Efeu - Die Kulturrundschau

Mentales Outfit des Cis-Mannes

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.04.2022. Die NZZ rümpft die Nase über die gestählten Paleo-Muskelmänner in Robert Eggers' Wikingerfilm "The Northman". Die SZ freut sich, dass am Ende ein paar Frauen den männlichen Nihilismus untergraben. Die Zeit staunt, wie unkritisch die Biennale von Venedig mit ihrem Traum von der Verschmelzung des Menschen mit Natur und Maschine den Interessen der Macht zuarbeitet. Die FAZ besucht den Kulturpalast in Bitterfeld, der renoviert werden soll. Im Van Magazin erzählt der Pianist Alexei Lubimow von einem Konzert in Moskau, das die Polizei unterbrach, weil er einen ukrainischen Komponisten spielte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.04.2022 finden Sie hier

Film



Trotz seiner "grimmigen Ernsthaftigkeit" ist Robert Eggers' auf der Amlethus-Sage (die wiederum "Hamlet" als Basis dient) basierender Wikinger-Metzel-Blockbuster "The Northman" zum guten Teil auch ein "Exploitation-Epos", schreibt Nicolai Bühnemann im Perlentaucher. Dieses "düstere Pathos" kenne "keinerlei ironische Brechungen. Es geht Eggers darum, Wege zu finden, wie man das grausame Treiben eines geschundenen Antihelden auf der Suche nach Rache zeigen kann, ohne seine Taten zu verherrlichen." Dieser Film kommt gerade recht "für alle, die von Gendersensibilität so richtig die Nase voll haben", meint Daniel Haas in der NZZ beim Anblick des archaischen Reigens gestählter Paleo-Muskelmänner: "Begattungs- und Ausmerzungskompetenz schließen sich aufs Drastischste zum mentalen Outfit des Cis-Mannes zusammen." Das findet er "ideologisch bedenklich", da "dieser Nordische-Heldensagen-Verschnitt sich ausgiebig weidet an der Perforierung, Zerteilung und Penetration von Männerkörpern." Sofia Glasl von der SZ muss ihren schockierten Kollegen ein wenig korrigieren, was die Einbettung der Ideologie der unbedingten Rache, die die Hauptfigur antreibt, betrifft. "Gespiegelt in den Frauenfiguren - neben Amleths Mutter Gudrún (Nicole Kidman) auch eine Seherin (Björk) - wird dieser schicksalsergebene Determinismus letztlich zu Nihilismus und untergräbt das groß angelegte Zurschaustellen von Männlichkeit." Die SZ hat mit dem Regisseur gesprochen.

Weitere Artikel: Matthias Dell empfiehlt im Tagesspiegel die Retrospektive Petra Tschörtner des Filmfestivals Achtung Berlin. Elmar Krekeler von der Welt bekommt beim Sehen der russischen Kinderserie "Mascha und der Bär" ein "mulmiges Gefühl". In der FAZ gratuliert Verena Lueken der Hollywoodregisseurin Elaine May zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Serpil Turhans Porträtfilm "Köy" über drei in Berlin lebende kurdische Frauen unterschiedlicher Generationen (Perlentaucher, taz, critic.de), die DVD von Ash Mayfairs "May, die dritte Frau" ("ein in seiner Stilsicherheit verblüffendes Debüt", staunt Ekkehard Knörer in der taz), Will Sharpes Biopic "Die wundersame Welt des Louis Wain" mit Benedict Cumberbatch (FR, taz, Tsp), Sylvie Ohayons Komödie "Haute Couture" (FR), die Actionkomödie "The Lost City - Das Geheimnis der verlorenen Stadt" mit Sandra Bullock und Channing Tatum (Tsp), Julian Fellowes' "The Gilded Age" (Freitag), die letzte Staffel der Serie "Better Call Saul" (Zeit) sowie Serien über Startups (ZeitOnline) und Serien über Betrugsfälle (Standard). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Architektur

