Efeu - Die Kulturrundschau

Zumal die Auswahl der Teilnehmer nicht abgeschlossen ist

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20.01.2022. Der Streit um die Documenta geht weiter: Mena watch konkretisiert die Vorwürfe des Antisemitismus. Der Tagesspiegel findet das infam und glaubt, es gehe nur um die Unterdrückung einer Debatte über globale Machtverhältnisse. Die FAZ ruft nach Claudia Roth. Und die Jüdische Allgemeine fordert, einfach auch ein paar proisraelische Künstler einzuladen. Der Tagesspiegel fragt, warum Volksbühnenchef Rene Pollesch am Deutschen Theater inszeniert. Der Standard geht vor der Singer-Songwriterin Grace Cummings auf die Knie. Die Filmkritiker fragen sich: Wird die Berlinale überleben?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.01.2022 finden Sie hier

Kunst

Wie Diversity ist "Kunstfreiheit" ein Argument, das nie zieht, wenn es um proisraelische Künstler geht. im Streit um die Documenta 15 empfiehlt in der Jüdischen Allgemeinen Ayala Goldmann daher einfach, "auch israelische Künstler (und zwar keine BDS-Aktivisten) einzuladen - zumal die Auswahl der Teilnehmer nicht abgeschlossen ist. Dann müssten die Boykott-Fans Farbe bekennen: Weigern sie sich, mit Israelis zusammenzuarbeiten, kann auf ihre Teilnahme an einer mit deutschem Geld finanzierten Ausstellung getrost verzichtet werden."

Andernorts geht die Debatte um die BDS-Nähe der Documenta weiter: Dass die Vorwürfe so an den Haaren herbeigezogen sind, wie Elke Buhr es kürzlich in Monopol behauptete (unser Resümee), stimmt nicht, schreibt Alex Feuerherd bei mena-watch: zum indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa, das die künstlerische Leitung der 15. Documenta hat, "gehören unter anderem Ade Darmawan und Farid Rakun, zwei antiisraelische Aktivisten. Darmawan zählt zu den Unterstützern des stramm antizionistischen Aufrufs 'A Letter Against Apartheid', in dem Israel als 'Apartheidsystem' bezeichnet wird, und Kuratorin Lara Khaldi vom künstlerischen Team der Documenta, ist ebenfalls strikt pro BDS. Buhr hatte auch geschrieben, das palästinensische Kollektiv "Question of Funding" habe nur zufällig in einem Kulturzentrum getagt, das nach dem Nazisympathisanten Khalil Sakakini benannt ist. Da mogelt sie, so Feuerherdt: "Anders als Menschen, die in Straßen wohnen, die 'nach Antisemiten und Kolonialverbrechern benannt wurden', waren die Kollektivsprecherin Lara Khaldi und der Kollektivsprecher Yazan Khalili zuvor jahrelang in der Leitung des KSCC, das mit seinen antisemitischen Aktivitäten sehr wohl in der Tradition seines Namensgebers stand und steht. Sie nutzen mitnichten nur 'einfach die Strukturen'."

Im Tagesspiegel reicht das Birgit Rieger, um die Vorwürfe gegen die Documenta als infam zurückzuweisen. Es muss also andere Gründe für die Kritik geben, glaubt sie: "Das indonesische Kollektiv trat bei der Documenta an, um die Perspektive des globalen Südens in den westlichen Kunstbetrieb einzubringen. So wollte es auch die Findungskommission, die Ruangrupa berufen hat, um die Documenta als internationale Diskursplattform voranzubringen. Globale Machtverhältnisse und Themen wie Dekolonisierung sollen auf den Tisch. Diese Agenda soll nun offenbar mit Antisemitismus-Vorwürfen torpediert werden. Soll bloß niemand aus Asien kommen und hier seine Themen setzen."

"Es hätte sicher geholfen, wenn Ruangrupa und Khalili sich nach den Vorwürfen, bei aller Kritik an der Siedlungspolitik, klar zum Existenzrecht und dem Sicherheitsbedürfnis Israels bekannt hätten. Ein solches Bekenntnis liegt aber nicht vor", notiert Niklas Maak in der FAZ. Eigentlich müsste Claudia Roth jetzt die Grenzen setzen, meint er, mit Blick auf den Bundestagsbeschluss zum BDS.

