Efeu - Die Kulturrundschau

Hundert dunkle Grautöne

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.03.2022. In der Nachtkritik glaubt Alvis Hermanis nicht, dass sich Russlands Leibeigene in absehbarer Zeit gegen ihren Zaren auflehnen. Das Problem sind die Würmer, ergänzt Sergei Gerasimow in der NZZ. ZeitOnline empfiehlt Alina Horlowas Dokumentarfilm "This Rain Will Never Stop" über den Krieg in der Ostukraine. Der Guardian feiert mit Hew Locke in der Tate Britain einen exzessiven karibischen Karneval. SZ und Standard lassen sich in Wien betören von Christian Gerhahers zartem Wozzeck. Und die Jungle World lässt freudig Acht Eimer Hühnerherzen über sich ergehen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.03.2022 finden Sie hier

Kunst

Hew Locke: The Procession. Foto: Tate (Matt Greenwood)

Einfach überwältigend findet Adrian Searle im Guardian Hew Lockes "Prozession", die er als einen endlosen karibischen Karneval durch die Gänge der Tate Britain ziehen lässt, in dem das Empire, der postkoloniale Handel und Umweltkatastrophen angesprochen werden, ein Mix aus Fest und Protest: "Das alles ist mehr als eine Verkleidung, auch wenn der Karneval selbst Freude am Spiel von Zeit und Ort hat. Stelzenläufer und Bruderschaften von vermummten Büßern, Gestalten in Mänteln, Umhängen, Armeetarnungen, Osterjungfrauen und Heilige, die auf Katafalken und Festagen getragen werden, wie in der Karwoche; Herausgeputzte, Heruntergeputzt, ein verlotterter Mob, eine feier oder ein Trauermarsch. Fahnen und Medaillons, Dublonen und Perlen, mit Aktienzertifikaten und Schuldscheinen geschmückte Kleidung und Banner, Bilder der verfallenen Häuser von Plantagenbesitzern - die Prozession ist schwindelerregend exzessiv, aber genau orchestriert wie ein Festumzug."

Besprochen werden die Maria-Lassnig-Retrospektive im Kunstmuseum Bonn (taz), die kulturgeschichtliche Schau "Im Wald" im Landesmuseum Zürich (NZZ) und eine Ausstellung zu Realistischer Malerei von 1850 bis 1950 im Oberen Belvedere in Wien (Standard).
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Literatur

Er hege keinen Hass gegen Russen, schreibt in der NZZ der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow in der 15. Lieferung seines Kriegstagebuchs aus Charkiw. "Meine ersten Märchen waren russische Märchen. Alle meine Freunde aus der Kindheit sprachen Russisch. Ich sehe Träume auf Russisch und Englisch, aber nie auf Ukrainisch. Und selbst jetzt, wo die Russen Bomben und Raketen auf meine Stadt abwerfen und Menschen töten, die größtenteils russisch sprechen, russisch denken und russisch träumen, denke ich nicht, dass die Russen schlechte Menschen sind. Ob sie gut oder schlecht sind, ist hier nicht der Punkt. Es geht hier um Würmer. Die Würmer, die sich seit langem in einem kahlen Kreml-Kopf vermehrt haben, haben sich daraus herausgewunden, haben sich in ganz Russland ausgebreitet und zig Millionen andere Menschen befallen."

Außerdem: Für den Tagesspiegel wirft Stefan Pannor einen Blick auf die Geschichte der Kriegscomics. In den "Actionszenen der Weltliteratur" wirft Marc Reichwein einen Blick auf Franz Hessels Liebesleben.

Besprochen werden unter anderem Christiane Hoffmanns "Alles, was wir nicht erinnern" (Tsp), Katerina Poladjans "Zukunftsmusik" (SZ), Riku Ondas Krimi "Die Oasawa-Morde" (FR) und Clemens J. Setz' Essayband "Gedankenspiele über die Wahrheit" (FAZ).
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Film

Gegen den Krieg, ohne Krieg zu zeigen: "Alina Horlowas "This Rain Will Never Stop"

Alina Horlowas essayistischer Dokumentarfilm "This Rain Will Never Stop" befasst sich mit der Lebensrealität in der Ostukraine, schreibt Katharina Böhm auf ZeitOnline - ein Antikriegsfilm ohne Krieg zu zeigen. "Vielmehr beschreibt die 1992 in Saporischschja geborene Regisseurin, was das Leben der Menschen nach einem akuten Kriegszustand bestimmt", und "erzählt behutsam und geduldig von kleinen, alltäglichen Szenen im besetzten Gebiet, wie sie sich in Fotos oder Nachrichtenclips kaum auszudrücken vermögen. ... Ob Vyacheslav Tsvetkovs Kamera einem alten Mann bei der Fütterung seiner Zicklein folgt oder dem Bau eines Panzers: Die schwarz-weißen Aufnahmen verbreiten eine geradezu friedliche Atmosphäre. Es sind fast ausschließlich die Hintergrundgeräusche, die den Eindruck ländlicher Idylle stören: das Echo von Detonationen, das Anklingen von Gleichschritt. Erst allmählich wachsen die nummerierten Studien aus Landschaftsansichten, feierlichen Militärparaden und Alltagsszenen zusammen."
 
