Efeu - Die Kulturrundschau

Gewaltiges Kopfkino

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08.01.2022. Sidney Poitier ist gestorben. Die Filmkritiker würdigen den Schauspieler, der 1964 als erster Schwarzer den Oscar für eine Hauptrolle erhielt - im selben Jahr, in dem Martin Luther King mit einem Nobelpreis ausgezeichnet und der Civil Rights Act verabschiedet wurde. Die nmz schwärmt von einer hinreißenden "Tristan und Isolde"-Inszenierung in Halle. Die SZ ist ganz gerührt vom neuen Houellebecq. Die FAZ verliebt sich in Stuttgart in eine Rubensfrau mit Sonnenbrand.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.01.2022 finden Sie hier

Film

Sidney Poitier ist tot. 1964 erhielt er für seine Rolle als Homer Smith in "Lilien auf dem Felde" als erster schwarzer Amerikaner überhaupt den Oscar als bester männlicher Hauptdarsteller. Diese Auszeichnung war für Poitier "ein wichtiges Signal mit einem perfekten Timing", schreibt David Steinitz in der SZ. "Seinen Oscar holte er sich im selben Jahr ab, in dem Martin Luther King mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde und in dem der US-Kongress den 'Civil Rights Act' verabschiedete, der Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe gesetzlich verbot."



Urs Bühler würdigt Poitier in der NZZ als großen Wegbereiter, der schwarze Schauspieler aus der ewigen Nebenrolle als Butler und Türaufhalter herausholte. Doch "in radikaleren Kreisen der Bürgerrechtsbewegung, in der er sich engagierte, fiel Poitier allerdings bald in Ungnade: Sie sahen ihn nicht gern als Bannerträger der Idee eines harmonischen Zusammenlebens von Weiß und Schwarz, ebenso missfiel ihnen seine Rollenwahl auf der Leinwand: Er verkörperte vor allem gesetztere Figuren und Autoritätspersonen wie Ärzte, Lehrer, Pfarrer, Polizisten, also Idealtypen der weißen Mittelklasse." So schreibt auch Bert Rebhandl im Standard, dass Poitier "sich der Komplexität der Herausforderung immer bewusst war, aber versuchte, einen zugleich pragmatischen und reflektierten Weg zu gehen".

"Dass er der erste schwarze Hollywoodstar war, das klingt im Nachhinein, als wäre das etwas Schönes und Erbauliches gewesen", gibt Claudius Seidl in der FAZ zu bedenken. "Wenn einer auf so einem Weg der erste ist, dann betritt er eben mit jedem Schritt ein neues, unbekanntes und womöglich vermintes Terrain. Und wenn er sich selbst, seinen Leuten und den Weißen nichts vorlügen wollte, dann nahm er am besten solche Rollen an, die genau diesen Stand der Kämpfe reflektierten. Sidney Poitiers Weg zum Ruhm, einem Oscar sowie dem Ritterschlag durchs Britische Empire war gesäumt von Rückkopplungen und geplatzten Sicherungen." Weitere Nachrufe in Welt und Tsp.

Und hier noch Sidney Poitier und Rod Steiger in einer der besten Szenen aus Norman Jewisons Film "In the Heat of the Night" von 1967:



Zum Tod von Peter Bogdavonich hatten wir bereits gestern einen Schwerpunkt. Weitere Nachrufe liefern heute FR, FAZ, ZeitOnline, NZZ, Welt und die taz.

Außerdem: Die Golden Globes werden in diesem Jahr mehr oder weniger zur Privatveranstaltung, meldet David Steinitz in der SZ. Im Grunde ist der Filmpreis damit tot, meint auch Judith Liere auf ZeitOnline. Für die taz wirft Jenni Zylka einen Blick darauf, wie alte Film-Dystopien sich unsere Gegenwart vorgestellt haben.