Weiteres: Wieland Freund schreibt in der Welt den Nachruf auf den amerikanischen Fotografen Steve Schapiro. Besprochen werden eine Ausstellung der Naturfotografie von Fred Koch in der Alfred Ehrhardt Stiftung in Berlin (Tsp, taz), die Zukunftsschau "Futura" in der Hamburger Kunsthalle (Zeit) und die Ausstellung "Picasso, l´étranger" im Palais de la Porte Dorée in Paris (FAZ).
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Film

Die Berlinale hat hier und dort das Programm ihrer wichtigsten Sektionen bekannt gegeben. Dass das Festival plant, als Präsenzveranstaltung mit einem rigiden Pandemiekonzept stattzufinden, ist schon länger bekannt - von einer "verzwickten Lage" schreibt Tim Caspar Boehme in der taz. Andreas Busche staunt da im Tsp-Kommentar über das "Pokerface" des Leitungsduos Chatrian & Rissenbeek, "die keine Schlüsse darauf zulassen, für wie realistisch Rissenbeek und Chatrian die Durchführung ihrer dritten Berlinale halten." Wenn Omikron voll zuschlagen sollte, wird es jedenfalls heikel, denn "eine Online-Berlinale wie im Vorjahr ist zu diesem Zeitpunkt rechtlich und technisch keine Option mehr. Man setzt alles auf eine Karte."

Immerhin: Das angekündigte Programm wirke "nicht glanzloser als in den letzten beiden Jahren", stellt Andreas Kilb beruhigt in der FAZ fest. Dennoch sieht er das Festival nicht nur pandemiebedingt in einer schweren Krise. Cannes hat die großen Autoren-, Venedig die großen Hollywoodfilme, die Berlinale dagegen bislang vor allem die Breitenwirkung: "Sie zieht ein Weltpublikum an, das im Februar zu Tausenden in die deutsche Hauptstadt strömt. In diesem Jahr wird es ausbleiben. Aber auch die Berliner Zuschauer müssen sich mit dem halbierten Platzangebot begnügen. Damit verliert das Festival sein Standbein, ohne dass sein Spielbein stärker würde. Denn nur als Massenereignis kann es mit der Konkurrenz mithalten. Die reduzierte Berlinale ist deshalb nur die zweitschlechteste aller möglichen Optionen."

David Steinitz blickt in der SZ schon jetzt nur noch gestresst auf den Balanceakt eines Festivals als möglichem Superspreader - und dann bietet das Festival noch nicht einmal Glamour-Mehrwert: "Natürlich gab es auch in Cannes schon mal Ausfalljahrgänge, in denen viel zu viele der Öffentlichkeit vollkommen unbekannte Filmemacher einander zeigten, wer den längeren Schwarz-Weiß-Film hat. Aber in Cannes glitzert dann wenigstens das Meer in der Frühsommersonne, und Tarantino kommt trotzdem noch, und vom Palais des Festivals winkt Cate Blanchett." Wenke Husmann von ZeitOnline findet die Präsenzstrategie des Festivals unverantwortlich: "Da auch die Festivalleitung der Berlinale um die Risiken weiß, muss es ihr noch um etwas anderes gehen: das Überleben der Berlinale. Chatrian sagt, die könne 'nur unter bestimmten Bedingungen existieren' und meint damit Kinos mit anwesendem Publikum. Aber hierin liegt auch ein Irrtum. Die Qualität eines Films hängt nicht nur an seinem Abspielort", weshalb sich Husmann ein "hybrides Festival oder gar ein rein digitales Sichtungskonzept" wünschen würde.