"Nationalismus ist noch immer das Gift hinter allen Kriegen gewesen; ihn ausgerechnet von Künstlerinnen und Künstlern einzufordern, ist beunruhigend", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR zum Rauswurf Sergei Loznitsas aus der Ukrainischen Filmakademie, in deren Augen sich der Filmemacher zu wenig zu seinem Land bekannte, weil er Solidarität mit jenen russischen Kollegen forderte, die sich gegen den Krieg in der Ukraine aussprechen. Dabei "sind für Loznitsas Kunst die Zwischentöne entscheidend. Viele seiner Dokumentarfilme, besonders eindrucksvoll 'Maidan' (2014), führen die filmische Beobachtung an jenen Punkt, an dem sich das Zufällige schon allein durch die Ausdauer des Betrachtens zum historischen Tableau verdichtet. Seine Spielfilme nehmen gern dieses Stilmittel der langen Einstellungen auf und lenken dabei den Zufall noch ein Stückchen weiter - in die Richtung eines Realismus des Absurden."

Außerdem: Die FR plaudert mit Filmkomponist Hans Zimmer, der bei der Verleihung am am kommenden Wochenenden auf einen Oscar hoffen darf. Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf die Schauspielerin Eva-Ingeborg Scholz. Andreas Kilb (FAZ), Andreas Busche (Tsp) und Philipp Stadelmaier (SZ) gratulieren Michael Haneke zum 80. Geburtstag. Besprochen wird die Netflix-Serie "The Andy Warhol Diaries" (FAZ).
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Bühne

Nach dem Job-Center ins Fitnessstudio: Simon Stones "Wozzek"-Inszenierung. Foto: Michael Pöhn / Staatsoper Wien

Simon Stone hat an der Wiener Staatsoper Alban Bergs "Wozzeck" als sehr heutige Studie zu toxischer Männlichkeit inszeniert. Ganz formidabel findet das Standard-Kritiker Ljubisa Tosic, auch wenn er ahnt, dass die Aktualtität ihren Preis hat: "Die realen Orte - Fitnesscenter, Arbeitsamt und Würstelstand - werden altern. Stones Inszenierung wird dann in ferner Zukunft optisch als konservierte Erinnerung an jene Tage in Wien wirken, als das Publikum Masken trug, um sich vor Corona zu schützen, und am Arbeitsamt Gedränge herrschte. Falls die Verhältnisse sich nicht bessern, wird der Kern der Regie allerdings, die Darstellung von sozialer Verwahrlosung und folgenreicher Kränkung einer Männerpsyche, aktuell bleiben." In der SZ stört sich Egbert Tholl an so viel "Tatort"-haftigkeit, auch der voluminöse Orchesterklang unter Philippes Jordan behagt ihm nicht. Aber Christian Gerhaher in der Titelpartie haut ihn um: "Ansatzlos kann er wild opernhaft ausbrechen, wenn die Not seiner Figur dies erfordert. Aber noch berückender ist sein Singsprechen oder Sprechsingen. Ein winziges Beispiel: Verabschiedet sich Wozzeck in der Szene von seiner Marie, in der diese die Ohrringlein bewundert hat, die ihr der Tambourmajor schenkte, lautet sein letztes Wort 'Adies'. Dieses 'Adies' hat bei Gerhaher hundert dunkle Grautöne, ist schwebendes Sinnieren und finstere Vorahnung zugleich. Das hat eine herrliche Feinheit, das erzählt eine ganze Welt."