Der Kulturpalast Bitterfeld 2009. Foto: Joeb07 unter cc-Lizenz


Kevin Hanschke erzählt in der FAZ die Geschichte des Kulturpalastes in Bitterfeld, der jetzt renoviert werden soll. Matthias Goßler will dort mit seiner Veranstaltungsagentur einziehen: "Goßlers Agentur Splitter Promotion ist deutschlandweit tätig und will das Gebäude wieder zum Veranstaltungszentrum machen. Splitter organisiert unter anderem Messen, Filmpremieren und Konzerte. Die Lage zwischen Berlin und Leipzig hält Goßler für perfekt. Er lebt selbst in der Region. 'Der Umbau findet im Austausch mit der Bevölkerung, den hiesigen Kultureinrichtungen und dem Landesdenkmalamt statt', sagt er. Alle Akteure gehen behutsam vor, denn der Kulturpalast gilt bis heute als eine der spektakulärsten Bauleistungen der DDR, vergleichbar nur mit den Ensembles der Karl-Marx-Allee in Berlin oder dem Palast der Republik." Bleibt allerdings die Frage, ob ein "Gebäude mit einer Geschossfläche von 5500 Quadratmetern in der 50 000 Einwohner zählenden Stadt wirklich wirtschaftlich saniert werden" kann.
Archiv: Architektur
Stichwörter: Marx, Karl

Kunst

Eglė Budvytytė in collaboration with Marija Olšauskaitė and Julija Steponaitytė, Songs from the Compost: mutating bodies, imploding stars (Videostill), 2020. Courtesy the Artist. © Eglė Budvytytė


Die Biennale in Venedig "träumt in diesem Jahr den Traum von der großen Vereinigung" des Menschen mit der Natur und der Maschine, erzählt Hanno Rauterberg in der Zeit. "Die Kunst, ein Heilsversprechen. Ja, so ist es ernsthaft gemeint. Die diesjährige Kuratorin der Biennale, die aus Italien stammende Cecilia Alemani, verfolgt frohgemut ein posthumanistisches Programm, angetrieben von der 'Idee, die zentrale Stellung des Menschen zu überwinden und dann zu Erde, zur Maschine, zur Natur zu werden'. Eine Symbiose von Macht und Magie", so Rauterberg, der diesen Ansatz erstaunlich unkritisch findet. Auch diese Biennale "trifft eine Auswahl, was sollte sie sonst tun. Überdies trifft diese Auswahl ein einzelnes Subjekt, ein kuratierender Mensch, und eben kein Tier, keine Pflanze, keine Maschine. Es ist außerdem ein europäischer Mensch, wohlgemerkt für eine Ausstellung in Venedig, historisch ein Oberzentrum des westlichen Weltbeherrschungsdenkens. Und so bleibt die Biennale des Posthumanismus zwangsläufig ein Widerspruch in sich selbst. Zudem entgeht ihr, wie sehr hier eine mystifizierende Kunst den Interessen der Macht zuarbeitet. Etliche Genforscher dürften von den Ideen der permanenten Wandelbarkeit des Menschen, wie sie die Biennale preist, schon deshalb begeistert sein, weil sie ihrerseits finden, dass die Evolution aktiv vorangetrieben werden müsse."

In der FAZ stellt der Historiker Karl Schlögel den ukrainischen Künstler Viktor Arnautow vor, dessen kommunistische Monumentalbilder (von denen einige auch in Amerika zu sehen sind) in Mariupol jetzt von russischen Soldaten zerstört wurden. "Man erkennt in Arnautows Zyklus die Bildsprache seines Lehrers, des Künstler-Revolutionärs Diego Rivera, bei dem er zwischen 1929 und 1931 in Mexico City gearbeitet und der an bedeutenden Ausgestaltungen öffentlicher Gebäude mitgewirkt hatte. ... Aber Arnautow hatte ein Leben vor und nach seiner amerikanisch-kalifornischen Zeit. Es begann und endete in Mariupol, in der Stadt, von der bis in die allerjüngste Zeit nur wenige gehört hatten, obgleich sie im 20. Jahrhundert eine der bedeutendsten Stahlstädte der Welt, ein Zentrum der sowjetischen Industrialisierung war, und die jetzt zum Symbol barbarischer russischer Kriegführung und heldenhaften ukrainischen Widerstands geworden ist, ja zum Ort der Entscheidung im Kampf zwischen einer unabhängigen, freien Ukraine und einem imperial-faschistischen Angreifer."