Große Trauer in der internationalen Filmwelt über den Tod des franzöischen Schauspielers Garpard Ulliel im Atler von nur 37 Jahren - er kam bei einem Skiunfall ums Leben:


Weitere Artikel: Im Filmdienst porträtiert Cosima Lutz die ziemlich aufsteigende Schauspielerin Saskia Rosendahl, die die Kritikerin mit ihrer "sich sorgfältig am Wahnsinn entlangklöppelnden Verkörperungskunst" in "Niemand ist bei den Kälbern" ziemlich umgehauen hat. Urs Bühler berichtet in der NZZ vom Auftakt der Solothurner Filmtage. Josef Lederle wirft im Filmdienst einen Blick zurück auf die Geschichte des seit 75 Jahren bestehenden Filmmagazins. Außerdem gratuliert Michael Ranze im Filmdienst dem Filmemacher Richard Lester zum Neunzigsten.

Besprochen werden Benny Chans Hongkong-Film "Raging Fire" und Robert Guédiguians "Gloria Mundi" (Perlentaucher), Matti Geschonnecks ZDF-Film über die Wannseekonferenz (Welt, SZ), die Sky-Serie "L'Ora" über eine italienische Redaktion, die sich gegen die Mafia stemmt (FAZ, taz), Guillermo del Toros "Nightmare Alley" (taz, SZ, mehr dazu bereits hier), Agnieszka Hollands "Charlatan" (taz), Mika Kaurismäkis Kneipenfilm "Eine Nacht in Helsinki" (Tsp, ZeitOnline), Jens Meurers Dokumentarfilm "An Impossible Project" über die Rettung des letzten Polaroidwerks (taz) und die DVD-Ausgabe von Francis Lees Archäologinnendrama "Ammonite" (taz). Außerdem erklärt uns die SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen.
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Design

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Alfons Kaiser schreibt in der FAZ einen Nachruf auf André Leon Talley, der in den späten Achtzigern Naomi Campbell als erstes schwarzes Modell aufs Cover der Vogue hob und später die Obamas in Modefragen beriet. Er "hatte immer gegen Verachtung zu kämpfen. Dass er zu einer der wichtigsten Figuren in der Modeszene wurde, hatte damit zu tun: Er musste sich eine Autorität erarbeiten, die er mit donnernden Worten auch ausübte, um über den Hass gegen einen schwulen Schwarzen hinauszuwachsen. Und weil der Zwei-Meter-und-drei-Zentner-Mann so gar nicht dem Einheitsbild entsprach, das in der ersten Reihe der Modenschauen und in der Vogue-Redaktion an der 42. Straße allzu lange gepflegt wurde." Im Dlf Kultur unterstreicht Jan Kedves Talleys Bedeutung als Impresario.
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Bühne

Im Tagesspiegel ist Rüdiger Schaper reichlich genervt von der Lustlosigkeit, mit der Rene Pollesch die Volksbühne leitet: Erst sagt er im Dlf, "ich weiß gar nicht, was Intendanz heißt, was eigentlich meine Aufgabe wäre" und jetzt inszeniert er am Deutschen Theater - "als gäbe es keine Konkurrenz in der Theaterstadt Berlin. Als lebte der Betrieb nicht von unterschiedlichen Profilen. Pollesch hat damit kein Problem. Er nimmt der Volksbühne, seinem Haus, das Kultursenator Lederer ihm anvertraut hat, den Wind aus den Segeln, wenn er sich anderswo verausgabt - mal abgesehen vom Inszenierungshonorar, das zusätzlich zum Intendantengehalt anfällt. So macht man Theater kaputt."

