Efeu - Die Kulturrundschau

Marc ist überhaupt indiskutabel

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.12.2021. Die SZ begibt sich im Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum zwischen die expressionistischen Fronten von Brücke und Blauer Reiter. Der Filmdienst erinnert an die unverschämte Modernität des Schauspielers und Regisseurs Roger Fritz. Hat die Avantgarde eigentlich noch einen Formwillen oder nur noch einen politischen?, fragt die Nachtkritik. Und im ND hört Berthold Seliger in Schostakowitschs sozialistischer Vierten die Granaten krachen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.12.2021 finden Sie hier

Kunst

Ernst Ludwig Kirchner: Frauen auf der Straße, 1914, Bild: Von-der-Heydt-Museum


Hervorragend bestückt und sehr erkenntnisreich findet Alexander Menden in der SZ die Expressionismus-Ausstellung im Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum, die die beiden großen Künstlergruppen, Die Brücke und den Blauen Reiter, zusammenbringt. Oder nicht wirklich: "Im Jahr 1920 notiert Ernst Ludwig Kirchner in seinem Tagebuch: 'MARC ist überhaupt indiskutabel. Kitsch á la KANDINSKY. Wie wenig müssen die Herren Kunsthistoriker sehen und fühlen, dass sie solches überhaupt ansehen können.' Nein, eine wirkliche Einheit hatten sie nie gebildet, die deutschen Expressionisten... Der zupackendere, vermeintlich homogenere Stil der Brücke-Maler, die Anlehnungen an den sogenannten 'Primitivismus', an Cézanne, Matisse und Gauguin, wurde lange Zeit als bewusster Schritt betrachtet, als eine Auflösung der einzelnen Künstlerpersönlichkeiten in einer Gruppenästhetik. Von-der-Heydt-Direktor und Ko-Kurator Roland Mönig sieht darin eher eine Entwicklung, die sich organisch aus der engen Zusammenarbeit und dem gemeinsamen philosophischen Ansatz ergab. Die zahlreichen Badeszenen, großenteils rund um Dresden entstanden, die reduzierte Figurenzeichnung und der allgemeine Eskapismus in ein libertinistisches Gruppenleben - mit nicht nur nach heutigen Maßstäben bedenklich jungen weiblichen Modellen - amalgamierten die Gruppe stilistisch."

Weiteres: Joseph Hanimann berichtet in der SZ von den Diskussionen um den Wiederaufbau von Notre-Dame. Besprochen werden eine Schau des Malers Werner Büttner in der Hamburger Kunsthalle (taz) und Jan Schmidts "Archiv eines Sommers" im Foyer des Deutschen Wetterdienstes in Offenbach (FR).

Archiv: Kunst

Film

Warum gab es zum Tod von Roger Fritz eigentlich nicht reihenweise große Nachrufe in den Feuilletons? Man staunt, wenn man nun im Filmdienst Ulrich Kriests späten Nachruf liest, was Fritz alles gewesen ist: Schauspieler für Fassbinder und Peckinpah, aber auch Regieassistent von Luchino Visconti, vielbeachteter Magazinfotograf, Münchner Gastronom, Mitbegründer des Magazins Twen und nicht zuletzt Filmemacher, der sich als "erklärter Außenseiter" weder beim Neuen Deutschen Film, noch bei "Papas Kino" einsortieren ließ: Dieses "zerklüftete Oeuvre" füge "sich bestens zum Impuls einer kritischen Re-Vision des schlecht gealterten Kanons des Neuen Deutschen Films unter dem Gesichtspunkt der verpassten Chancen und vertanen Möglichkeiten. Fündig wird man allerdings eher bei Zeitschriften wie SigiGötz Entertainment oder Gdinetmao, wo Rainer Knepperges 1999 über die etwas andere Unverschämtheit der Filme von Roger Fritz schrieb: 'Die Filme von Roger Fritz tun nie so, als würden wir, was gezeigt wird, nicht bereits kennen; deshalb sind sie auch keineswegs 'immer noch aktuell', sondern etwas, was es heute kaum noch gibt, sie sind komplett modern.'" Mehr zu Roger Fritz finden Sie in unseren Presseschauen, einen Vorgeschmack bietet der Trailer zu seinem schönen Film "Mädchen, Mädchen":



Ziemlich fassungslos steht ZeitOnline-Kritiker Matthias Dell vor der ZDFNeo-Serie "Westwall", die Benedikt Gollhardt nach seinem eigenen Roman verfasst hat und in der sich eine rechte Zelle aus einer Gruppe obdachloser Kinder und Jugendlicher bildet: "Einer Gruppe von Menschen, die in der Gegenwart Opfer rechter Gewalt ist, wird in der Serie, die behauptet, etwas über Gegenwart zu erzählen, Täterschaft souffliert, um zugleich einen Mitleidsanker einzubauen, der in der Logik von jahrzehntelanger, verständnisvoller Entschuldigung rechtsextremer Gewalt steht ('verführten')."

Außerdem: Auch Steven Spielberg dreht seine Filme weiterhin "auf anständigem Eastman-Kodak-35-mm-Film", gesteht der Hollywoodregisseur im SZ-Gespräch zum Start seiner Musical-Neuverfilmung "West Side Story", aus deren Anlass sich Georg Seeßlen für epdFilm nochmals das Original zu Gemüte geführt hat. Dominik Kamalzadeh sichtet für den Standard Filme des online stattfindenden Wiener Filmfestivals "This Human World". Im Filmdienst resümiert Patrick Holzapfel die Duisburger Filmwoche.

