Efeu - Die Kulturrundschau

Das Einbeziehen der Farbe Grün

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31.01.2022. Die SZ beobachtet, wie sich der Berliner Kunstbetrieb auch über den neuen Versuch einer Kunsthalle zerlegt. Die FAZ verteidigt den palästinensischen Architekten und Fotografen Yazan Khalili. Die NZZ sieht den Platz der Literatur nach wie vor nicht an der Seite der Politik, sondern gegenüber. Die Nachtkritik amüsiert sich in Basel ganz vorzüglich mit der mordenden Penthesilea. Der Tagesspiegel ahnt, dass sich Erdogan mit seinem Angriff auf die Sängerin Sezen Aksu die Falsche ausgesucht hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.01.2022 finden Sie hier

Kunst


Yazan Khalili: Apartheid Monochromes, 2017

In der FAZ blickt Josesph Croitoru näher auf die Arbeiten des palästinensischen Architekten und Fotografen Yazan Khalili, der mit seinem zur Documenta eingeladenen Künstlerkollektivs The Question of Funding ins Kreuzfeuer der Kritik geraten ist. Croitoru sieht hier einen Künstler, der hier nicht nur die israelische Besatzung in den Blick nimmt, sondern auch selbstkritisch palästinensische Opfernarrative: "Selbst dort, wo Khalili wie in 'Apartheid Monochromes' von 2017 israelische Besatzungspraktiken verurteilt, fehlt Selbstkritik nicht. Die sechs monochromen Tafeln spielen auf die verschiedenfarbigen Personalausweise an, die Palästinenser seit 1967 je nach Wohnregion von Israel erhielten. Als 'Apartheid' geißelt Khalili hier nicht nur die israelische Kontrolle, sondern auch die Spaltung und Hierarchisierung, zu der diese 'Farbenpolitik' in der palästinensischen Gesellschaft führte. Das Einbeziehen der Farbe Grün ist kritischer Kommentar zum - wenn auch von Israel diktierten - Vorgehen der Palästinensischen Autonomiebehörde: Ihre Ausweise sind grün, ausgerechnet jene Farbe, so Khalili, welche die Israelis früher für Häftlingsausweise verwendet hätten." (In der FR sehen der israelische Botschafter Schimon Stein und der Historiker Moshe Zimmermann Deutschland im Kampf gegen den Antisemitismus ganz auf dem Holzweg, mehr dazu in 9Punkt.)

Auch mit dem neuesten Versuch, Berlin eine Kunsthalle zu geben, wird SZ-Kritiker Peter Richter nicht glücklich. Kurator Walter Smerling, der den Hangar 3 des Flughafen Tempelhofs bespielt und sich vor allem aufs "Amalgamieren von Großkünstlern, Großsponsoren, Großsammlern und Kunstgroßhändlern" verstehe, wie Richter weiß, habe den Kunstbetrieb eher verstört als beglückt: "So kursierte unter Berliner Kunstbetriebsangehörigen in den letzten Tagen ein Internet-Aufruf zum Boykott der 'Kunsthalle Berlin': 'Statt als Initiative betrachtet werden zu können, die im Interesse der Kunst-Community Berlins im weiteren Sinne liegt', müsse diese neue 'Kunsthalle' als 'zynisches, neoliberales Vehikel' bezeichnet werden, 'das wesentlich dazu dient, Status und Privatvermögen derer zu steigern, die damit zu tun haben.' Bei solchen Anlässen zeigt sich natürlich auch die zunehmend unversöhnlichere Spaltung der Kunstwelt in ein marktbasiertes und ein eher an kulturalistischen Fragen und öffentlichen Töpfen orientiertes Lager. Dort kursierte daher zusätzlich die Frage, welchem "alten, weißen Mann" Smerling den Teppich hier nun als Erstem ausrollen werde: Lüpertz? Baselitz? Den Liköraquarellen von Udo Lindenberg?"
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Bühne

