Efeu - Die Kulturrundschau

Phänomene der Entfremdung und der bröckelnden Balance

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07.03.2022. Die SZ kichert und gackert sich am Münchner Residenztheater durch Franz Xaver Kroetz' "Der Drang". Die FAZ begibt sich nebenan in die scharfkantige Endzeitkulisse von Eugene O'Neills "Unter Ulmen". Im Standard findet der Autor und Übersetzer Alexander Nitzberg die Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine viel zu hysterisch. Er empfiehlt "eine aktiv gelebte Neutralität". Die NZZ tastet sich im Basler Kunstmuseum durch das Angst- und Erregungs-Chaos von Louise Bourgeois. Die Zeit wirft mit Elie Grappes Film "Olga" einen Blick auf die Ukraine am Vorabend der Maidan-Revolution. Die Welt tröstet sich mit John Bridcuts Film über Schuberts "Winterreise".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.03.2022 finden Sie hier

Film

Turnerin Anastasia Budiashkina  spielt Olga (Cineworx)

Derzeit zwar nur in der Schweiz zu sehen, aber dennoch unbedingt sehenswert ist der Schweizer Film "Olga", schreibt Sarah Jäggi in einem online nachgereichten Artikel der Zeit. Regisseur Elie Grappe erzählt die Geschichte einer jungen Turnerin, die vor Unruhen aufs Land flieht, und wirft damit einen Blick auf die Ukraine am Vorabend der Maidan-Revolution. "Dass 'Olga' so berührt, liegt nicht nur daran, dass der Film die Vorgeschichte des heutigen Krieges in der Ukraine erzählt und viele Bilder mit medialen Kriegseindrücken überblendet werden. Es liegt auch daran, dass der Regisseur Elie Grappe nicht mit ausgebildeten Schauspielerinnen gedreht hat, sondern mit Profiturnerinnen. Ihre jungen, für das Kinoauge fast zu muskulösen Körper tragen Spuren des jahrelangen Trainings, und der Plot sorgt für weitere Blessuren. ... Vieles ist echt an diesem Film. Unverstellt und dringlich. Auch die Frage, wie viel man zu geben und zu leiden bereit sein muss, um ein großes Ziel zu erreichen."

Die Hauptdarstellerin, die ukrainische Turnerin Anastasia Budiashkina, muss sich mittlerweile in Charkiw vor den russischen Angriffen im Keller verschanzen und darauf hoffen, dass es dem Roten Kreuz gelingt, einen humanitären Korridor zur umkämpften Stadt zu legen, meldet der Nachrichtendienst St. Gallen 24.

Außerdem: Auf ZeitOnline würdigt Ulrich Rüdenauer Pier Paolo Pasolini, der am vergangenen Samstag seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte (unser Resümee). Besprochen wird die vierte Staffel der Amazonserie "The Marvelous Mrs. Maisel" (Freitag).
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Literatur

Im Standard-Interview mahnt der Bulgakow-Übersetzer Alexander Nitzberg den Literaturbetrieb dazu, sich aus der Auseinandersetzung um Russland und die Ukraine doch bitte herauszuhalten. Viel zu "hysterisch" findet er die Reaktionen darauf, dass Russland in sein Nachbarland eingefallen ist. "Man könnte sich auch die Frage stellen: Wer kämpft hier gegen wen? Eine Antwort lautet: Russland gegen die Ukraine. Doch in Wahrheit halten sich sehr viel mehr 'Spieler' auf dem Spielbrett auf, darunter solche, die massive Eigeninteressen vertreten, wie die USA. ... Manche Übersetzer geben sich ungemein martialisch. Jeder Versuch, etwas zu dämpfen, um in sich gehen zu können, um Distanz zu gewinnen, wird so verunmöglicht. Dabei wäre es die angemessene Haltung eines Intellektuellen. Kriegszeiten sind Zeiten der Propaganda. Jeder Misserfolg wird dem Gegner in die Schuhe geschoben. Wenn Sie in einem Hochhaus sitzen und einen Granateneinschlag beobachten - woher wollen Sie wissen, von welcher Seite das Geschoss stammt?"

