Efeu - Die Kulturrundschau

Ungreifbarkeit der Wirklichkeit

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02.03.2022. Die Zeitungen diskutieren über die Entlassung von Valery Gergiev. München wusste doch, wen es sich in die Stadt holt, erinnert die Zeit. Darf eine freiheitliche Welt Menschen vor die existenzielle Entscheidung zwischen Karriereende und Exil stellen?, fragt die NZZ. Moment, Gergiev ist kein Opfer, meint das VAN Magazin mit Blick auf die Liste der Verstrickungen des Dirigenten in Putins Kulturpolitik. Egal ist Putin die Öffentlichkeit im Westen sicher nicht, glaubt Deniz Yücel in der SZ. Das denkende und kritische Russland ist auf dem Weg in die völlige Dunkelheit, berichtet der Standard aus der russischen Kunstszene. Die FAZ ist hingerissen von dem großen Tier, das Paul Schrader mit "The Card Counter" geschaffen hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.03.2022 finden Sie hier

Musik

Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter hat seinen Ankündigungen Taten folgen lassen: Nachdem Valery Gergiev die von Reiter gesetzte Frist, sich bis zum Montag zu Russlands Krieg gegen die Ukraine zu äußern, verstreichen ließ, hat der SPD-Politiker dessen Engagement als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker beendet. An sich "ist dieser Schritt richtig und überfällig", kommentiert Florian Zinnecker auf ZeitOnline. Doch komme es auf die richtige Begründung an, schließlich wurde "hier "ein öffentlich subventionierter Künstler von seinem Dienstherrn rausgeworfen worden, weil er nicht das aus dessen Sicht Richtige denkt." Dabei wusste München, "wen sie sich in die Stadt holen, kritische Nachfragen und Bitten um Stellungnahme wurden abgetan und wegmoderiert." So dürfte das nun gestellte Ultimatum "offensichtlich viel weniger mit Gergijew zu tun haben als mutmaßlich mit der Befürchtung, das Image der Stadt München sowie die Beziehung zu anderen Vertragspartnern zu gefährden." Auch deshalb hat dieser Rauswurf "einen unangenehmen Beigeschmack von Heuchelei", findet Jan Brachmann in der FAZ.

Auch Christian Wildhagen meldet in der NZZ Zweifel an und fürchtet, dass russischen Künstlern im Westen künftig ein Offenbarungseid abverlangt werde. "Sofern der derzeitige Rigorismus in der Musikwelt anhält, bleibt für staatsnahe Künstler in Russland dagegen nur die Alternative zwischen einem Ende ihrer Karrieren im Westen oder dem Gang ins Exil. Darf eine freiheitliche Welt Menschen vor eine derart existenzielle Alternative stellen? Die Frage ist moralisch weit schwieriger zu beantworten. Öffentliche Bekenntnisse gegen den Krieg sind leicht zu fordern, solange man deren persönliche Folgen unter einem Unrechtsregime nicht zu tragen hat." Vielleicht sollten Künstler ja aber auch gerade deshalb nicht mit Unrechtsregimen fraternisieren?

"In Deutschland beenden wir gerade künstlerische Karrieren von Menschen, die sich nicht oder nicht mehr politisch äußern möchten", ärgert sich Helmut Mauró  in der SZ. Gergievs "Pakt mit der Macht" sei lediglich kalkuliert gewesen: "Karriere gegen politische Hingabe". Und "heißt sein Schweigen, dass er zu Putin hält? Und wem steht zu, das zu beurteilen? ... Es gibt eben einen Unterschied, ob man ökonomische oder kulturelle Verbindungen kappt im Krieg. Es wird zu fragen sein, ob ein solcher Schritt Putin schadet. Oder uns. Oder der Kunstfreiheit."

Nein, Gergiev ist eben kein Opfer, denn der Dirigent "hat sich wie wenige klassische Musiker vor ihm mit der Macht eingelassen, von dieser profitiert und instrumentalisieren lassen", widerspricht Hartmut Welscher im VAN-Magazin und listet die beeindruckend lange Liste der Verstrickungen des Dirigenten in Putins Kulturpolitik auf. "Die Festivals, Orchester und Opernhäuser, die Gergiev jetzt ausladen oder Verträge mit ihm beenden, hätten als Begründung seine Komplizenschaft mit dem System Putin in allen Details erwähnen müssen. Es ist fahrlässig, dass sie dies nicht taten. So kann leichter die Mär konstruiert werden - und Abnehmer finden -, dass hier versucht werde, an einem Musiker ein Exempel zu statuieren, einfach nur, weil er Russe sei, oder von einem 'unpolitischen' Musiker eine politische Aussage zu erzwingen." Rainer Pöllmann pflichtet dem auf Dlf Kultur bei: "Wenn jetzt von Bigotterie die Rede ist und vom Furor der Tugendhaften: Bigott sind nicht die jetzigen Fragen. Die sind überfällig. Fragwürdig ist die Gleichgültigkeit in den vergangenen Jahren."