Komisch: Aenne Schwarz als in der Pnethesilea. Foto: Lucia Hunziker

Nach Eva Trobischs "Penthesilea"-Inszenierung am Theater Basel notiert Thomas Rothschild in der Nachtkritik ziemlich irritiert, dass er bei Kleists Trauerspiel selten so gelacht habe. Denn eigentlich steht diese Heroine vor einem Problem: "Wie argumentieren, wenn die Frau ihre Stärke just mit Eigenschaften und Mitteln bestätigt, die Männern zu Recht als negativ angekreidet wird? Wie lässt sich die Ausübung von (mörderischer) Gewalt, die als typisch männlich verurteilt wird, ins Positive wenden, wenn sie einer Frau zugeschrieben wird? Dieses Problem stellt sich jeder Regisseurin, jedem Regisseur bei einer Inszenierung von Kleists wohl vertracktestem Drama. Eva Trobisch, die als mehrfach preisgekrönte Filmemacherin mit dieser 'Penthesilea' erstmals am Theater inszeniert, löst das Problem, indem sie es ignoriert. Der komödiantische Ansatz nimmt dem Stück trotz und mithilfe der blutüberströmten Protagonist:innen seine Schwärze. Und ersetzt den Schrecken - siehe oben - durch Lachen."

Besprochen werden Heinrich Kleists "Verlobung in St. Domingo" im Theater Willy Praml (FR), Frank Castorfs Inszenierung von Irina Kastrinidis' Text "Schwarzes Meer" am Landestheater Niederösterreich (die Martin Pesl in der Welt nicht mal als Familienunternehmung goutieren mag) und Necati Öziris Persiflage auf Richard Wagners 'Ring des Nibelungen' am Zürcher Schauspielhaus ("jung, divers, verwöhnt" findet Ueli Bernays in der NZZ die Unternehmung).
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Architektur

Genossenschaftliches Wohnhaus San Riemo. Foto: Summacumfemmer 


Gerhard Matzig berauscht sich in der SZ an den vielen Preisen, die Münchens ArchtektInnen auf einmal einheimsen, wo die Stadt doch Jahrzehnte lang baulich in der Regionalliga spielte. Jetzt glänze München mit preiswürdiger Architektur: "Dafür spricht zum Beispiel das Projekt 'San Riemo'. Dem von der Arbeitsgemeinschaft Summacumfemmer und Juliane Greb realisierten Wohnhaus in der Münchner Messestadt Riem wurde der DAM-Preis 2022 zuerkannt. Das genossenschaftlich organisierte und von den genialischen Grundrissideen her auf die offene Wohnzukunft einer sich immer schneller verändernden Gesellschaft zielende Wohnhaus darf jetzt als 'Bauwerk des Jahres' in Deutschland gelten."
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Stichwörter: Dam-Preis

Literatur

Paul Jandl hält in der NZZ sehr wenig vom Vorschlag einer Parlamentspoetin, wie er kǘrzlich laut gemacht wurde, und erinnert in einem historischen Rückblick lieber an die Zeit, als Schriftsteller noch Glorie im Antagonismus gesucht haben: "Die Geschichte der politischen Literatur in Deutschland ist eine Geschichte der weihevollen Abneigung. Die Enzensbergers, Bölls und Walsers haben sich in der Ästhetik des Widerspruchs inszeniert. Was sie schrieben, sollte gegen einen Staat gerichtet sein, der nicht zuletzt durch seine Sprache desavouiert war." Heute aber "steht zu befürchten, dass manche Parlamentarier in der plötzlichen Umarmung durch die Literatur etwas Sphärenübergreifendes erkennen: dass beide eine Agenda haben. Womöglich sogar die gleiche. Literaten seien 'Zeitgeist-Seismografen', hat die Erfolgsschriftstellerin Juli Zeh in ihrer Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis gesagt. Vermutlich ist das auf unangenehme Weise wahr."

