Efeu - Die Kulturrundschau

Diese Art von Aprillicht

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25.04.2022. SZ und Nachtkritik lernen am Zürcher Schauspielhaus die neuen Schweizer Freiheitshelden wider Willen kennen. Außerdem fragt die SZ, warum sich die Salzburger Festspiele von einer aserbaidschanischen Firma sponsorn lassen. Die taz lernt von James Bridle, wie man Sonnenenergie in Zitronen speichert. Der Tagesspiegel begegnet in Serpil Turhans Porträtfilm "Köy" drei kurdischen Frauen aus Berlin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.04.2022 finden Sie hier

Bühne

Milo Raus "Wilhelm Tell" © Flavio Karrer / Schauspielhaus Zürich

Oft grandios, manchmal banal, aber von einer umfassenden Humanität findet Egbert Tholl Milo Raus Inszenierung von Schillers "Wilhelm Tell" am Zürcher Pfauen, in der Rau mit wahren Geschichten echter Menschen eine andere Version des Freiheitshelden wider Willen erzählt: "Zwischen Schillers Worten treten auf: Irma Frei, die als Halbwaise und Verdingkind in den 1960er-Jahren drei Jahre lang Zwangsarbeit in einer Bührle-Textilfabrik leistete. Sarah Brunner, erste Offizierin der Schweizer Armee, die vor Tagen in einer inszenierten Aktion Hermon Habtemariam heiratete, Flüchtling ohne Papiere, nun für drei Jahre sicher. Cyrill Albisser ist ein Bilderbuch-Jäger und zeigt der hinreißend tölpelhaft-neugierigen Maja Beckmann die Kunst der Pirsch. Die umwerfende Meret Landolt berichtet von ihrer Kindheit auf dem Dorf und den Hänseleien, die sie wegen ihrer verkrüppelten Hände ertragen musste, Cem Kirmizitoprak beschwert sich über die 80.000 Treppenstufen in St. Gallen: 'Für einen Behinderten im Rollstuhl ist das die Hölle.' Und Vanessa Gasser erzählt von ihrer Arbeit als Altenpflegerin, von Würde und Zärtlichkeit. Jeder einzelne Mensch fesselt mit seiner Geschichte."

Nachtkritikerin Valeria Heintges ist weniger begeistert von diesem Abend, der den gesamten Schweizer Nationalkomplex durchexerziert: "Kurz vor Schluss wird das Publikum zum Aufstehen animiert: 'Jetzt singen wir die Nationalhymne!' Die Hymne kommt dann - zum Glück - zwar als Gospel daher, aber die freundlich-gezwungene Nötigung ist symptomatisch für den Abend: Hier ist ein Ensemble und ein Inszenierungsteam so begeistert vom eigenen Tun, dass keinem mehr auffällt, dass nach einem vielversprechenden Anfang vieles sehr oberflächlich gerät. Es ist eben doch kein Zufall, dass andere Inszenierungen kleinere Themenfelder beackern: Sie kommen stiller daher, bohren aber tiefer.In der NZZ bleibt Ueli Bernays ratlos.

Die Salzburger Festspiele sind sehr beliebt bei Oligarchen, die sich hier ihren Reichtum in den Anschein kosmopolitischer Kultiviertheit umwandeln lassen. Auch aserbaidschanische Konglomerate treten hier gern als Sponsoren auf. Die lettisch-amerikanische Regisseurin Yana Ross und der Schweizer Dramatiker Lukas Bärfuss wollen nun das Verhältnis untersucht sehen, die das Festivals zur Solway Investment Group unterhält, wie Moritz Baumsteiger in der SZ berichtet: "Die Wurzeln der Firma liegen in der russischen Aluminiumindustrie, dank ihres Sitzes im eidgenössischen Zug tritt sie aber unverfänglicher als 'Schweizer Unternehmen' auf. Nicht nur wegen deren Nähe zum einen Angriffskrieg führenden Kreml sprechen Ross und Bärfuss deshalb von 'toxischem Sponsoring' - die Festspiele wurden 1920 schließlich als Friedensprojekt gegründet. Die beiden sehen Solway jedoch auch in der Verantwortung für massive Umweltschäden, Korruption, für Einschüchterung und Verfolgung kritischer Journalisten und Aktivisten, etwa im Umfeld der Nickelmine La Fénix in Guatemala." Die Firma sponsort in Salzburg die Nachwuchs- und Jugendschiene.