Die Schatzkammer der ukrainischen Literatur ist reich gefüllt, schreibt Sonja Zekri in der SZ. Es lohne sich aus den Vollen zu schöpfen, nicht zuletzt, um damit Putins Propaganda zu entkräften. "Das Bewusstsein einer eigenen Kultur, einer eigenen, durch vielfache Einflüsse geformten Identität bestand seit Jahrhunderten. Und mit dem Werk Taras Schewtschenkos, den einige für den ukrainischen Goethe oder treffender für den ukrainischen Puschkin halten, verfügten die Ukrainer seit fast 200 Jahren auch über eine eigene Literatursprache." Schon ihn traf damals "die Härte der verunsicherten russischen Autokratie mit Wucht. Er wurde zu zehn Jahren Verbannung verurteilt, durfte weder malen noch schreiben, auch wenn er dieses Berufsverbot nicht beachtete. Für die Russen war der Dichter ein gefährlicher Herold der unabhängigen Kosaken, freier Bauern, deren autonomes Hetmanat im 17. Jahrhundert als Vorform ukrainischer Souveränität galt." (Mehr zu Schewtschenko finden Sie von Vera Block bei Dlf Kultur und von Juri Andruchowytsch in der NZZ. Und hier einige ins Deutsche übersetzte Gedichte in der Deutschen Gedichtebibliothek. Ins Deutsche übersetzte Bücher von Schewtschenko findet man nur antiquarisch.)

Für sein Intellectures-Blog spricht Thomas Hummitzsch mit Fatma Aydemir über deren neuen Roman "Dschinns", der das Verhältnis der Enkelgeneration zu den türkischen Gastarbeitern der Sechziger und Siebziger beleuchtet. Sie habe interessiert, "wer all diese Männer sind, die in den sechziger und siebziger Jahren im Zuge des Anwerbeabkommens nach Deutschland gekommen sind. Männer wie meine Großväter, die immer irgendwie in meinem Umfeld und Teil meines Lebens waren, von denen ich aber nicht sehr viel weiß - weder von ihrer Gefühlswelt und Vergangenheit, noch von der Zeit, in der sie angekommen sind. Diese Generation von Männern ist mir immer rätselhaft geblieben. ... Es gibt in dieser Generation viele Menschen, die mit schweren Traumata im Gepäck gekommen sind, die aber nie konfrontiert oder ausgesprochen wurden. Viele haben ihre Geister quasi wieder mit ins Grab genommen."

Weitere Artikel: Die FAZ dokumentiert einen Mahnruf russischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller an alle Menschen, die Russisch sprechen, dass sie mit Russen reden sollen, um Putins Lügen zu demaskieren. Für die Zeit besucht David Hugendick den österreichischen Schriftsteller Wolf Haas, der mit "Müll" gerade einen neuen Brenner-Krimi veröffentlicht hat. Im Tagesspiegel schreibt der ukrainische, in Berlin lebende Schriftsteller Yuriy Gurzhy weiter Kriegstagebuch. Severin Pomsel berichtet in der NZZ von einer Veranstaltung mit der Schriftstellerin Elif Shafak. In der FR spricht der Autor Maxim Leo über seinen Roman "Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße".

Besprochen werden unter anderem Julya Rabinowichs "Dazwischen: Wir" (Standard), Orhan Pamuks "Die Nächte der Pest" (FRund neue Krimis, darunter Mathijs Deens "Der Holländer" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ulrich Greiner über Marie Luise Kaschnitz' "Eines Tages":

"Es ist kein Garten so fernab gelegen,
Daß nächtens nicht der wilde Schrei der Welt
..."
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Musik

Während Europa brennt, zelebriert der Eurovision Song Contest seinen Vorentscheid am vergangenen Wochenende in Deutschland. Nele Pollatschek zeigt sich in der SZ nach der Veranstaltung einigermaßen ratlos: "Man hätte es nicht besser machen können. Man hätte es allerdings auch nicht schlechter machen können. Vielleicht hätte man es ja gar nicht machen können. Wobei auch das wahrscheinlich nicht gut gewesen wäre. ... Falls es an dem Abend etwas zu genießen gab, dann nicht die lang ersehnte Gedankenpause, sondern lediglich das Grübeln selbst. Die eigentliche Spannung lag nicht in der Frage, wer Deutschland am Ende in Turin vertreten wird, sondern wie man mit dieser Situation umgehen wird. Und um das noch mal deutlich zu sagen: Es gibt da gerade keine gute Lösung, womit der ESC dann doch eine brillante Metapher für Europa ist."