Außerdem: Für ZeitOnline spricht Sebastian Moll mit dem Schriftsteller Joshua Cohen über dessen neuen Roman "Witz" und die jüdische Literaturgeschichte. Für ZeitOnline spricht Carmen Eller mit Paul Auster über den Schriftsteller Stephen Crane, von dem sein neuer Roman handelt (mehr über Auster und Crane bereits hier). In dem absurden Verbot von Art Spiegelmans Holocaustcomic "Maus" für den US-Bundesstaat als Schullektüre zeigt sich Andreas Busche vom Tagesspiegel, "dass der in rechten Kreisen beliebte Kampfbegriff 'Cancel Culture' tatsächlich eine rechtspopulistische Praxis ist". Sehr lesenswert zur "Maus"-Kontroverse ist auch dieser Twitterthread der Autorin Gwen C. Katz. Kurt Palm liest für den Standard nochmal James Joyce' "Ulysses", der am 2. Februar vor 100 Jahren erschienen ist. Vor 70 Jahren hatte das Comictier Marsupilami seinen ersten Auftritt, schreibt Lars von Törne im Tagesspiegel.

Besprochen werden Bernardine Evaristos "Manifesto. Warum ich niemals aufgebe" (SZ), Bei Daos "Das Stadttor geht auf" mit Erinnerungen an seine Jugend in Peking (NZZ), Carlo Lucarellis Krimi "Der schwärzeste Winter" (online nachgereicht von der FAZ) und eine Neuausgabe von Albert Ehrensteins "Tubutsch" aus dem Jahr 1911 (Standard).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Christoph Buch über William Shakespeares 116. Sonett:

"Vom Treuschwur freier Geister lass dich nie
durch mich entbinden. Nicht Liebe lieb ich, die..."
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Film

Matti Geschonnecks im Allgemeinen sehr positiv besprochenem ZDF-Film "Die Wannseekonferenz" sollte man mit seinem realistischen Anspruch skeptisch begegnen, kommentiert Hellmut Butterweck im Standard: Der Film basiert im wesentlichen auf einem Konferenzprotokoll, das von Adolf Eichmann und Reinhard Heydrich stark redigiert wurde. Eichmanns Äußerungen, dass dieses "Protokoll von Heydrich und ihm so redigiert wurde, dass man sich auf keinen Satz mehr verlassen kann, darf man glauben. Regisseur Matti Geschonnek und seine Schauspieler haben also keine Wirklichkeit verfilmt, sondern ein Drehbuch nach den Wünschen von Heydrich. Wir werden nie erfahren, ob sich nicht doch der eine oder andere Teilnehmer ganz anders äußerte. An diese Möglichkeit sollte jeder, der diesen Film sieht, denken."

Außerdem: Barbara Schweizerhof resümiert für ZeitOnline das Sundance Filmfestival, bei dem diesmal sexpositive Filme einen Schwerpunkt bildeten. Christine Dössel (SZ) und Peter von Becker (Tsp) gratulieren dem Schauspieler Michael Degen zum 90. Geburtstag. Die Welt hat Elmar Krekelers Porträt des Schauspielers André Kaczmarczyk online nachgereicht. Und eine traurige Nachricht für alle Freunde des asiatischen Kinos: Michael Schleeh, der seit vielen Jahren mit unermüdlicher Leidenschaft und Ausdauer über Filme und Bücher aus den asiatischen Ländern bloggte, ist gestorben. Sein letztes Projekt war ein Podcast über die Filme von Keisuke Kinoshita, dessen Folgen an dieser Stelle kontinuierlich veröffentlicht werden.

