Efeu - Die Kulturrundschau

Scheißgrillabend

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13.04.2022. Im Standard erklärt der Intendant des Wiener Konzerthauses, Matthias Naske, was ihn zu den russischen Geldtöpfen zog. In der SZ legt Alexander Kluge nahe, dass Anna Netrebko und Valery Gergiev in Moskau einen pazifistischen Gegenalgorithmus in Gang setzen könnten. Außerdem erkundet der Standard die Kunstszene von Prishtina, bevor dort im Sommer die Manifesta ihre Zelte aufschlägt. Die Zeit lernt von der japanischen Künstlerin Fujiko Nakaya im Haus der Kunst, den Wolken zuzuhören. Und alle trauern um den Schauspieler Michael Degen, der wie ein edler Tropfen jedes Menü verfeinerte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.04.2022 finden Sie hier

Kunst

Fujiko Nakaya: Nebel leben. Foto: Andrea Rossetti / Haus der Kunst

Freudig lässt sich Zeit-Kritiker Tobias Timm von den Nebeln umhüllen, in die die japanische Künstlerin Fujiko Nakaya das Münchner Haus der Kunst wirft: "Irgendwann war Nakaya unzufrieden mit der Malerei, die dem flüchtigen Charakter der Natur niemals gerecht werden konnte. Sie setzte sich in den Kopf, Wolkenmacherin zu werden, Wolken aus Wasser, nicht einfach nur aus Rauch zu schaffen. Ihr großes Vorbild war ihr Vater, der Physiker Ukichiro Nakaya, der den ersten künstlichen Schneekristall hergestellt hatte - mithilfe eines Hasenhaars, auch das kann man in einem Saal der von dem neuen Museumsdirektor Andrea Lissoni und der Kuratorin Sarah Johanna Theurer eingerichteten Ausstellung auf Fotografien bewundern. 'Man muss dem Eis zuhören, wenn man etwas über Eis lernen will', habe der Vater ihr beigebracht. Und so hörte Fujiko Nakaya den Wolken zu."

Nach Palermo und Marseille schlägt die Wanderbiennale Manifesta in diesem Jahr ihre Zelte in Prishtina auf. Im Standard findet Katharina Rustler das eine ganz hervorragende Idee: Die Hauptstadt des Kosovos kann jede Unterstützung so gut gebrauchen wie die Kunstszene: "Die Stadt verfügt über kein Museum moderner Kunst. Um die Nationalgalerie zu so einem zu erweitern, fehlt es an geeignetem Raum, finanziellen Mitteln und einer aktuellen Leitung. Und auch die primär aus männlichen Künstlern und Malerei der 1970er-Jahre bestehende Sammlung sei verbesserungsfähig. Diese Strukturlosigkeit mit Drang zur Veränderung mutet wie ein Sinnbild für den Kulturbereich in Prishtina an. Vor der historischen Kulisse dieser chaotischen Stadt (mit architektonischen Einflüssen aus osmanischer Zeit, dem Kommunismus und der Bauwut Ende der 1990er) tummelt sich eine dynamische und international orientierte Szene, die sich - wenn sie nicht auswandert - für neue Ideen, Stabilität und eine offene Zukunft des jungen Landes einsetzt. Die Hoffnungen sind groß."

Weiteres: Im SZ-Gespräch mit Catrin Lorch schnurrt Cecilia Alemani ihre Vorstellungen für die diesjährige Biennale in Venedig ab, die unter dem Motto "Körper und Metamorphosen" stehen wird. In der taz erzählt Sophie Jung von dem riesigen Fundus an antiken Scherben, die der Berliner Maler Peter Grämer einst aus dem Kriegsschutt des Martin-Gropius-Baus barg und nun dem Museum für Vor- und frühgeschichte vermachte.
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Musik

"Valery Gergiev soll dirigieren und Anna Netrebko soll singen", ruft Alexander Kluge im Feuilletonaufmacher der SZ und zeigt sich entsetzt "über ihren Ausschluss, darüber, dass man große russische Künstler zu opportunen Äußerungen drängen will." Sein Argument? Kunst tauge nicht zu Propagandazwecken, sondern gehöre zur "Gegenwehr der Menschen gegen den Krieg. Deshalb kann auch die Behinderung von Kunst oder Künstlern kein Akt gegen den Krieg sein. ... Kunst ist kein Richter. Kunst trainiert Wahrnehmung. Die Kriegssituation ist eine Welt der Algorithmen. Die Kunst ist der Anwalt der Gegenalgorithmen."