Im Streit am Staatstheater Stuttgart (unser Resümee) ist Musikdirektor Mikhail Agrest erneut gekündigt worden, einen Tag, nachdem man sich im Hessischen Landesarbeitsgericht hatte gütlich einigen wollen, berichten in Kontext Josef-Otto Freudenreich und Rupert Koppold. Vordergründig geht es um eine angeblich beleidigende Geste, die Agrest nach mehrfachen Eingriffe von Ex-Ballettintendant Reid Anderson bei den Proben zu "Onegin" gemacht haben soll. Tatsächlich aber wohl um den Einfluss von Anderson, der zwar keine Position mehr am Theater ist, aber Erbe des Werks von Stuttgarts Starchoreograf John Cranko. Irritiert von den Vorgängen war offenbar auch die Richterin Fink, so die Reporter: "Sie wisse noch nicht genau, wie sie die Vorgänge einordnen solle, sagt sie, erinnere aber daran, dass eine außerordentliche Kündigung das 'schärfste Schwert' des Arbeitgebers sei, das wiederum eine erhebliche Pflichtverletzung voraussetze. Wo ist sie, wo ist die Abmahnung? Der physisch präsente Personaldirektor des Staatstheaters, Ralf Becht, zieht es vor, zu schweigen. Während der ganzen Verhandlung. Die Vorsitzende fragt nach, wie viele Dirigate Agrest in Stuttgart hatte, der zählt nach und kommt auf 25 Vorstellungen seit 2018. Unbeanstandet."

Weitere Artikel: Manuel Brug porträtiert in der Welt Christian Spuck, derzeit noch Ballett-Chef in Zürich, bald aber in Berlin, wo er das Staatsballett aus der Krise führen soll. Besprochen werden Martin Kusejs Inszenierung der "Tosca" in Wien (der die Kritiker in Standard und FAZ nichts abgewinnen konnten), "Dance Me!" von She She Pop im HAU Berlin (nachtkritik, taz), Choreografien von Balanchine, Robbins, Lucinda Childs mit dem Wiener Staatsballett in Mainz (FR) und Nikolaus Habjans Inszenierung von Paulus Hochgatterers "Fly Ganymed" in Stuttgart (taz).
Archiv: Bühne

Literatur

Ronald Pohl ruft im Standard die "Antiheimatliteratur" des vor zwanzig Jahren gestorbenen Schriftstellers Franz Innerhofer in Erinnerung. Lothar Müller erinnert in der SZ an Franz Fühmann, der dieser Tage 100 Jahre alt geworden wäre (unser Resümee). In der FAZ gratuliert Tilman Spreckelsen dem Schriftsteller Stephan Wackwitz zum siebzigsten Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Fredric Jamesons Buch über Hardboiled-Meister Raymond Chandler (Tsp), Richard Ovendens "Bedrohte Bücher" (Standard), Dennis Coopers "Die Schlampen" (Dlf Kultur), Theodor Wolffs wiederentdeckter Exilroman "Die Schwimmerin" (SZ), Doug Johnstones Krimi "Eingeäschert" (TA), neue Comicbiografien (Tsp), und Maja Pflugs Neuübersetzung von Cesare Paveses "Der schöne Sommer" (FAZ).
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Stichwörter: Wackwitz, Stephan

Musik

Im Hauptberuf ist die Singer-Songwriterin Grace Cummings Bühnenschauspielerin und dabei hat sie wohl das Volumen ihrer Stimme definiert, vor dem Standard-Kritiker Karl Fluch anlässlich des zweiten, schwer im American Gothic wildernden Albums "Storm Queen" der Australierin verzückt auf die Knie geht: "Sie tönt wohl, doch wenn sie nur etwas mehr Nachdruck auf ihre Texte legt, wird es heftig. Der Himmel geht auf, wenn sie ihn im Opener Heaven besingt, wenngleich die dunklen Wolken nur weichen, nicht verschwinden. ... Schon ihr Debüt brachte ihr Vergleiche mit Joni Mitchell ein - ohne deren zerbrechliches Moment. Beim Armdrücken der beiden hätte Mitchell keine Chance. Dabei wäre es falsch, Cummings grobe Hemdsärmeligkeit anzudichten", schließlich sind ihre Balladen "so betörend als wäre sie die Tochter von Nico und John Cale."



Außerdem: Klaus Kalchschmid porträtiert in der SZ die Dirigentin Giedrė Šlekytė, die Ende des Monats ihr Debüt bei den Münchner Philharmonikern hat. Für die SZ hat Alexander Menden den Dirigenten Patrick Hahn gesprochen, der mit gerade einmal 26 Jahren das Sinfonieorchester Wuppertal leitet. Nadine A. Brügger staunt in der NZZ darüber, dass Heidi Klum sogar singen kann.
Archiv: Musik