Besprochen werden Michaela Coels Buch "Misfits" über ihre Erfahrungen als Schwarze im US-Fernsehen (Tsp), Pablo Larraíns "Spencer" mit Kristen Stewart als Lady Di (Zeit), Damiano und Fabio D'Innocenzos "Bad Tales" (FAZ, mehr dazu hier), Simon Kinbergs Thriller "The 355" mit Jessica Chastain, Lupita Nyong'o, Penélope Cruz, Fan Bingbing und Diane Kruger (ZeitOnline), George Clooneys auf Amazon gezeigter Film "The Tender Bar" (SZ), "Being the Ricardos" mit Nicole Kidman als Fernsehikone Lucille Ball (Jungle World), die Arte-Serie "Vigil" (TA), Christian Schwochows "München - Im Angesicht des Krieges" (Standard), sowie die Netflixserien "Der Club" (Freitag, sowie ebenfalls der Freitag mit historischen Hintergründen), "The Witcher" (Presse) und "Kitz" (Welt).
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Bühne

Szene aus "Tristan und Isolde" in Halle. Foto: Falk Wenzel / Bühnen Halle


Eigentlich sollte Jochen Biganzolis Inszenierung von Wagners "Tristan und Isolde" im letzten Frühjahr am Theater Hagen Premiere haben, aber wegen Corona wurde daraus nichts. Jetzt wurde sie in Halle aufgeführt. Und was für eine Aufführung das war, "minimalistisch, in Wirklichkeit aber durchweg spannend psychologisierend", schwärmt ein euphorisierter Joachim Lange in der nmz. Fünf separate Kleinbühne zeigen die Isoliertheit der Protagonisten: "Anfangs haben wir den ein wenig selbstverliebten - oder in sich selbst verloreneren - weiß gekleideten Tristan in dem größten der Bühnenkästen oben links mit Riesenfoto von sich selbst an der Rückwand. Diese neonweiße Zelle ist die zum Raum gewordene Selbstisolation des Tages in der Tag-Nacht Metaphorik des Textes. Isoldes Welt dagegen ist dunkel und lediglich mit einem Ledersessel bestückt. Die ganz in schwarz Gekleidete nutzt die dunkelgrauen Wände für reflektierende Sprüche, auch für einen Kreideumriss ihrer selbst und einen von Tristan. 'Das ist mein Brief an eine Welt, die niemals schrieb an mich.' Aus dem Programm erfahren wir, dass er von Emily Dickinson aus dem Jahre 1863 stammt - also aus der Entstehungszeit des 'Tristan'. Eine von den Hausaufgaben, die man mit nach Hause nimmt." Großes Lob auch für die Sänger: "Heiko Börner und Magdalena Anna Hofmann halten als Tristan und Isolde jedem Vergleich stand."
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Literatur

SZ-Kritiker Nils Minkmar fällt bei der Lektüre des neuen Houellebecq-Romans "Vernichten" alles aus dem Gesicht: Ausgerechnet der große Nörgler und Grantler hat tatsächlich einen Roman geschrieben, der das Lesepublikum einmal nicht in den Frust-Alkoholismus treibt, "sondern amüsiert, gerührt und versöhnt" entlässt. Zwar liefert Houellebecq auch hier, was die Öffentlichkeit von ihm erwartet: "politischen Pessimismus, satirische Porträts französischer Prominenz und die detaillierte Schilderung teils hochkomischer heterosexueller Erotik auf dem Menü." Doch das ist diesmal Beiwerk, staunt Minkmar: "Es gibt auch eine zeitkritisch-politische Rahmenhandlung, ein beeindruckendes narratives Konzept zu künstlicher Intelligenz, das Phänomen der deep fakes und terroristische Akteure unbekannter Provenienz, aber es ist, als würde das Schicksal der Figuren im Lauf des Romans einen Turboantrieb zünden. Die sogenannten großen Themen bleiben zurück wie die Kulissen eines falsch finanzierten Science-Fiction-Epos in der andalusischen Landschaft." In der morgigen WamS hält sich Jan Küveler brav an die verhängte Sperrfrist des deutschen Verlags - das Buch erscheint kommenden Dienstag - und erzählt, wie Houellebecq zu Houellebecq wurde, also zum "Nostradamus der Gegenwart."