Weitere Artikel: Katharina Rustler hat sich für den Standard in Venedig den österreichischen Pavillon des glamourösen Duos Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl angesehen: Mit ihrer "Kombination aus verlockender Zugänglichkeit, spaßiger Genreüberschreitung und queerer Sprache sind Knebls und Scheirls Kunst trotz 1970er-Romantik am Puls der Zeit", lobt sie. In der taz unterhält sich Maxi Broecking mit dem amerikanischen Konzeptkünstler William Pope.L über dessen Ausstellung im Berliner Schinkel Pavillon, wo er Modelle ikonischer Berliner Architektur schreddert. Und Ralf Leonhard schreibt (nachgereicht aus der einem Stromausfall zum Opfer gefallenen taz von gestern) den Nachruf auf den Aktionskünstler Hermann Nitsch.

Besprochen werden die Ausstellung "Pionnières - Artistes dans le Paris des Années folles" im Pariser Musée du Luxembourg mit namhaften Künstlerinnen wie Sonia Delaunay, Natalia Gontscharowa, Sophie Taeuber-Arp oder Marie Vassilieff, aber auch vielen hierzulande eher unbekannten wie Mela Muter aus Polen, Anna Béöthy-Steiner und Amrita Sher-Gil aus Ungarn oder Juliette Roche aus Frankreich (NZZ), Carrie Mae Weems' Ausstellung "The Evidence of Things Not Seen" im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart (taz), die Retrospektive "Heidi Bucher. Metamorphosen", die nach dem Haus der Kunst in München jetzt im Kunstmuseum Bern zu sehen ist (Welt) und eine kulturhistorische Ausstellung zu Moses Mendelssohn im Jüdischen Museum Berlin (taz)
Archiv: Kunst

Bühne

Im Tagesspiegel annonciert Frederik Hanssen das Programm der ersten Saison der Doppelintendanz von Susanne Moser und Philip Bröking an der Komischen Oper Berlin. In der taz unterhält sich Bo Wehrheim mit der Performerin Nora Tormann über ihren choreografischen Audiowalk "TURN - Kartographie einer Bewegung" auf den Spuren des Turnvaters Jahn durch die Hasenheide in Neukölln. Besprochen werden Frank Panhans' Inszenierung von "Cyrano de Bergerac" am Berliner Grips Theater als Hip-Hop-Musical ("eine mitreißend erzählte Lovestory in zeitgemäßem Sound" und Happy End, schwärmt Patrick Wildermann im Tsp) und und David Maayans Performance "The more it comes the more it goes" am Theater Nestroyhof Hamakom in Wien (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Literatur

"Mein Leben und meine Arbeit sind Geiseln dieses Krieges", sagt die aus der Ukraine stammende, seit 2011 in Wien lebende Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk im Tagesspiegel-Gespräch. Ihr Roman "Blauwal der Erinnerungen" (2019) über den ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj werde jetzt mit anderen Augen gelesen. Aber "ich selbst, die ich diesen Krieg hautnah erlebe, war noch nie so weit von meinen Büchern entfernt wie jetzt. ... Dieser Roman ist auch ein Roman über Angst, die ich und meine Protagonistin von ihren Vorfahren, seit ewig unterdrückt und unterwürfig, geerbt haben. Es ist ein Roman über Traumata, die durch Generationen wandern und einen als Geisel nehmen. Ein Roman über Opfersein und ein Beginn darüber zu reflektieren, eine Suche nach schmerzhaften Antworten und einem Ausgang."

Die New Yorker Essayistin Fran Lebowitz zeigt sich im FAZ-Interview mal wieder von ihrer sympathisch angefressenen Seite, etwa als es um Fragen geht, wer eigentlich wen übersetzen sollte und müsste - eine Frage, die sich in ihrem Fall auch deshalb anbietet, weil ihre bislang kaum übersetzen Arbeiten im Zuge des Erfolgs von Martin Scorseses Netflixporträt über sie nun international sehr gefragt sind. Ihretwegen könne auch ein Mann sie übersetzen: "Ja, das wäre auch gut für mich. Ich glaube nicht, dass diese Dinge wichtig sind. Ich weiß, dass alle anderen diese Dinge wichtig finden - oder zumindest Menschen einer bestimmten politischen Strömung, der ich ja selbst angehöre. Aber für mich sind diese Dinge das Gegenteil von dem, was wir immer wollten. Wir wollten nämlich nicht diese ganze Spaltung, nicht diese ganze Bevormundung. Menschen sollen machen, was sie wollen - mich hat ja niemand gefragt!"