Weiteres: Nachdem an der Wiener Staatsoper vorzeitiges Buh-Rufen verboten wurde, verteidigt Margarete Affenzeller im Standard diese kulturelle Praxis als Ausdruck kultivierten Missvergnügens. Dorion Weickmann erzählt in der SZ, wie das Staatsballett Berlin TänzerInnen aus der Ukraine und aus Russland aufnimmt.

Besprochen werden Adena Jacobs' Version von Euripides' "Troerinnen" am Wiener Burgtheater (die Michael Wurmitzer im Standard als "grandios feministisch zugespitzt" umjubelt), Pınar Karabuluts Shakespeare-Inszenierung "Richard Drei" am Kölner Schauspiel (Nachtkritik), Stefanie Reinspergers Sarah-Kane-Solo in Berlin (bei dem sich FAZ-Kritiker Simon Strauss wie in einer missglückten Hypnose fühlte, wenn ihm die Energiespielerin ihr Mantra entgegenbrüllt: "Ich bin fett, ich bin ekelhaft", Tsp, SZ), Shakespeares "Macbeth" am New Yorker Longacre Theatre mit Daniel Craig in der Titelrolle (FAZ), das Musikdrama "Lili" über die französische Komponistin Lili Boulanger an der Neuköllner Oper (Tsp).
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Kunst

Im taz-Interview mit Astrid Kaminski plaudert der amerikanische Künstler James Bridle über das Leben auf einer griechischen Insel, Do-it-yourself und die Verbindung von Kunst und Aktivismus. Das Ergebnis ist die Aegina-Batterie: "Die 'Aegina Batterie' bildet ein wenig eine Ausnahme. Zunächst hat mich die Tatsache fasziniert, dass Zitronen Solarenergie speichern. Aber ich würde mein Haus nicht mit Zitronen heizen. Dieses Projekt hat vielmehr neben der physischen auch eine metaphysische Ebene. Ich referiere damit an die substanziell belastete Beziehung zwischen Griechenland und Deutschland, an die sehr schiefe Bilanz dieser Beziehung. Ich möchte Energie und damit 'Power' aus Griechenland nach Deutschland bringen. Ein Nachfolgeprojekt wäre dann die Frequenz des griechischen Lichts, diese Art von Aprillicht, die wir hier haben, nach Berlin zu bringen!"
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Literatur

In der FAS von vorgestern erklärt John Grisham, der mit "Der Verdächtige" gerade turnusgemäß seinen obligatorischen Thriller pro Jahr vorgelegt hat, warum sein darin beschriebener Serienkiller sich zum Broterwerb als Richter verdingt: "Er ist ja perfekt geeignet als Serienkiller. Er versteht das Vorgehen der Polizei, das Justizsystem, die Forensik, er weiß das alles, weil es zu seinem Berufsalltag gehört. Ich habe in den vielen Büchern über Serienkiller, die ich zur Vorbereitung gelesen habe, jedoch keinen gefunden, der so geduldig und smart war wie der in meinem Buch. Und der tatsächlich eine Liste führt. Wir haben ja alle eine imaginäre Liste von Leuten, über die wir uns geärgert haben, von denen wir uns schlecht behandelt fühlten in unserem Leben. Aber das ist keine Todesliste, auch wenn wir manchmal an Rache denken. Insofern war es dann auch ein Vergnügen zu überlegen, wen man auf diese Liste setzen könnte."

Außerdem: In der Welt resümiert Marie-Luise Goldmann das aktuelle "Literarische Quartett" des ZDF, wo die drei Gäste erstmals allein aus Jugendlichen bestanden. Die NZZ bringt die 47. Folge aus Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw.

