Efeu - Die Kulturrundschau

Kunst kann eine Waffe sein

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01.03.2022. Aktualisiert: Die Münchner Philharmoniker haben Valery Gergiev entlassen. Darf die Politik Künstler zu politischen Statements zwingen?, fragt die SZ. Bigott findet das die Berliner Zeitung. Die NZZ warnt vor "moralischem Rigorismus". In ukrainischen Theatern werden derweil Molotow-Cocktails aus Requisitenflaschen und Tarnnetze aus Kostümen gemacht, erfährt die nachtkritik aus zwei Briefen aus der Ukraine. Die taz bewundert in Essen fulminante Renoirs, Monets und Gauguins aus Japan. Und die SZ lässt sich von Francis Bacons "zähnefletschenden Zombies" in London überwältigen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.03.2022 finden Sie hier

Musik

Update, 10:09 Uhr: Eilmeldungen zufolge hat Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter den Chefdirigenten der  Münchner Philharmoniker Valery Gergiev entlassen.
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Valery Gergievs einst vollgepackter Terminkalender lichtet sich mit jedem Tag, die der russische Krieg in der Ukraine andauert. Nun hat sich auch seine Agentur von ihm getrennt, ein Ultimatum des Münchner Oberbürgermeisters - Stellungnahme, sonst ist Gergiev Chefdirigent der Münchner Philharmoniker gewesen - ließ der Dirigent verstreichen. Mit einer Distanzierung von Putin rechnet SZ-Kritiker Egbert Tholl allerdings eh nicht: Der Dirigent befinde sich in einem "Dilemma. Entweder verzichtet er auf seine internationale Karriere oder auf seine Position in Russland, nicht nur in St. Petersburg, wo Gergiev das Mariinski-Theater leitet und berufliche Existenzen mit seiner verbunden wird." Zudem dürfte ein Rauswurf München einiges kosten: "Gesinnung ist ein delikater Kündigungsgrund. Im Zweifelsfall müsste Gergiev wohl ausbezahlt werden. Mal ganz zu schweigen von der wirklich heiklen Frage, ob, wann und inwiefern die Politik Künstler zu politischen Statements zwingen darf."

Für eine große Dreistigkeit hält Peter Uehling von der Berliner Zeitung das Münchner Ultimatum: "Statt das Publikum entscheiden zu lassen, ob es Gergiev weiterhin sehen will", werde versucht, "ihn zu einem Bekenntnis für oder gegen den Krieg zu zwingen. Ob das dem kulturellen Repräsentanten einer lupenreinen Diktatur gegenüber sinnvoll ist, sei bezweifelt, es liegt indes im Trend unserer ambiguitätsfeindlichen, Meinungsfreiheit kaum noch ertragenden Kultur. Bigott ist es zudem, weil man die Problematik vorher schon kannte. Warum es erst eines Krieges bedarf, um sicher zu sein, dass Putin ein Verbrecher ist und Gergiev ein Problem, ist rätselhaft."

Auch Christian Wildhagen zeigt sich in der NZZ skeptisch, was die Dynamik der Absagen an Gergievs Adresse betrifft: "Man sollte sich in der aufgeheizten Situation vor moralischem Rigorismus hüten. ... Schon jetzt gibt es politischen Druck auf Veranstalter, nunmehr allen vermeintlich oder erwiesen putin-nahen Künstlern ihre Auftrittsmöglichkeiten im Westen zu nehmen. Doch wer entscheidet darüber, was 'zu' nah ist? In einem Land mit Kunstfreiheit kann dies nicht Aufgabe des Staates sein." Zudem könne eine erzwungene Distanzierung für die Künstler "nicht nur Exil und persönliche Bedrohung bedeuten, sondern darüber hinaus eine Gefährdung von Angehörigen, die in der Heimat bleiben müssen."