Im Standard spricht Stefan Ender mit Matthias Naske, dem Intendanten des Wiener Konzerthauses, über dessen nun bekannt gewordene Verflechtungen als Zeichnungsberechtiger bei der musicAeterna-Foundation: Das von Teodor Currentzis dirigierte Ensemble MusicAeterna wird von der russischen, von den Sanktionen der EU und der USA betroffenen VTB Bank gesponsert. "Ich mache aus meinen ehrenamtlichen Engagements keine Geheimnisse, daher musste hier nichts aufgedeckt werden", sagt Naske. "Im Zuge der Loslösung von musicAeterna aus dem organisatorischen Dach des staatlichen Opern- und Balletttheaters in Perm habe ich mich auf Bitte von Teodor Currentzis bei der Entwicklung einer neuen organisatorischen Basis für das Orchester engagiert. Zur Abwicklung von Engagements von musicAeterna außerhalb Russlands wurde eine Stiftung in Liechtenstein gegründet, in der ich Mitglied des Stiftungsrats bin. Ich trage dort keine exekutive Rolle. Ehrenamtliche Engagements sind Bestandteil des Führungsprofils leitender Organe kultureller Institutionen. ... . Es braucht schon eine Menge an bösem Willen, um aus ehrenamtlichen Engagements Abhängigkeiten zu konstruieren."

Die Agenturen melden, dass Andrés Orozco-Estrada mit sofortiger Wirkung als Chefdirigent der Wiener Symphoniker zurücktritt - angeblich wegen "langanhaltender und unüberwindbarer Differenzen mit dem Intendanten des Orchesters". Das Orchester selbst gibt an, dieser Rücktritt sei lediglich eine Reaktion darauf, dass Orozco-Estradas Vertrag nach Beschluss der Musiker über die Spielzeit 2024/25 hinaus nicht verlängert worden sei.

Weitere Artikel: SZ-Popkolumnist Jakob Biazza sichtet die Pop-Memorabilia, die derzeit durch die Auktionshäuser wandern. Besprochen werden eine von Raphael Pichon dirigierte Neuaufnahme von Bachs "Matthäuspassion" (SZ), ein von Christian Thielemann dirigierter "Lohengrin", mit dem sich der Dirigent von den Osterfestspielen Salzburg verabschiedet (NZZ), Dan Charnas' Buch über den HipHop-Produzenten J Dilla (taz), ein Berliner Auftritt von Bilderbuch (Tsp, Berliner Zeitung), ein Weimarer Konzertabend, mit dem an das Jazzorchester Rhythmus im KZ Buchenwald erinnert wurde (taz), ein Tributalbum zu Ehren des vor acht Jahren verstorbenen Gitarristen Johnny Winter (NZZ) und eine ARD-Doku über die Ostberliner Auftritte der Toten Hosen (FAZ),
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Film

Filigranschauspieler mit brüchiger Melancholie: Michael Degen (Foto: Udo Grimberg, CC BY-SA 3.0 de)

Der Schauspieler Michael Degen ist tot. Er war das Gentleman-Gesicht der alten Bundesrepublik, bekannt aus Theater (Tabori! Zadek! Brecht!), Kino (Bergman! Chabrol!) und Fernsehen (Derrick! Diese Drombuschs!). Erst spät ging er mit der Tatsache an die Öffentlichkeit, dass er dem Holocaust nur knapp entkommen ist. "Als Schauspieler hatte er bei aller Intensität immer etwas kühl Präzises, Kontrolliertes, am besten passt vielleicht das Wort Contenance", schreibt Christine Dössel in der SZ mit Blick auf Degens Theaterkarriere. "Im Verbund mit seiner Geschmeidigkeit und fast schon natürlichen Eleganz ergab das eine sehr besondere Mischung. Sein freundlich-markantes Gesicht, die dunklen Augen, sein weicher, tänzelnder Ton, die brüchige Melancholie, die ihn umflorte - all das machte Degen zu einem Filigranschauspieler", der, wie Dössel ebenfalls einräumen muss, im Fernsehen eher auf seichte Angebote ansprang: Er "hat diese Formate geadelt wie ein edler Tropfen ein Fast-Food-Menü." Weitere Nachrufe schreiben Sandra Kegel (FAZ), Harry Nutt (FR), Manuel Brug (Welt) und Rüdiger Schaper (Tsp).