Besprochen werden unter anderem Esther Kinskys "Rombo" (Tsp), neue Bücher von Leïla Slimani (FR), Helmut Böttigers "Die Jahre der wahren Empfindung" über die deutsche Literatur der Siebzigerjahre (54books), Elena Penners "Nachtbeeren" (Dlf Kultur), Garth Greenwells "Reinheit" (Freitag), eine Comicadaption von Kurt Vonneguts "Schlachthof 5" (Freitag) sowie neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Alina Bronskys "Schallplattensommer" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Julia Trompeter über Christian Geißlers "zutraulich":

"als dein jagender atem
niedergemacht hatte klein
all meine wörter
..."
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Film

Sehnsucht nach dem Dorf: "Köy" von Serpil Turhan (Salzgeber)

Im Tagesspiegel staunt Andreas Busche über "Köy", Serpil Turhans Porträtfilm über drei in Berlin lebende kurdische Frauen unterschiedlicher Generationen, die allesamt von einer Sehnsucht nach ihrer kurdischen Herkunft getrieben sind (unsere Kritik hier): Turhans "Neugier, das behutsame Nachbohren erzeugen eine Vertrautheit, die Welten öffnet. Zûrês Café dient in ihrem Schöneberger Kiez als Anlaufstelle, Nenos Wohnung, in der sie nach dem Tod des Mannes allein lebt, ist voller Erinnerungen - und doch ein Ort des Übergangs. Dieses Gefühl der Flüchtigkeit vermitteln auch die Gespräche. 'Die Sehnsucht wird immer bleiben'", heißt es an einer Stelle.

Besprochen werden außerdem die Apple-Serie "Pachinko" über japanisch-koreanische Geschichte (Freitag), Eskil Vogts "The Innocents" (FR, unsere Kritik hier) und Davide Gambinos Dokumentarfilm "The Second Life" über Taxidermisten (taz).
Archiv: Film
Stichwörter: Turhan, Serpil

Musik

Eine Sondergenehmigung gestattet dem Sinfonieorchester Kiew die Ausreise aus dem Land und eine Tour durch sieben deutsche Städte. In der FAZ sprechen die Geigerin Liza Zaitseva und der Chefdirigent Luigi Gaggero über ihre Orchester und ihr Programm. Russische Musik würde man derzeit nicht aufführen, sagt Zaitseva: "Ich weiß natürlich, dass Komponisten wie Rachmaninow keine Schuld an diesem Krieg haben. Doch das würde jetzt bloß der russischen Propaganda helfen." Und Gaggero ergänzt: "Putin meinte, die Ukraine existiert gar nicht. Doch wenn man die Kunst, die Geschichte und die Musik kennt, sieht man diese sehr eigene Identität, die auch viele Kontaktpunkte zum europäischen Repertoire hat, viel mehr, als man vielleicht denken könnte. Und auch in der Interpretation versuchen wir das zu betonen. Generell bin ich aber überzeugt, große Kunst gehört der ganzen Welt."

Weitere Artikel: Die Berliner Zeitung spricht mit Heinz Rudolf Kunze, der auf Pazifismus sehr allergisch reagiert: "In der warmen Achselhöhle des amerikanischen Atomschirms lässt sich leicht pazifizieren." Jens Uthoff plaudert für die taz mit Jeff Nelson von Dischord Records über die Geschichte des frühen Hardcore-Punks, über den aktuell der Dokumentarfilm "Punk the Capital" zu sehen ist. Christina Plett schaut sich für die taz in der Berliner Clubszene um, die sich erst allmählich wieder an die neue, alte Normalität ohne Tests, Masken und Abstand gewöhnen muss. Ane Hebeisen (TA) und Jürg Zbinden (NZZ) schreiben zum Tod des belgischen Sängers Arno. Auf ZeitOnline plaudert der Schauspieler Tom Schilling über das neue Album "Epithymia" seiner Band Die Andere Seite und über die Schwermut, die ihn als Künstler regelmäßig befällt.



Besprochen werden Christian Gerhahers Aufnahme von 199 Schumann-Liedern (NZZ), ein neues Album des Fabian Dudek Quartetts (FR), ein Bach-Abend mit András Schiff und der Staatskapelle Berlin (Tsp), ein Konzert der Wiener Philharmoniker mit Tugan Sokhiev (Standard) und das Debütalbum der minderjährigen Riot-Grrl-Band The Linda Lindas, die für Standard-Kritiker Karl Fluch ziemlich gut für das aktuelle Punk-Revival steht.

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