Besprochen werden Paul Thomas Andersons "Licorice Pizza" (Freitag, unsere Kritik hier), Hauke Wendlers Dokumentarfilm "Monobloc" über den Erfolg eines weißen Plastikstuhls (taz, online nachgereicht von der WamS) und die Science-Fiction-Serie "Station Eleven" nach dem gleichnamigen apokalyptischen Roman von Emily St. John Mandel über eine globale Pandemie (Welt, FAZ).
Archiv: Film

Musik

Erdoğans Versuche, Künstler einzuschüchtern, die auch nur den leisen Hauch von Kritik äußern, sind längst Legion. Doch mit Sezen Aksu - seit Jahrzehnten "die Königin der türkischen Popmusik" - hat sich der türkische Staatschef vor kurzem die falsche dafür ausgesucht, berichtet Susanne Güsten im Tsp. Akus bereits fünf Jahre alter Song "Şahane Bir Şey Yaşamak" brachte vor kurzem eine ganze Schar von Islamisten und türkischen Nationalisten auf die Palme, nachdem Erdoğan öffentlich damit drohte, ihr wegen der Zeile "Mit schönem Gruß an die Dummköpfe Adam und Eva" die Zunge ausreißen zu wollen. "Mit dem rüden Angriff auf Aksu geht Erdoğan aber zu weit. Seine Berater erkannten das sofort und wiesen laut Medienberichten regierungstreue Zeitungen und TV-Sender an, nicht über die Kritik des Präsidenten an Aksu zu berichten. Trotzdem bleibt das Thema auf der Tagesordnung und wird zur Belastung für die Regierung. In einem Fernsehinterview blies Erdogan schon nach ein paar Tagen zum Rückzug."

Das hat auch mit dem Protest gegen Erdoğans Wutrede zu tun, berichtet Can Dündar auf Zeitonline: "Während ein erheblicher Teil der Popgemeinde schweigt aus Furcht, als Nächstes dran zu sein, stellten sich Millionen Fans hinter Sezen Aksu. In weniger als 24 Stunden wurde der Songtext in etliche Sprachen übersetzt und in aller Welt verbreitet. Einmal mehr bewies die Kunst ihre Macht gegenüber der Politik. ... Erdoğan versucht, mit Angriffen auf bekannte Persönlichkeiten in der Gesellschaft die Furcht zu verbreiten, jeden Augenblick könnte es bei jedem an der Tür klopfen, und das Gefühl: 'Was macht einer, der solche Leute ins Gefängnis bringt, erst mit unsereiner?' In dem Klima der Angst, das er mit dieser Sprache der Gewalt erzeugt, hofft er, seinen Thron zu retten."

Dass Neil Young und Joni Mitchell ihre Songs aus Protest gegen den Podcast von Joe Rogan von Spotify abziehen, dürfte der Streamingkonzern wohl verkraften, meint Jakob Biazza in der SZ. Doch "was, wenn ein paar der aktuellen Großstars dem Beispiel folgten? Womöglich sogar solche, die jünger als 70 sind? ...  Spotify mag gerade weniger auf Musik setzen, aber der Reiz des Anbieters besteht bislang in der Hauptsache darin, das größte, das kompletteste Angebot zu haben. Und es dürfte einen Kipppunkt geben, an dem die Hörer das Gefühl haben, woanders besser versorgt zu sein. Mit etwas Pech findet man in Schweden in den kommenden Wochen heraus, wo genau der liegt." Der Spiegel meldete derweil in der letzten Nacht, dass Spotify künftig Warnhinweise und Kontext zu Corona-Podcastepisoden liefern wolle.

Außerdem: Jens Uthoff stellt in der taz die Arbeit des Undergroundlabels Mangel Records vor und staunt darüber, wie in Berlin gerade, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, wieder "ein florierender Zirkel an Synth-/Minimal-/Postpunk-Gruppen" wie in den frühen Achtzigern entsteht. Robert Matthies wirft für die taz einen Blick auf die Arbeit eines Forschungsprojekts, das sich mit dem Zusammenhang von populärer Musik und populistischer Politik befasst. Andreas Hartman liest für die taz eine Studie der Berliner Clubcomission über das prä-pandemische Nachtleben. Karl Fluch erinnert im Standard an Falco, der am 19. Februar 65 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden die Compilation "Songs of Gastarbeiter Vol. 2" (online nachgereicht von der FAS, mehr dazu bereits hier) und Maya Shenfelds Avantgardepop-Album "In Free Fall" (eine "wunderbare Platte", schwärmt Andreas Hartmann im Tsp).

Archiv: Musik