Marco Frei würdigt in der NZZ Gergievs Verdienste für München und stellt fest: "Wie die Stadt München aus einem millionenschweren Vertrag fristlos herauskommen möchte, ohne ein finanzielles Fiasko zu riskieren, das bleibt vorerst ein Geheimnis."

Außerdem: In der FR erinnert Klaus Walter an Lou Reed, der heute 80 Jahre alt geworden wäre. Besprochen werden OG Keemos Rapalbum "Mann beißt Hund" (Jungle World), das neue Album von Casper (Standard), ein von Vladimir Jurowski dirigiertes Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin mit russischer und ukrainischer Musik (Tsp, hier zum Nachhören), ein Konzert der Pianisten Leif Ove Andsnes und Marc-André Hamelin (Standard), das Comeback-Album der Tears for Fears (NZZ) sowie neue Popveröffentlichungen, darunter das lange angekündigte und nun wohl tatsächlich erscheinende Album "Saturday Afternoon Kung Fu Theater" von RZA und DJ Scratch: "Man fragt sich kurz, welches Jahr man hat, aber von RZA hatte eh niemand Hyperpop erwartet", schreibt SZ-Popkolumnistin Juliane Liebert. Wir hören rein:

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Literatur

1000 Schriftstellerinnen und Schriftsteller fordern in einer Petition ein Ende des Krieges in der Ukraine. Bloß eine symbolische Geste? Sicher, aber auch die sind sinnvoll, sagt der deutsche PEN-Präsident Deniz Yücel im SZ-Gespräch. "Ich glaube nämlich nicht, dass Wladimir Putin die Öffentlichkeit im Westen völlig egal ist. Sonst hätte er nicht einen ganzen Apparat von fremdsprachigen Medien aufgebaut und nicht das Prinzip der bezahlten Troll-Armee erfunden. ... Und wir reden diesmal nicht über die übliche Aufregung in Social Media, wo jeder sagt: Finde ich auch doof! Es geht jetzt um was. Es geht um einen Angriffskrieg auf ein Land mit 44 Millionen Einwohnern. Und jetzt, wo es um etwas geht, glaube ich, dass das Wort von Schriftstellerinnen und Schriftstellern über Ländergrenzen hinweg ein gewisses Gewicht hat im Sinne einer weltweiten Öffentlichkeit."

Außerdem: In der "10 nach 8"-Reihe auf ZeitOnline fordert Tanja Raich mehr Aufmerksamkeit für Schriftstellerinnen. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus John Irving zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Noemi Somalvicos "Ist hier das Jenseits, fragt Schwein" (ZeitOnline), Wolf Haas' neuer Brenner-Krimi "Müll" (Dlf Kultur), die Neuausgabe von Gianfranco Calligarichs "Der letzte Sommer in der Stadt" (NZZ), Kira Jarmysch "Dafuq" (SZ), Jan Bazuins "Tagebuch eines Zwangsarbeiters" (Tsp) und Gisela von Wysockis "Der hingestreckte Sommer" (FAZ).

Dlf Kultur dokumentiert ein Gedicht des russischen Dichters Alexander Delfinov, eine wütende Anklage Putins:

"Gospodin president, den infamen Befehl gaben Sie,
Man bläst Märsche, als ob Sie den Krieg schon gewonnen hätten,
Und obwohl Sie so viele betrügen, uns täuschen Sie nie,
Keine Mauer, kein Turm Ihres hohen Palasts wird Sie retten.
..."
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Film

Macht es sich nicht einfach: Oscar Isaac in Paul Schraders "Card Counter"

Mit "The Card Counter" meldet sich Altmeister Paul Schrader zurück. Oscar Isaac spielt darin professionellen Kartenspieler, der sich buchstäblich wie allegorisch nicht in die Karten blicken lässt. Es geht "um eine Welt höchstmöglicher Einsätze" und "Wirklichkeit heißt in diesem Film also Wahrscheinlichkeit, nicht Wahrheit", schreibt dazu Dietmar Dath hingerissen in seiner online nachgereichten FAZ-Kritik. Dieser Film ist "ein schwer atmendes, dunkles, großes Tier mit zusammengeschobenem Skelett, dessen Ausmessungen sich erst allmählich erkennen lassen. ... Um sich darin nicht zu verlaufen, braucht man den Erzählatem von Leuten wie Balzac, Dickens oder dem späten Paul Schrader. Sein neuestes Labyrinth ist, das verdient, wiederholt zu werden, moralisch gemeint: als Mahnung, es sich nie einfach zu machen, wo die Empfindungen stark und deutlich sind."