Putins Invasion weckt bei der georgischen Geigerin Lisa Batiashvili Erinnerungen an den Georgienkrieg in den Nullerjahren. Dass Künstler sich politisch äußern müssen, findet sie zwar nicht, sagt sie im SZ-Interview. Doch benutzen auch "viele Künstler ihr Künstlertum als Ausrede." Dabei gebe es "entscheidende Momente, in denen wir mitreden müssen. ... Gestern habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass in meinem Umfeld, unter Musikern, eine Art Bewusstsein erwacht ist. Es geht nicht darum, gegen jemanden zu sein, sondern darum, für Werte zu stehen wie Freiheit und Demokratie und die zu schützen, auch wenn es manchmal nur mit einem Wort ist. Wir sind es unserer europäischen Welt wirklich schuldig. Als ich in Georgien aufwuchs, hatte mein Vater das große Glück, dass er mit seinem Streichquartett reisen durfte. Zu Hause hat er dann von diesen Reisen erzählt, über meinem Bett hing eine Weltkarte, und ich träumte davon, einmal Teil des europäischen Lebens zu sein."

Für Befremden sorgt derweil auch Paavo Järvi, der am Samstag in Moskau ein Konzert des noch dazu dem Kreml unterstehenden Russian National Youth Orchestras dirigiert hat, während die Ukraine unter Beschuss stand. Er sei noch vor den kriegerischen Auseinandersetzungen ins Land gereist, habe ein Zeichen setzen und gegenüber den jungen Musikers des Orchesters nicht illoyal sein wollen, rechtfertigt der Dirigent den Abend. "Als gebürtiger Este hätte Järvi wissen können und wissen müssen, wie aufgeheizt die Situation bereits vor Kriegsbeginn am Donnerstag war", meint Marco Frei in der NZZ. "Dass inmitten der Kriegshandlungen ein Dirigent aus dem Westen ein Konzert in Moskau dirigiert hat, könnte von russischer Seite leicht propagandistisch ausgeschlachtet werden und das künstlerische Renommee des Dirigenten beschädigen."

Außerdem: In der NZZ erinnert Luzi Bernet an den italienischen Cantautore Lucio Dalla, der vor zehn Jahren gestorben ist. Besprochen werden ein von Vladimir Jurowski dirgierter Abend beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin mit ukrainischer und russischer Musik (SZ) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter Barock-Aufnahmen des Geigers Théotime Langlois de Swarte: ein "Bekenntnis zu einer strahlenden, humanen Zukunft", schwärmt Reinhold J. Brembeck in der SZ. Wir hören rein:

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Bühne

Viele ukrainische Theaterschaffenden schließen sich der territorialen Verteidigung an, um der ukrainischen Armee beim Widerstand gegen die russischen Streitkräfte zu helfen, schreibt die Theaterkritikerin Lena Myhashko in der nachtkritik in einem Theaterbrief aus Kiew: "Seit dem ersten Tag der russischen Invasion haben wir mehr als 30 Einheimische und sechs Katzen beherbergt, Proberäume und Aufführungsbereiche werden in Schlafzonen umgewandelt. Die Atmosphäre ist nett und freundlich: Requisitenflaschen des Theaters stehen für Molotow-Cocktails bereit. Bewohner:innen der Theaterherberge haben einen Tik-Tok-Kanal - DSP News - eingerichtet, der die russischen Besatzungsbemühungen verspottet. Kunst kann eine Waffe sein", sagt ihr etwa Alex Borovenskyi, ein Einsatzleiter, der nicht möchte, dass der Name des Theaters genannt wird.

"Es wäre absurd, über Kunst zu sprechen …, wenn man nicht weiß, ob man am Leben bleibt", schreibt indes der Theaterkritiker Oleksii Palianychka ebenfalls in der nachtkritik in einem Theaterbrief aus Lwiw. Er zitiert etwa Olga Puschalowskaja, Direktorin des Lwiwer Drama-Theaters Lesja Ukrainka: "Derzeit organisiert unser Theater aktiv Unterkünfte für den Fall eines Beschusses und baut ein Zentrum für Geflüchtete auf. Heute haben wir alle Kostüme und Stoffe daraufhin durchgesehen, ob sie sich zum Weben von Tarnnetzen eignen. Wir bereiten auch ein Gebäude für den Verteidigungskampf vor, falls Lviv okkupiert werden sollte."

