Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht Sumpf, sondern Humus

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.01.2022. In der FAZ umreißt die Russisch-Übersetzerin Olga Radetzkaja das Ethos ihrer Profession. Die Nachtkritik lässt sich vom Virtual Space Realtor und General Latenz Manager in die Zukunft des Theaters führen. Der Standard blickt auf das durchgeschüttelte Werkverzeichnis Modiglianis. Die NZZ bemerkt, dass die Rock-Attitüde eigentlich nur noch Frauen steht. Die SZ berichtet deprimiert von der trostlosen Verleihung der Golden Globes.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.01.2022 finden Sie hier

Bühne

Aèle Haenel in Gisèle Viennes "L'étang". Foto: Festvial d'Automne de Paris 

In der FAZ stellt Marc Zitzmann die französisch-österreichische Theatermacherin Gisèle Vienne vor, die mit ihren verstörenden Produktionen gerade beim Festival d'Automne in Paris gastiert. Besonders faszinierend findet er ihre Bearbeitung von Robert Walsers Dramolett "Der Teich": "Die Geschichte um den Buben Fritz, der, um die Liebe der Mutter auf die Probe zu stellen, seinen Wassertod inszeniert, wird so mit zwei neuen Facetten angereichert: dem erotisch aufgeladenen Verhältnis des Heranwachsenden zu seinem weiblichen Umfeld und seiner Flucht in künstliche Paradiese. Adèle Haenel, Muse eines jungen Autorenkinos und Galionsfigur der französischen MeToo-Bewegung, spielt nicht nur die Hauptfigur, sondern auch deren Geschwister und Spielkameraden. Wie sie blitzschnell von schnippisch (die Schwester Klara) auf weinerlich (der Bruder Paul) umstellen kann, von kreidebleich (der kränkelnde Nachbar Ernst) auf rotzig, verklemmt oder fies (diverse Buben auf der Straße), ist stupend."

Die Nachtkritik bringt ein "Manifest" des MetaLab der Universität Harvard, das im Streaming die Zukunft des Theaters sieht und deshalb nicht mehr nur auf Liveness setzt, sondern auf "Liveness Plus": "'Liveness' kann und muss das wesentliche Merkmal aller Schauspielformen der Vergangenheit und Gegenwart bleiben. Aber 'Liveness' bedeutet auf der Bühne der Zukunft, sich mit dem Wann, Was und Wo einer Darbietung unter Bedingungen auseinanderzusetzen, welche die Grenzen zwischen Präsenz und Telepräsenz, dem Verkörperten und dem Vermittelten, menschlichen Handlungen und Datenströmen, dem eigenen Bewusstsein und dem Metaversum verwischen. Diese erweiterte Darbietungsform kann nicht mehr als Nachkomme traditioneller Formen verstanden werden. Vielmehr geht es darum, für Publikum und Darsteller:innen neue Erfahrungshorizonte zu eröffnen: Erfahrungen aus bisher ungekannten Blickwinkeln, Wahrnehmungs- oder Zeitskalen; Ereignisse, die so konzipiert sind, dass sie für jeden einzelnen Kanal, der die Erfahrung der jeweiligen Darbietung strukturiert, einen Mehrwert darstellen." Und damit sind auch viele tolle neue Jobs verbunden! Etwa der Foyer-Hypester, der Virtual Space Realtor, General Latenz Manager oder der Live Captioning Maestro.

Weiteres: In der NZZ porträtiert Nicola Berger das dänisch-österreichsiche Theaterkollektiv Signa, das mit seinem immersiven Theater einen ausgeprägten Sinn für das Subversive und für betörende Schönheit beweise und in Hamburg gerade mit dem Stück "Die Ruhe" gastiert. In der Berliner Zeitung rät Susanne Lenz, schnell noch ins Theater zu gehen, bevor diese wieder schließen.
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Literatur

In einem großen, sehr lesenswerten FAZ-Essay zum für den 14. Januar geplanten Auftakt des Übersetzerportals Babelwerk denkt die Übersetzerin Olga Radetzkaja über Ethos und Herausforderungen ihrer Zunft. Allzu schnell macht man - und gerade sie als Übersetzerin aus dem Russischen - sich propagandistischen Interessen dienstbar. Umso wichtiger sei die stete Reflexion der eigenen Arbeit, des kulturpolitischen Kontextes, in dem man auftaucht und den man stützt, und der Geschichte der Sprache, in die man übersetzt. Doch "ich kann und will meiner Sprache ihre Zweideutigkeit, ihre fragwürdigen Komplizenschaften, ihre Geschichte nicht austreiben, ich könnte es nur um den Preis ihrer Sterilisierung. Aber damit dieser Boden nicht Sumpf, sondern Humus ist, muss ich ihn unermüdlich umgraben. Muss genau auf die ideologischen Unterströmungen meiner Wörter und Sätze lauschen, ganz besonders dort, wo ich mich von einem breiten Strom getragen fühle, mich moralisch auf der richtigen Seite sehe. Ich muss mir selbst jedes Wort im Mund umdrehen - wenn es sein muss, und das muss es oft, auch mehrmals."