Szenen wie aus einem Mafiathriller: Der neue Batman gibt sich geerdet

Außerdem startet diese Woche mal wieder ein Reboot des "Batman"-Franchise. Unter der Regie von Matt Reeves darf diesmal Robert Pattinson in Maske nächtens durch Gothams Straßen patrouillieren. Diese Neuauflage ist "so düster und pessimistisch, als hätte man die Comicseiten in den Espresso französischer Existenzialisten getunkt", staunt Dominik Kamalzadeh im Standard. "Statt auf grellen Pop trifft man auf charismatische Genre-Visagen, wie man sie in einem Hardboiled-Krimi oder Mafiathriller erwarten würde. ... Reeves' Neuinterpretation überzeugt vor allem da, wo das Physische unterstrichen wird. Batman wirkt in keinem Moment wie ein digitales Hirngespinst. Die einzige Verfolgungsjagd mit Batmobil ist lang, hart, energetisch und brillant montiert. Wenn sich der Flattermann von einem Gebäude stürzt, fordert die Schwerkraft ihren Tribut - das tut weh."

Außerdem: Hollywood boykottiert Russland, meldet Susan Vahabzadeh in der SZ. In der NZZ empfiehlt Andreas Scheiner eine Georges Franju gewidmete Retrospektive im Filmpodium Zürich. Besprochen werden Ali Vatansevers "Saf" (SZ) und eine Ausstellung über die Animationsfilmpionierin Lotte Reiniger im Käthe-Kollwitz-Museum in Berlin (NZZ).

Und das hier dürfte dieser Tage mehr als einen Blick wert sein: Arte hat die ukrainische Comedyserie "Diener des Volkes" online gestellt - die Serie also, in der Wolodymyr Selenskyj, ein paar Jahre bevor er ukrainischer Präsident wurde, den ukrainischen Präsidenten spielte.
Archiv: Film

Bühne

An eine andere, längst nicht beendete Katastrophe wird Verena Lueken (FAZ) beim Augsburger Brechtfestival im Film "Das fünfte Rad" erinnert. Produziert wurde er von Regisseur Robert Schuster gemeinsam mit zwölf afghanischen Theatermacherinnen, die sich zum Simorgh Theater zusammengeschlossen hatten. Aktuell ziehen sie von Versteck zu Versteck: "Das Simorgh Theater entstand 2005 in Herat, und es ging vor allem darum, Mädchen und Jungen gemeinsam auf der Bühne spielen zu lassen, um Theater für ein Publikum zu machen, das ebenfalls nicht ausschließlich aus Männern bestand. Eine Texteinblendung informiert darüber, wie diese Arbeit bereits zehn Jahre vor der erneuten Machtübernahme der Taliban von religiös konservativen Kräften hintertrieben, behindert und letztlich unmöglich gemacht wurde, mitten in der Zeit des westlichen Engagements für künstlerische Freiheit in Afghanistan also. Doch die Frauen arbeiteten weiter, in unterschiedlichen Konstellationen und unter wechselnden Namen, sie traten in Waisenhäusern auf und in Frauengefängnissen und, so steht da zu lesen, sogar vor inhaftierten Talibankämpfern. Was würden wir sehen, wenn das jemand gefilmt hätte?"

Im Standard berichtet Margarete Affenzeller, was Direktorin Marie-Theres Amborn für das Wiener Theatermuseum plant. Im großen Zeit-Gespräch mit Peter Kümmel spricht Eva Mattes über nackte Frauen und Männer auf der Bühne, "toxische" Hierarchien und Cancel Culture "Heute gehen wir wieder in Richtung einer gewissen Bravheit und Angepasstheit." Ebenfalls in der Zeit begrüßt Andrea Heinz das Projekt des Wiener Schauspielhauses, das sich für einige Monate in ein "Hotel der Künste" verwandelte. Besprochen wird Jette Steckels Inszenierung von Nino Haratischwilis "Das mangelnde Licht" am Thalia Theater Hamburg (taz).
Archiv: Bühne