Weitere Artikel: Patrick Heidmann spricht in der FR mit Sophie Marceau über deren neuen Flm "Alles is gut gegangen". Dem Wiener Publikum empfiehlt Standard-Kritikerin Valerie Dirk eine Truffaut-Filmschau im Filmarchiv Austria.

Besprochen werden Sean Bakers "Red Rocket" (Welt), Mahamat-Saleh Harouns "Lingui" (taz), der dritte Teil des Harry-Potter-SpinOffs "Phantastische Tierwesen" (FAZ) und die RTL-Serie "Ferdinand von Schirach - Strafe" (FAZ).
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Bühne

Besprochen werden Wagners "Lohengrin" von Jossi Wieler und Christian Thielemann in Salzburg (NZZ), Webers "Der Freischütz" am Nationaltheater Mannheim (FR) und Jean Gilberts "Kinokönigin" an der Musikalischen Komödie Leipzig (NMZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Im Zeit-Interview spricht Deniz Yücel über die Forderungen aus den Reihen des deutschen PEN-Zentrums nach seinem Rücktritt als Präsident des Schriftstellerverbands. Unter anderem schildert er, warum er  hinter den Kulissen interveniert: Sehr geärgert habe er sich etwa, als der russischen PEN-Stipendiatin Anzhelina Polonskaya, die er für die Leipziger Buchmesse gewinnen wollte, nach Kriegsausbruch das Stipendium nicht verlängert und der Weg nach Hause nahegelegt wurde. "Daraufhin schrieb ich ans Präsidium: Ich kenne die Vorgeschichte nicht, ist auch egal. Jetzt ist Krieg. Das Putin-Regime wird noch härter gegen Kritiker vorgehen. In dieser Lage können wir Anzhelina Polonskaya nicht fallen lassen. Ausgeschlossen! ... Fast alle Kolleginnen und Kollegen stimmten meinem Antrag zu, sie nunmehr aus PEN-eigenen Mitteln zu fördern. Peuckmann, ein pensionierter Religionslehrer aus Kamen, wollte sich nicht festlegen, aber er mailte eine Auflistung von angeblichen Verfehlungen der Autorin - es las sich wie Einträge aus dem Klassenbuch. Meine Antwort: Wir machen Solidarität nicht von Wohlverhalten abhängig. Meine zweite Antwort, bei der ich nicht mehr weiß, ob ich das gesagt oder nur gedacht habe: Du hättest auch einen Thomas Mann oder Pablo Neruda zurückgeschickt, wenn er nicht zu deinem Scheißgrillabend mit deinen Ruhrpottdichtern gekommen wäre."

Wie reagiert der russische Literaturbetrieb auf den Angriff auf die Ukraine? Ulrich M. Schmid hat sich für die NZZ umgesehen. Viele der wichtigsten russischen Gegenwartsautoren sprechen sich vom Ausland aus gegen den Krieg aus, hat er festgestellt. "Auf der anderen Seite haben über zweihundert Schriftsteller in der Literaturnaja gaseta einen Unterstützungsbrief für Putin veröffentlicht. Allerdings gehören außer dem Science-Fiction-Autor Sergei Lukianenko alle Namen zur zweiten oder dritten Garnitur. Der Scharfmacher Zakhar Prilepin hatte bereits 2017 ein Buch mit dem Titel 'Stosstrupp' veröffentlicht, in dem er russische Schriftsteller aus dem 18. Jahrhundert mit der Waffe porträtierte. Prilepin bezeichnet sich offen als Imperialist und fordert die Eroberung der gesamten Ukraine."

Außerdem: Die NZZ setzt Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw mit der 36. Lieferung fort. Besprochen werden unter anderem Hendrik Bolz' "Nullerjahre" (Jungle World), Karl Ove Knausgårds "Der Morgenstern" (SZ), Mareike Fallwickls "Die Wut, die bleibt" (Berliner Zeitung), Ryan Norths und Albert Monteys' Comicadaption von Kurt Vonneguts "Schlachthof 5" (Standard), ein Hörbuch mit Gedichtlesungen von Ulrich Tukur und Christian Redl (FAZ) sowie Kristine Bilkaus "Nebenan" (FAZ).
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