Außerdem: Jochen Weber führt in der Zeit durch die arabischsprachige Kinder- und Jugendliteratur. Karl Fluch schreibt im Standard über den Verlagsarbeiter Filippo Bernardini, der sich mit allerlei Tricks zahlreiche Manuskripte der Konkurrenz erschlichen hat.

Besprochen werden unter anderem Andrea Scrimas "Kreisläufe" (NZZ), Emi Yagis "Frau Shibatas geniale Idee" (online nachgereicht von der FAZ), Imbolo Mbues "Wie schön wir waren" (Standard), Elizabeth Strouts "Oh, William" (FR), der Briefwechsel zwischen Ernst und Greta Jünger (online nachgereicht von der FAZ) und drei Comicadaptionen von George Orwells "1984" (Standard).
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Kunst

Amedeo Modigliani: Sitzender Akt , 1917, Royal Museum of Fine Arts Antwerp


Im Standard versucht Olga Kronsteiner abzuschätzen, wie sich die Modigliani-Schau in der Wiener Albertina auf den Kunstmarkt auswirken wird, da ihr Kurator Marc Restellini etliche Revidierungen am Werkzeichnis des für Fälschungen besonders anfälligen Künstlers vorgenommen hat: "Einige seiner Gutachten gelten jedoch in der Branche als umstritten. Sie stehen teilweise im Widerspruch zum Werkverzeichnis des verstorbenen Ambrogio Ceroni, dessen Publikationsreihe (1958 bis 1970) als wichtigste Standardliteratur gilt. Manchen darin verzeichneten Werken spricht Restellini nun die Modigliani-Autorenschaft ab. Andere, die nicht von Ceroni erfasst wurden, bewertet der Franzose wiederum als echt. Dazu gehört etwa das auf 1919 datierte Porträt eines jungen Mannes, das den Katalog und die Plakate jener Ausstellung in Genua 2017 schmückte, bei der italienische Behörden 21 mutmaßliche Fälschungen beschlagnahmten. Dem 'Coverboy' blieb eine Sicherstellung aufgrund des Restellini-Gutachtens erspart. Zweifler weisen jedoch auf die frappante Ähnlichkeit zu einem Porträt im Bestand des Guggenheim-Museums (New York) hin. Ordnet man digitale Aufnahmen der beiden Bilder übereinander an, wirken sie fast wie Kopien voneinander. Fast zu exakt."

Besprochen wird außerdem die Doppelausstellung "Whose Expression?" und "Transition Exhibition" zur Kunst der Brücke-Maler im kolonialen Kontext im Brücke-Museum und im Kunsthaus Dahlem (FR, FAZ).
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Film

Jane Campions "Power of the Dog" (unsere Kritik) und Steven Spielbergs "West Side Story" (unsere Kritik) sind mit je drei Auszeichnungen die großen Gewinner der Golden Globes, mit Campions Western als Abräumern in den Hauptkategorien "bester Film" und "beste Regie" (hier alle Auszeichnungen). Die große Verliererien des Abends ist allerdings die Verleihung selbst: Kein roter Teppich, keine Gala, keine Stars, keine Fernsehübertragung - nur auf Twitter fand der Abend statt, und auch das mitunter erratisch, wie dieser Agenturmeldung zu entnehmen ist.

Auch SZ-Korrespondent Jürgen Schmieder fragt sich da, warum er für diese trostlose Veranstaltung überhaupt das Haus verlassen hat. Und warum werden die Preise überhaupt noch verliehen? "Es geht, natürlich, um Geld. Um sehr viel Geld. NBC zahlt pro Jahr 62,5 Millionen Dollar, die Golden Globes von 2018 bis 2025 übertragen zu dürfen" und zwar (über Umwege) an die Hollywood Foreign Press Association (HFPA). Der Verdacht drängt sich auf, "dass die HFPA die Golden Globes abhielt, weil sonst die bedeutsamste Einnahmequelle versiegte. NBC mag die Ausstrahlung verweigern, aber so lange die HFPA gewisse Parameter erfüllt, muss der Sender zumindest irgendwas zahlen. NBC verzichtet ja und nicht die HFPA."