Weitere Artikel: Jens Uthoff porträtiert in der taz den russischen Schriftsteller Dmitry Glukhovsky, der in seinen Texten Putin aufspießt und dennoch in seiner Heimat ein aufsteigender Star ist. Ronald Pohl spricht im Standard mit dem Schriftsteller Franz Josef Czernin, der am Freitag seinen 70. Geburtstag feierte. Volker Breidecker erzählt in der NZZ, wie der Schriftsteller Roberto Calasso den in den Sechzigern gegründeten Verlag Adelphi zum Namen machte. In der NZZ denkt der Schriftsteller Iso Camartin über die Dunkelheit und die Unendlichkeit nach. Im Literaturefeature vom Dlf Kultur porträtiert Stefan Berkholz den griechischen Krimiautor Petros Markaris. Götz Eisenberg schreibt im Freitag zum Tod der Schriftstellerin Birgit Vanderbeke.

Besprochen werden Susan Taubes' autobiografischer Roman "Nach Amerika und zurück im Sarg" (taz), Alix Garins Comic "Vergiss mich nicht" (Tsp), Elizabeth Wetmores "Wir sind dieser Staub" (Presse), Joseph de Maistres und Louis de Bonalds Briefwechsel (NZZ), Rainer René Muellers "Gesammelte Gedichte" (SZ) und Hanya Yanagiharas "Zum Paradies" (FAZ).
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Kunst

Eine exzellente Rubens-Schau in der Staatsgalerie Stuttgart empfiehlt Stefan Trinks in der FAZ. Jawohl, selbst über Rubens kann man noch was Neues lernen, versichert er. Außerdem haben die Stuttgarter die Pandemie genutzt, ihr Archiv zu durchleuchten und siehe da: Nicht nur eins, nein, 13 Bilder von Rubens haben sie, darunter eine "wahre Rubensfrau", ein Werkstattbild, das als mutmaßliche Kopie im Keller verstaubt war. "Stilistisch wird es nun vom Experten Nico Van Hout dem Meister selbst zugeschrieben, und das mit vollem Recht: In ihren nach oben gerollten Augen spielt sich wie in einer Glaskugel ein gewaltiges Kopfkino ab. Der rechte Träger ihres Gewandes rutscht natürlich vollkommen zufällig nach unten, sodass das weiße Leinen unter karmesinrotem Obergewand gerade noch die Brustwarze bedeckt, den Hof aber bereits enthüllt. Das alles hätten die besten Schüler vielleicht noch vermocht, was aber nur Rubens kann - Mitbringsel aus Italien? - ist der hauchzarte Sonnenbrand, der zu beiden Seiten des Kleiderträgers eine kaum merkliche Übergangszone ins weiße Inkarnat markiert."

Gesine Borcherdt hat für die Welt die neue Biennale in Saudi-Arabien besucht. Kann das mehr als Whitewashing für einen autoritären Staat sein? Nein, stellt sie fest, trotz all der Frauen, die dort arbeiten: "Es ist wie immer, wenn restriktive Staaten sich dem Westen öffnen und Kunst als Vehikel benutzen, um Weltoffenheit, Geld und Intellekt zu demonstrieren und so ihre Außenwahrnehmung nach eigenen Maßstäben zu formen. Sobald Kunst psychologisch oder politisch beunruhigend wird, schiebt man ihr den Riegel vor, wie in Russland bei Pussy Riot oder in China bei Ai Weiwei. Widerständige Kunst begegnet einem an den offiziellen Orten Saudi-Arabiens nicht."

In der NZZ erklärt Philipp Meier am Beispiel dreier Erwerbsgeschichten von Bildern aus der Sammlung Bührle, wie schwierig eine Definition des Begriffs "Raubkunst" geworden ist. Und Daniel Fritzsche kritisiert wie er findet völlig überzogene Forderungen linker Zürcher Politiker, die die Bührle Sammlung am liebsten ganz aus Zürich weg hätten: "Wenn die prachtvollen van Goghs, Monets und Cézannes in einem Archiv verstaubten oder künftig in Dubai oder andernorts gezeigt würden, wäre nichts gewonnen - im Gegenteil. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit Bührles Wirken in und über Zürich hinaus wäre dann nicht mehr möglich."