Außerdem: Im taz-Interview spricht die Regisseurin und Schrifstellerin Judith Kuckart über ihr Theaterstück "Kommt ein Clown in ein Hotel", das im Bremer Theater am Leibnizplatz zu sehen sein wird.
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Literatur

Die Probleme, die Kristen Roupenian hat, möchte man vielleicht auch mal haben: In ihrer SZ-Kolumne klagt die mit der Story "Cat Person" bekannt gewordene US-Autorin darüber, dass sie heute einen Wohlstand genießt, den sie sich vor fünf Jahren noch nicht einmal zu wünschen getraut hätte. Aber hat sie das viele Geld im Sinne des Wortes wirklich verdient? "Realistisch gesehen könnte ich die zeitgemäßeste, interessanteste, provokanteste Short Story schreiben, die je im Laufe der Geschichte der Menschheit produziert worden ist, und den Fall ausgenommen, dass die Blackbox des Twitter-Algorithmus ihren besonderen Zauber ein zweites Mal zur Anwendung bringt, wird diese Story ziemlich genau so viel Aufmerksamkeit bekommen wie die zweitcoolste, -zeitgemäßeste, -interessanteste, -provokanteste Short Story aller Zeiten, aka ziemlich genau keine."

Außerdem: Niklas Bender schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Literaturwissenschaftler Harald Weinrich. Besprochen werden unter anderem Yasmina Rezas "Serge" (online nachgereicht von der FAZ), Abbas Khiders "Der Erinnerungsfälscher" (taz), Doron Rabinovicis "Die Einstellung" (SZ), die Autobiografie des Reporters Richard Arnold Bermann (Zeit), Judith Kuckarts "Café der Unsichtbaren" (FR), Matthias Lohres "Der kühnste Plan seit Menschengedenken" (taz), Garth Greenwells "Reinheit" (Welt) und Tomer Gardis "Eine runde Sache" (FAZ).
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Film

Star Wars, Star Trek, Herr der Ringe: Über nichts wird im filmaffinen Netz so leidenschaftlich, polarisierend und ausdauernd gestritten wie über die Entwicklungen großer Blockbuster-Franchises. Dass das seinen Grund nicht nur in enttäuschten Alt-Fans mit zu viel Zeit hat, sondern auch von Putins Bot-Armeen lanciert sein könnte, dafür hat nun eine Studie Hinweise gesammelt, berichtet Nicolas Freund in der SZ. Auf den ersten Blick wirken solche Manöver nicht recht plausibel, doch "tatsächlich sind diese Filme das perfekte Ziel, um Unruhe zu stiften", da sie "oft sehr emotional aufgeladen" sind und Fans rasch polarisieren, gerade bei Diversity-Fragen. "Diese Debatten anzuheizen lässt sie nicht nur größer erscheinen, als sie sind, sondern polarisiert auch die westlichen Gesellschaften noch weiter und erreicht vor allem auch Schichten, die sich nicht für politische Debatten interessieren und deswegen auf normale Propaganda oder Provokationen nicht reagieren."

Außerdem: Für die SZ wirft Oliver Meiler einen Blick nach Italien, wo die Kinos ganz besonders unter den Coronamaßnahmen zu leiden haben und zahlreiche Häuser bereits schließen mussten. Für einen Filmfilter-Essay sägt sich Benjamin Moldenhauer einmal durch einen Regalmeter voller "Texas Chainsaw Massacre"-Filme - den aktuellen Film der Reihe bespricht Thomas Groh im Perlentaucher. Vor 100 Jahren erschien F.W. Murnaus "Nosferatu", erinnert uns Karsten Laske im Freitag.

Besprochen werden Kaouther Ben Hanias "Der Mann, der seine Haut verkaufte" (Jungle World), die SF-Serie "Severance" (ZeitOnline), die Horrorkomödie "Studio 666" von den Foo Fighters (Presse), das Nachwende-Drama "Das Mädchen mit den goldenen Händen" mit Corinna Harfouch (Intellectures) und die im ZDF gezeigte Serie "Normaloland" (FAZ).
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Kunst