Außerdem: Jenni Zylka (taz) und Adrian Daub (ZeitOnline) schreiben zum Tod von Sidney Poitier (weitere Nachrufe hier). In der SZ gratuliert Fritz Göttler dem Regisseur Walter Hill zum 80. Geburtstag. Und das hatten wir übersehen, ist aber zeitlos schön: Bereits am 7. Januar gratulierte Robert Wagner auf critic.de Hongkong-Legende Sammo Hung zum 70. Geburtstag, der im Laufe seiner Karriere immer wieder unter Beweis stellte, dass man auch ohne die Physis eines Jackie Chan oder Jet Li ein wahrer Wirbelwind sein kann (bei der musikalischen Untermalung empfehlen wir großzügiges Weghören):



Besprochen werden Milena Czernovskys und Lilith Kraxners Einsamkeitsstudie "Beatrix" (Standard), Simon Kirbergs Agentinnenthriller "The 355" (taz), Maggie Gyllenhaals Adaption von Elena Ferrantes Roman "Frau im Dunkeln" (Freitag), Matthew Vaughns "King's Man - The Beginning" (FAZ), Uli Edels ARD-Serie "Eldorado KaDeWe" über die Zwanziger, bei der "das zeittypisch Beschissene" laut Freitag-Kritikerin Jenni Zylka nur behauptet ist, und die Netflixserie "Kitz" (FAZ).
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Musik

Fünf Jahre Elbphilharmonie: Till Briegleb zieht in der SZ Bilanz. Inwiefern sich der legendär über Budget errichtete Bau mittlerweile finanziell gerechnet hat, konnte er zwar nicht ermitteln. Aber als architektonische Ikone Hamburgs und als Publikumsmagnet (wenngleich eher nicht mit internationaler Strahlkraft) ist "Elphi" als Erfolg zu werten. Nur bei einem hakt es: Der große Publikumserfolg "hat die demokratische Botschaft der Elbphilharmonie eher behindert. 'Wenn die Menschen einem die Karten für jede Veranstaltung aus den Händen reißen', so Lieben-Seutter, 'dann ist das keine gute Voraussetzung, um Leute, die sich fern von der Hochkultur fühlen, besonders umarmen und einbeziehen zu wollen.' Wenn irgendwann nach Pandemie-Ende mal ein 'Normalzustand' einkehre", stehe "eine breitere Publikumsdurchmischung ganz oben auf der Agenda."

Anna Calvi, Courtney Barnett, Adrianne Lenker, Snail Mail und Co.: In der Rockmusik "ist eine feminine Wachablösung im Gang", beobachtet NZZ-Kritiker Ueli Bernays: "Die musikalische Männlichkeit verwirklicht sich unterdessen lieber in staubfreien digitalen Settings statt mit der Gitarre in feuchten Übungskellern. ... Man kann das verstehen. Für Frauen erweist sich die Rock-Tradition noch immer als verführerisch, sie bietet ihnen Möglichkeiten ungeschlachter Expressivität oder raffinierter Rollenspiele. Wenn sich eine Musikerin die Gitarre tief über den Torso hängen lässt oder das Mikrofon umklammert, um sich Schmerz oder Wut von der Seele zu schreien, wirkt das stets einigermaßen spontan, mutig und emanzipiert. Männer hingegen werden in solcher Gestik leicht zu Opfern ihrer einstigen Dominanz."

Weiteres: Für die FAS wirft Tobias Rüther einen Blick auf die aktuellen David-Bowie-Festspiele zu dessen 75. Geburtstag. Lotte Thaler porträtiert in der FAZ den Geiger Ilya Gringolts. Nicolas Freund schreibt in der SZ einen Nachruf auf die Liedertexterin Marilyn Bergman. Willi Winkler schreibt in der SZ zum Tod von Michael Lang, der Woodstock konzipiert hatte.

Besprochen werden ein Album der Mezzosopranistin Marianne Crebassa (Tsp), weitere neue Musikveröffentlichungen, darunter eine Bach-Aufnahme des Fred Thomas Klaviertrios (FAZ), und das neue Album von The Weeknd ("es jammerlappt" gegen Ende doch zu sehr, meint Standard-Kritiker Karl Fluch).

Archiv: Musik