Gerade in akuten Krisenzeiten wie diesen offenbart sich die ungebrochene Aktualität von Schuberts "Winterreise", schreibt Thomas Klielinger in der Welt und geht auf die Knie vor John Bridcuts für die BBC gedrehten Musikfilm, der den Bariton Benjamin Appl beim Durchstreifen dieser "Winterreise" in Szene setzt. "Entstanden ist ein Zwischending aus Liederabend und Bühnengeschehen", in jedem Fall aber "ein Geniestreich. ... Appl dehnt den steigenden seelischen Verfall des Protagonisten in ein Narrativ um Verzweiflung und psychische Krankheit." So "treffen uns Heutige diese Lieder mit ihrer bedrohlichen Direktheit. Das einschlägige Gespräch der Zeitgeschichte dreht sich um Phänomene der Entfremdung und der bröckelnden Balance, geistige Erkrankung nistet im Unterfutter der Krisen, in Krieg, Pandemie und Informationsverwirrung. ... Die 'Winterreise' ist durchzogen von gespenstischen Kontrasten der Stimmung und der Reflexion. Es ist das Milieu anno 2022, kein Zweifel."

Außerdem horcht Karl Fluch für den Standard in die österreichische Konzertbranche, die im März ihren Betrieb hochfahren will. Besprochen wird das neue Album "How is it that I Should Look at the Stars" von The Weater Station (Pitchfork).

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Architektur

Robert Mießner besucht für die taz die dem sowjetischen Architekten Boris Iofan gewidmete Ausstellung der Tchoban Foundation in Berlin.
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Bühne

Szene aus "Der Drang". Foto © Birgit Hupfeld


Im Münchner Residenztheater gab's am Wochenende eine Doppelpremiere mit "Der Drang" von Franz Xaver Kroetz und Eugene O'Neills "Gier unter Ulmen". Absicht war das nicht, "Der Drang" war coronabedingt zwei Jahre verschoben worden, aber "am Ende", erklärt Egbert Tholl in der SZ, "wirkt das eine wie ein Satyrstück, auf das die aus hartem Stein herausgehauene Tragödie folgt, beide Stücke spielen in hermetischen Systemen, in die die Lust, die Habgier, der Drang hereinbrechen. Einmal führt das zu einem, man kann es nicht anders sagen, grandiosen Herumgevögele, einmal zur völligen Zerstörung jedes möglichen Glücks." Lydia Steier ist für Kroetz Irrsinnskomödie gerade die richtige Regisseurin, findet Tholl, der einfach lachen muss, wenn die Mitzi über den Fritz herfällt, "weil sie ihn für einen Sadisten hält und das interessant findet, dann vögelt sie sich mit dem Otto gymnastisch anspruchsvoll durch alle Räume des Tortenstückhäuschens, bis die vor Eifersucht rasende Hilde mit dem Vorschlaghammer der Ausstattung den Rest gibt. Bei diesen Vorgängen leuchtet die süchtig machende Sprache von Kroetz in allen möglichen Kunstdialektfarben, alle vier spielen aufgedreht herrlich, und Liliane Amuat, die Mitzi, erweist sich als begnadet überlegene Komikerin. Der Erkenntniswert tendiert zwar gegen null, aber das Publikum kichert und gackert unentwegt".