Weitere Artikel: Die NZZ setzt Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw mit der 43. und 44. Folge fort. Sandra Beck wirft in einem auf 54books veröffentlichten Gutachten einen Blick auf die Wiederentdeckungsrhetorik der deutschen Literaturkritik anhand des Beispeils von Gabriele Tergits Nachruhm. In der SZ gestattet Navid Kermani einen Blick in seine aktuellen Lektüren. Besprochen werden unter anderem Birgit Weyhes Comicbiografie "Rude Girl" (Tsp) und eine Neuausgabe von Fritz Meyers "Ich unter anderem" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Bei einem Auftritt in Moskau von Alexei Lubimow am 14. April stand plötzlich die Polizei auf der Bühne, von der sich der russische Pianist allerdings fürs Erste in seinem Spiel nicht beirren ließ. Jeffrey Arlo Brown hat mit Lubimow für das VAN-Magazin gesprochen. Auf dem Programm stand der Avantgardist Valentin Silvestrov und das "war überhaupt nicht gewagt", sagt er - dennoch gab es im Vorfeld die Aufforderung, das Konzert abzusagen. Politische Statements habe es beim Konzert keine gegeben. "Wir haben nur erklärt, wer Silvestrov ist - ein sehr bekannter Komponist, natürlich ein ukrainischer Komponist, ein berühmtes Mitglied der Avantgarde der 1970er und 80er Jahre." Die Polizei begründete ihren Auftritt mit einer angeblichen Bombendrohung. "Ich habe sofort verstanden, dass das nicht stimmte und es eine reine Provokation war. ... Für uns war aber sofort klar, dass man das Konzert stoppen wollte, weil Silvestrov einige Interviews gegeben hat, in denen er sich deutlich zum Krieg und Putins Diktatur geäußert hat. Die Behörden haben sich wahrscheinlich seinen Namen gemerkt: 'Der Name Silvestrov heißt, man ist gegen Putin und den Krieg'. Wahrscheinlich haben die Behörden seinen Namen als gefährliches Anti-Kriegs-Zeichen aufgefasst."

FAZ-Kritiker Jan Brachmann kehrt entzückt von den Osterfestspielen Baden-Baden zurück, nachdem er dort Tschaikowskys Oper "Pique-Dame" erleben durfte: "Kirill Petrenko, am Pult der Berliner Philharmoniker, ist als Tschaikowsky-Dirigent ein Himmelsgeschenk! ... Sein Orchester ordnet sich dem Gesang nicht unter, es ist auch nicht der allwissende Kommentator des Bühnengeschehens; sein Orchester ist eines der Empathie mit den Singenden."

Unter großem Medieninteresse hat sich Xavier Naidoo in einer Videobotschaft von seinen antisemitischen Verschwörungstheorie-Exzessen der letzten Jahre distanziert - Johannes Drosdowski erklärt in der taz, wie Naidoo sich künftig verhalten muss, um glaubwürdig zu sein, Hannes Soltau vom Tagesspiegel reagiert mit vorsichtiger Skepsis und Nele Pollatschek von der SZ will dem Musiker seine Läuterung fürs Erste glauben. Am interessantesten ist aber eigentlich dieser Twitterthread, der einen genauen Blick darauf wirft, wie die Spinnerszene, der Naidoo nun angeblich nicht mehr angehören will, auf den Ausstieg ihres Maskottchens reagiert. Die wirklich wichtige Frage in diesem müden Spektakel stellt allerdings der Postillon: Wann entschuldigt sich Naidoo endlich für seine Musik?

Außerdem: Für das VAN-Magazin spricht Jeffrey Arlo Brown mit dem Dirigenten Daniel Harding vom Swedish Radio Symphony Orchestra. Michael Ernst blickt in der NMZ zurück auf zehn Jahre Sächsische Staatskapelle in Salzburg. Im taz-Gespräch plaudert Monchi, der Sänger von Feine Sahne Fischfilet, über seine Essstörung und seine Diät, mit der er 60 Kilo von der Waage brachte. In der FR gratuliert Harry Nutt Iggy Pop zum 75. Geburtstag. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker in dieser Woche hier über Germaine Tailleferre und dort über Annea Lockwood.

Besprochen werden neue Alben von Yung Lean (taz), Bilderbuch (Welt) und Sault (Pitchfork).

Archiv: Musik