Bild: Paul Gauguin. Bretonische Tangsammlerinnen (II), 1889

Das Essener Folkwang Museum feiert mit der Ausstellung "Renoir, Monet, Gauguin. Bilder einer fließenden Welt" sein hundertjähriges Bestehen und stellt der impressionistischen Sammlung von Folkwang-Gründer Karl Ernst Osthaus Werke aus der Sammlung des japanischen Unternehmers Kojiro Matsukata gegenüber, der mit Osthaus nicht nur die Vorliebe für Impressionisten, sondern auch die Idee der kulturellen Teilhabe teilte, weiß Regine Müller in der taz, die die "sinnliche", "erhellende" Schau unbedingt empfiehlt: "Rund 120 Gemälde, Plastiken, japanische Drucke sowie eigens in Auftrag gegebene Installationen der japanischen Gegenwartskünstlerinnen Chiharu Shiota und Tabaimo bilden einen dichten Parcours, der die Entwicklung beider Sammlungen durch thematische Gegenüberstellungen nachvollziehen lässt. Während Osthaus etwa von Paul Gauguin Bilder aus der Reihe der späten, ikonischen Südseebilder sammelte, bevorzugte Matsukata das Frühwerk Gauguins, das in erdigen Tönen in der rauen Bretagne entstand. Schon allein für die große Zahl an Werken der im Ausstellungstitel genannten drei Künstler Renoir, Monet und Gauguin, die aus Japan kommen und für die europäischen Augen sozusagen 'neu' sind - wie etwa Monets großformatiges, fulminantes Ölbild 'Sur le bateau' - lohnt der Weg nach Essen." In der FR kann Ingeborg Ruthe ihren Blick vor allem kaum von Renoirs Bildnis der Lise Tréhot lösen.

Bild: Francis Bacon, Study for Chimpanzee, 1957.  Peggy Guggenheim Collection, Venice Solomon R. Guggenheim Foundation, New York Photo © David Heald (NYC) © The Estate of Francis Bacon. All rights reserved. DACS 2022. 

So überwältigt wie beklommen kommt Alexander Menden (SZ) aus der Francis-Bacon-Ausstellung "Man and Beast" in der Londoner Royal Academy of Arts, in der ihm "schiere Fleischlichkeit" und "zähnefletschende Zombies" in den zwischen Mensch und Tier mäandernden Werken begegnen. Etwa in der "Gestalt eines sich auf allen vieren fortbewegenden 'gelähmten Kindes'. Das Unbehagen, das den Betrachter angesichts dieser Animalisierung eines als beschädigt und offenkundig minderwertig angesehenen Körpers überkommt, war womöglich ausnahmsweise keine der typischen Bacon-Provokationen. Es geht vielmehr einher mit dem Wandel der Sicht auf die Hierarchisierung und Stigmatisierung von Körpern, die bis in das 20. Jahrhundert hinein Standard war. Anders verhält es sich mit 'Mann, der im Gras kniet' (1952), einer Leihgabe der Münchner Pinakothek der Moderne. Bacon hatte gerade eine Reise nach Südafrika unternommen. Er war fasziniert von den trockenen, kargen Grasflächen und begeistert von den Tieren, die sich auf ihnen bewegten. Der nackte Mann im Gras, bar allen zivilisatorischen Schutzes, wird auf die Verletzlichkeit und Offenheit eines Tieres reduziert."

Außerdem: Der russische Pavillon soll bei der Biennale in Venedig geschlossen werden, meldet Birgit Rieger im Tagesspiegel. Die Künstler Kirill Savchenkov und Alexandra Sukhareva sagten ihre Teilnahme ab, der litauische Kurator Raimundas Malasauskas trat von seiner Aufgabe zurück: "Der Krieg sei politisch und emotional unerträglich, schreibt der Litauer. Er habe das Leben unter dem Sowjetregime in der Zeit vor 1989 erlebt. Der Gedanke unter russischer Herrschaft oder unter irgendeiner anderen Macht leben zu müssen, sei schlicht unakzeptabel." Die mit insgesamt 60.000 Euro dotierten Kunstpreise der Stiftung Preußische Seehandlung gehen in diesem Jahr an den Autoren Steffen Mensching, die Theaterintendantin Amelie Deuflhard und den Schriftsteller und Schauspieler Hanns Zischler, meldet der Tagesspiegel. Im Standard berichtet Olga Kronsteiner vom Restitutionsstreit um Gustav Klimts Gemälde "Apfelbaum II", auf das zwei Erbengemeinschaften Anspruch erheben.

Besprochen wird die Christoph-Hänsli-Ausstellung "Panikbeleuchtung" in der Berliner Galerie Judin (taz) und die Ausstellung "Eine neue Kunst - Photographie und Impressionismus" im Potsdamer Museum Barberini, die Karlheinz Lüdeking in der FAZ zum grundsätzlichen Nachdenken über beide Medien anregt.
Archiv: Kunst