björn Fischers Buch "Rock-O-Rama" über die Geschichte des gleichnamigen deutschen Labels, das im Punkrock loslegte und im Rechtsrock ankam (taz), ein Online-Benefiz-Konzert der ukrainischen Avantgardemusiker Maxim Kolomiiets und Dmytro Radzetskyi in Kiew ("experimentalmusikalische Traumatherapie", beobachtet Kerstin Holm in der FAZ), das neue Album von Kae Tempest (online nachgereicht von der FAS), ein Cro-Konzert (FAZ), ein neues Album von Michael Bublé (TA) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Box mit Aufnahmen der Dirigentin Emmanuelle Haïm zum 20-jährigen Bühnenjubiläum der von ihr gegründeten Gruppe "Le concert d'Astrée": "Haïms Dirigieren ist Freude, ist Überschäumen, Leichtigkeit, Tanz und auch stets ein Schuss Melancholie", freut sich SZ-Klassikkolumnist Reinhard J. Brembeck.
Archiv: Musik
Stichwörter: Klassikbetrieb, Klimaschutz, Woke