Im Interview mit nachtkritikerin Esther Slevogt geißelt der lettische Regisseur Alvis Hermanis die deutsche Naivität gegenüber Russland, romantische Verklärung und Zaghaftigkeit. Warum er vor zwei Jahren beim Festival "Theater der Nationen" in Moskau 2020 das Stück "Gorbatschow" auf die Bühne brachte, erklärt er so: "Russland ist ein sehr geheimnisvolles Land. Ganz oben gibt es immer einen Zaren, eine einzelne Person, die entweder rotes oder grünes Licht für etwas gibt. Die restliche Bevölkerung besteht mehr oder weniger aus Leibeigenen, die dem bedingungslos folgen. Dabei spielt es eigentlich keine Rolle, ob dieser Zar Stalin heißt, oder Iwan der Schreckliche, Peter I., Gorbatschow oder Putin. Es ist immer die gleiche hierarchische Struktur: Zar und Leibeigene. Im Fall von Gorbatschow habe ich eines Tages realisiert, dass er - neben meinem Vater und meiner Mutter - der Mensch gewesen ist, der mein Schicksal am stärksten beeinflusst hat. Ich wollte einfach verstehen, wie das überhaupt möglich war, dieses System zum Einsturz zu bringen. War es einfach nur ein Wunder?"

Weiteres: Bei der Tanzplattform Berlin punkteten SZ-Kritikerin Dorion Weickmann zufolge vor allem die Jüngeren mit Relevanz. Reinhard J. Brembeck meldet in der SZ, dass sich jetzt auch die Berliner Künstleragentur CSAM von ihrem Opernstar Anna Netrebko getrennt hat.
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Design

Amber Pinkerton: "Nadia, Girls Next Door", 2020. (Digital C-Type © Amber Pinkerton, Courtesy Alice Black Gallery, London)

Die Ausstellung "Female View" in der Lübecker Kunsthalle St. Annen stellt sich die Frage, wie Modefotografinnen auf weibliche Models blicken. Die ausgestellten Fotos sind an sich großartig, schwärmt taz-lerin Jenni Zylka. In manchen erblickt sie gar eine "rein weibliche, schwesterlich-intime Verbindung". Dennoch bleibe die Ausstellung ihrer Fragestellung nach "vage", zumal übergeordnete Strukturen - männliche Vorstandsgremien der Modeindustrie und der redaktionelle Auswahlprozess in den Magazinen - keine Rolle spielen. "Die Tatsache, dass sich die mehr als 150 abgebildeten Frauen bis auf wenige Ausnahmen (eine davon ist Alice Springs' Bild der legendären Moderedakteurin Diana Vreeland) erstaunlich ähneln, nämlich fast allesamt jung und normativ-wohlproportioniert sind, unter 50 Kilo wiegen und (größtenteils) weiße Haut haben, wäre ebenfalls unter dem Aspekt des *female view' zu analysieren gewesen: Ist Liv Liberg die einzige, die ihre Models selbst wählt, und kann man seine Zukunft in der Branche vergessen, wenn man eine Post-Wechseljahr-Frau mit fisseligen Haaren in ein Yamamoto-Kostüm stecken möchte?"

Besprochen wird außerdem Ulinka Rublacks Studie "Die Geburt der Mode". Eine Kulturgeschichte der Renaissance" (FAZ).
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Musik

Die Berliner Band Acht Eimer Hühnerherzen zeichnet sich nicht nur durch ihren Namen aus, sondern auch durch ihr "Gespür für Bilder der Vergeblichkeit, verbunden mit einem außerordentlichen Sinn für Sprache als Medium und Material", schwärmt Robert Zwarg in der Jungle World. Weiterhin bewegt sich die Band "im Niemandsland zwischen Lo-Fi-Punk, hibbeligem Indie und patzigem Chanson mit einer Prise Riot-Grrrl-Wut", besingt die Absurdität der Liebe, übt sich in der Kunst des Morbiden und der Poesie des flüchtigen Glücks, "das in den Liedern vornehmlich als Gesuchtes, Gewünschtes und also Abwesendes auftaucht. Sie handeln vom Scheitern des Sprechens, Liebens, Wollens und Könnens, ohne jedoch in Resignation abzugleiten. Vor allem dort, wo es um das Beziehungsgefädel zwischen den Menschen, romantische Routinen, Ausbruchsphantasien und nicht zuletzt um unangenehme Männerfiguren geht, gewinnen die Lieder besondere Prägnanz."



Weitere Artikel: In der SZ porträtiert Timo Posselt Charli XCX. Besprochen werden ein Konzert der Jazzsängerin Cécile McLorin (FAZ), ein Berliner Schostakowitsch- und Brahms-Konzert mit Antoine Tamestit und Alexander Melnikov (Tsp), ein Frankfurter Mahler-Abend mit Kateryna Kasper (FR), das neue Album von Drain Gang (Pitchfork) und neue Popveröffentlichungen, daruter das neue Rap-Album von Ebow, auf dem sich die "lässigste und klügste Lektion in Hip-Hop-Ideologiekritik am endemischen Klassismus und Rassismus im Lande seit langem" findet, schreibt Jens-Christian Rabe in der SZ.

Archiv: Musik