Weiteres: In der SZ schreibt Kito Nedo über die Künstlerin Vivian Suters, die Natur und Wetter in ihre Kunst einbezieht, nachdem Bilder von ihr bei einem Hurrican verschüttet worden waren. Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Blue Elephant" von Huang Po-Chih im Wiener Mumok (Standard) und eine Filminstallationen von Pauline Boudry und Renate Lorenz im Kunstraum Innsbruck (Standard).
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Musik

Gerade einmal 130 Gäste fanden sich im 2000 Menschen fassenden Saal der Kölner Philharmonie ein, als Enno Poppe dort die Uraufführung seines neuen Werks "Körper für Ensemble" durch das Ensemble Modern präsentierte - eigentlich ein Prestige-Konzert. Der geringe Zuspruch ist nicht nur ein "Besuchsdebakel", sondern auch ein Offenbarungseid, meint Andreas Platthaus in der FAZ: Die Abonnentenzahlen "stürzen ab. Überall. Aber das vorgestrige Konzert in der Philharmonie war kein Abonnementkonzert, hier setzte man auf Freiverkauf. Vergeblich. Denn anders als etwa im Leipziger Gewandhaus, das in dieser Saison ... ein signifikant jüngeres Publikum in den zwangsweise maximal halb vollen Saal zog, waren in Köln kaum Menschen unter fünfzig zu sehen." Es zeigt sich: "Die Neue Musik im Allgemeinen und das Ensemble Modern im Speziellen sind mit ihren Anhängern gealtert, und nun tun sich beide schwer, junge zu finden."

Heute wäre David Bowie 75 Jahre alt geworden. Zugleich erscheint sein Album "Toy" mit bereits im Jahr 2000 entstandenen Neuaufnahmen seiner ältesten Stücke. Nach Zoff mit seiner Plattenfirma landete das Album im Plattenschrank. Eine Zäsur im Schaffen Bowies dürfte "Toy"  allerdings nicht darstellen, meint Tsp-Kritiker Christian Schröder: "Von der Größe späterer Meisterwerke ... sind die Anfänge des Musikers weit entfernt. Interessant sind sie eher biografisch als musikalisch." Und "richtig ernst genommen haben Bowie und seine Mitstreiter das Material seiner frühen Jahre offenbar nicht, als sie es in New York noch einmal einspielten. Das Auftaktstück 'I Dig Everything' rocken sie so rumpelnd runter, dass es zur Parodie wird." Von "keiner allzu großen Erleuchtung" spricht auch Joachim Hentzschel in der SZ, zumal viele der Aufnahmen auch schon als B-Seiten oder illegal im Netz kursierten. Dennoch "gibt es einen durchaus grundsätzlichen und auch ernstzunehmenden Zauber, der solche ungehobenen Popschätze umflimmert", denn auch wenn sich im Zuge der Nachlassverwertung großer Popstars in den letzten Jahre "große Scheußlichkeiten" finden, gibt es auch "immer wieder Material, das ein paar faszinierende neue Aspekte zu Künstler und Werk bringt." Im Tsp spricht Lars von Törne mit Reinhard Kleist, der über David Bowie eine Comicbiografie gezeichnet hat.

Weitere Artikel: Karl Fluch porträtiert im Standard den britischen Popmusiker Sam Fender, der sich als Working Class Hero in Szene setzt. Besprochen werden ein Berliner Auftritt von Fehler Kuti und die Polizei (taz), ein Verdi-Abend der Berliner Philharmoniker unter Daniel Barenboim (Tsp, FAZ) und The Weeknds neues Album "Dawn FM" (Tsp, SpOn, SZ). Wir hören rein:

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