Kunst

Szene aus Burkhard Schittnys Videoarbeit "Dignity". Bild: Burkhard Schittny

Nach Stationen in Belgrad, Novi Sad, Tirana, Podgorica und Augsburg ist die vom Goethe Institut Serbien initiierte Ausstellung "Missing Stories" über Zwangsarbeit unter der NS-Herrschaft nun im Berliner Willy-Brandt-Haus zu sehen, berichtet Hanno Rehlinger im Tagesspiegel. Die "Ungreifbarkeit der Wirklichkeit" werde in den künstlerischen Positionen deutlich, meint er: "So auch '186 Breaths' von dem Künstlerduo Milica Milićević und Milan Bosnić. Bosnićs Großvater war Zwangsarbeiter im Steinbruch des österreichischen KZs Mauthausen. Die 186 Steinstufen der sogenannten 'Todesstiege' rieb das Duo mit Bleistift auf Papier. Durch diese 186 Frottagen wird die Treppe, die sich die ZwangsarbeiterInnen mit bis zu 50 Kilogramm Steinen beladen hochkämpfen mussten, im Willy-Brandt-Haus unmittelbar anschaulich. Bosnić Großvater verstarb kurz nachdem die beiden mit ihm über seine Erfahrung gesprochen hatten."

"Das denkende und kritische Russland ist … auf dem Weg in die völlige Dunkelheit", schreibt Herwig G. Höller im Standard mit Blick auf die beginnenden Sperrungen sozialer Netzwerke und die mutmaßliche Zerschlagung der letzten freien Medien in Russland. Die Staatlichen Museen in Russland machen derweil Dienst nach Vorschrift, einige Künstler unterzeichneten eine vom Moskauer Kurator Andrej Jerofejew initiierten Erklärung: "Es reiche nicht, 'Kein Krieg!' zu proklamieren. 'Wir treten für einen sofortigen Rücktritt von Wladimir Putin als Präsident der Russischen Föderation ein: Geht Putin, hört der Krieg auf. Bleibt Putin, geht die Abschlachterei weiter', heißt es."

"Meine russischen Freunde baten: Bitte schneidet uns nicht ab", sagt im SZ-Gespräch mit Catrin Lorch die ukrainische Künstlerin Alevtina Kakhidze zur Überlegung, das kulturelle Leben aller Russen zu boykottieren. Sie berichtet aus der Ukraine: "Der Grad an Patriotismus ist gerade verrückt. Es ist wie damals auf dem Maidan während der Proteste: Alle teilen die gleiche Gefühlslage, fühlen sich vereint. Wir Ukrainer haben jetzt in 30 Jahren drei Revolutionen erlebt, der Angriff ist wie ein Update. Die Annexion der Krim, die Kämpfe in der Ostukraine, das ist alles miteinander verbunden - das geht bereits seit Jahren so."

Außerdem: Im Tagesspiegel erfährt Birgit Rieger von den neuen Chefs des Hamburger Bahnhofs, Sam Bardaouil und Till Fellrath, was sie planen: "Man will als Institution der Nationalgalerie auch stark mit den anderen Häusern der Nationalgalerie kooperieren, dabei den Schwerpunkt auf das Zeitgenössische, Fluide, Entdeckerische setzen." Ebenfalls im Tagesspiegel blickt Bernhard Schulz auf "100 Jahre Elektrizität" in der Ausstellung "Kinetismus" in der neu eröffneten Prager Kunsthalle. In der SZ erinnert Till Briegleb an das von Judy Chicago und Miriam Shapiro vor fünfzig Jahren "Womanhouse", das heute als "Urquelle feministischer Kunst und weiblicher Selbstermutigung" gilt.

Besprochen werden die Ausstellung "Alte Neue Welt" mit Fotografien von Andreas Feininger im Städtischen Museum Braunschweig (taz), die Ausstellung "Walk"! in der Frankfurter Schirn (FR) und die Ausstellung "Renoir - Rococo Revival. Der Impressionismus und die französische Kunst des 18. Jahrhunderts" im Frankfurter Städel (FAZ).
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Architektur

Ziemlich verschnupft reagiert Wolf Prix vom Wiener Architekturbüro Coop Himmelb(l)au auf die Frage, ob er sich nicht von der von ihm in Sewastopol geplanten - und inzwischen im Bau befindlichen Oper distanzieren möchte, berichtet Gerhard Matzig in der SZ: "Prix sagt, er baue ja keine Kaserne, sondern eine Oper - und Kulturprojekte unterliegen auch nicht den Embargobestimmungen. Und die Moral? Die findet Prix angesichts des Paktierens der Konzerne mit allen möglichen Schurken mindestens doppelbödig. Im globalen Maßstab. Und mit Blick auf die Putinversteher-Historie Deutschlands, das aktuell gar nicht blaugelb genug sein kann, kommt man zumindest ins Nachdenken."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Prix, Wolf, Coop Himmelb(l)au