Szene aus "Unter Ulmen". Foto © Birgit Hupfeld


Mit Evgeny Titovs Inszenierung von O'Neills "Unter Ulmen" kann Tholl dagegen nicht viel anfangen. Im Gegensatz zu FAZ-Kritikerin Teresa Grenzmann: "Titov führt das Publikum weg von O'Neills Handlungsort, dem Neuengland um 1850, weg von jedem vermeintlichen Idyll unter Ulmen. An dessen Stelle schuf Bühnenbildner Duri Bischoff nun schroffe schwarze Schieferfelsen als scharfkantige Endzeitkulisse, die im Gegensatz zu den assoziierten Eis- und Nebelmeeren Caspar David Friedrichs nichts romantisch Verheißungsvolles an sich hat. Dadurch verliert der Text das Amerikanische und gewinnt Spannung und Transzendenz." Und auch die "satte, archaische Bühnensprache" Titovs lobt sie.

Weitere Artikel: In der nachtkritik informiert die russische Theaterkritikerin Alla Shenderova über Reaktionen sowohl putinkritischer wie -treuer russischer Theatermacher auf den Krieg gegen die Ukraine. Patrick Wildermann berichtet im Tagesspiegel von Reaktionen Berliner Theatermacher, die den Kontakt zu ukrainischen wie russischen Künstlern halten - allerdings haben sie es auch "nicht mit den Netrebkos und Gergijews dieser Welt zu tun", sondern mit eher mit regimekritischen Theatermachern wie Kirill Serebrennikov.

Besprochen werden außerdem Katharina Thalbachs unpolitische Inszenierung der "Aida" in Dresden (nmz, SZ, FAZ, Welt), Andreas Homokis Inszenierung von Jaromír Weinbergers "Schwanda, der Dudelsackpfeifer" an der Komischen Oper Berlin ("Sattes Theater ist das, unterhaltsam in jeder Szene", versichert Nikolaus Hablützel in der taz), Eugen Engels Oper "Grete Minde" in Magdeburg (FR), Falk Richters Inszenierung von "Die Freiheit einer Frau" nach einem Prosatext von Edouard Louis als "campy-glamourösen Musical" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg (nachtkritik), Evgeny Titovs Inszenierung von Eugene O'Neills "Gier unter Ulmen" im Residenztheater München (nachtkritik), Elena Finkels und Anja Kożiks Inszenierung von Thomas Melles "Die Lage" am Hans Otto Theater Potsdam (nachtkritik), eine Neuproduktion der "Dreigroschenoper" am Theater Regensburg (nmz) und Trajal Harrells Choreografie "Deathbed" am Schauspielhaus Zürich (FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Louise Bourgeois, The Destruction of the Father. 1974-2017. Foto: Johee Kim

Darf man Louise Bourgeois' Kunst mit Freud psychologisch deuten? Sie selbst hat es dem Betrachter freigestellt, erklärt NZZ-Kritiker Philipp Meier, der sich in der von Jenny Holzer kuratierten Ausstellung im Kunstmuseum Basel lustvoll auf die Hassliebe der Bourgeois zu ihrem Vater und die tröstliche Beziehung zu ihrer Mutter wirft: "Louise Bourgeois, das ist Angst- und Erregungs-Chaos in einem, von der Künstlerin messerscharf zugerüstet, damit es Form und Gestalt annehme und schließlich zu Kunst werde. Selber beschwört sie dieses Chaos in zahllosen Tagebuchnotaten, von welchen die Text-affine Konzeptkünstlerin Jenny Holzer eine große Auswahl präsentiert: 'Ich habe Angst vor der Stille, vor der Dunkelheit, vor dem Fallen, vor der Schlaflosigkeit, vor der Leere.' Da spricht es wieder, das ewige Mädchen. ... Kunstschaffende seien gesegnet mit einer Macht der Sublimation, notierte sie einmal. Mit ihrem Geflecht aus lauter künstlerischen Sublimationsakten vermochte Louise Bourgeois das Chaos ihrer Ängste zu bändigen. Wo 'es' war, so würde Sigmund Freud sagen, wurde im Fall von Louise Bourgeois Kunst. Auf einem ihrer Stickerei-Bilder in Basel ist zu lesen: 'I have been to hell and back. And let me tell you, it was wonderful.'"

Weiteres: Birgit Rieger denkt im Tagesspiegel über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten kulturellen Austauschs in Zeiten des Krieges nach. Besprochen wird außerdem Peter Friedls Ausstellung "Report 1964-2022" in den Berliner Kunst-Werken (FR)
Archiv: Kunst