Besprochen werden Junta Yamaguchis auf BluRay veröffentlichter Film "Beyond the Infinite Two Minutes" (critic.de), die auf Disney+ gezeigte Naturdoku "Welcome to Earth" mit Will Smith (FAZ), die RTL-Serie "Faking Hitler" über den Stern und die gefälschten Hitlertagebücher (NZZ) und die Ausstellung "Endlich Kino!" im Pariser Musée d´Orsay über das Verhältnis zwischen der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts und den ersten Kinojahren (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Das freie Theater setzt nur noch auf politische Themen, auf "Postmigration, Postkolonialismus, Queerness, aber nicht mehr auf formale Erneuerung, ärgert sich Michael Wolf in der Nachtkritik: "Das früher vielleicht überstrapazierte Schlagwort des Experiments weicht so dem der Progressivität. Ersteres war politisch durch seinen Formwillen, letztere ist politisch - einfach, weil politische Inhalte verhandelt werden. Die gesellschaftliche Wirkung dürfte gleichwohl marginal ausfallen, weil ohnehin kaum jemand Notiz nimmt, der nicht schon Bescheid weiß...Vor allem die Freie Szene hat stets frische Impulse gegeben, eben durch ihre Reflexion und Erprobung dessen, was Theater noch nicht ist, aber sein könnte."

Weiteres: Der Standard meldet, dass das Theater an der Wien wegen Umbauarbeiten ab März für zwei geschlossen wird.

Besprochen werden Donizettis Tudor-Oper "Anna Bolena" an den Opern von Zürich und Genf (NZZ, FAZ), Rimski-Korsakows "Die Nacht vor Weihnachten" an der Frankfurter Oper (SZ)und Oscar Wildes "Bunbury" am Staatstheater Wiesbaden (FR).
Archiv: Bühne

Literatur

Der große Weihnachtseinkauf des Kampa Verlags, der eine Reihe kleinerer Verlage mit literarischem Programm akquiriert hat, ist eine gute Nachricht, findet Gerrit Bartels im Tagesspiegel: "Auch wenn bei genauerer Betrachtung der literarischen Ausrichtung schon auch noch kleine Welten zwischen dem Schweizer und Jung und Jung sowie Schöffling liegen. Als Diogenes-Mann und nachfolgend Leiter von Hoffmann & Campe steht Kampa, trotz Tokarczuk, durchaus für das Segment anspruchsvolle Unterhaltungsliteratur, ein Autor wie William Boyd oder die Oktopus Bücher sind da repräsentativ. Bei den zwei unabhängigen Verlagen, die beide schon Deutsche Buchpreise (Melinda Nadj Abonji, Ursula Krechel, Jung und Jung) oder den der Leipziger Buchmesse (Guntram Vesper, Schöffling) für sich verbuchen konnten, ist das Programm dezidiert literarischer, an Aufbauarbeit orientiert. Dass aber nun Simenon als eine Art Schirmherr (und mutmaßlicher Mitfinanzier) von Verlagen wie Jung und Jung und Schöffling dient, ist natürlich ganz wunderbar."

Besprochen werden unter anderem neue Gesamtausgaben von Comicklassikern (taz), Martin Mittelmeiers "Freiheit und Finsternis" über die Entstehung der "Dialektik der Aufklärung" (Zeit), Gabriele von Arnims "Das Leben ist ein vorübergehender Zustand" (NZZ), Bei Daos "Das Stadttor geht auf" (Zeit) und Andreas Mosters "Kleine Paläste" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Am 1. Dezember haben Teodor Currentzis und das musicAeterna-Orchester Schostakowitschs Vierte Sinfonie in Berlin aufgeführt und ND-Kritiker Berthold Seliger damit tief beeindruckt. Für Schostakowitschs Versuch einer sozialistischen Sinfonie ist Currentzis als "musikalischer Extremist" natürlich genau der Richtige: "Er lässt die musikalischen Granaten eben tatsächlich und fast unaushaltbar in fünffachem Fortissimo explodieren, wo das vom Komponisten vorgeschrieben ist." Dem Fagottisten Talgat Sarsembayev und dem Violinisten Afanasy Chupin biete er die Möglichkeit, "in ihren gefühlvollen und ausschweifenden Soli einen Gegenpol zu den teils gewalttätigen Tutti zu formulieren, eine Reminiszenz an alte Zeiten oder vielleicht an utopische Idyllen. Er lässt die Flötistinnen (ausgezeichnet: Laura Pou sowie Marta Santamaria an der Piccoloflöte) Naturlaute und Vogelgezwitscher anstimmen oder sie auch mal mit herben Dissonanzen gegen den Streichersound intervenieren. ... Es ist unfassbar, wie das Orchester in dieser ungemein schwierigen Partitur agiert."

Ab heute gilt in den Berliner Clubs ein Tanzverbot - de facto ein Lockdown, sagt in der taz Lutz Leichsenring von der Berliner Clubcommission, die sich nach ihrer Vorarbeit im Sommer gemeinsam mit der Berliner Charité von der Politik ziemlich alleine gelassen fühlt: "Wir arbeiteten mit einem großen Labor zusammen, mit Kapazität für mehrere zehntausend Tests pro Wochenende. Im Idealfall sind es vom PCR-Test bis zum Ergebnis nur vier Stunden, und der Test kostet weniger als 15 Euro. Man kann sich nachmittags oder früh am Abend testen lassen und danach - bei negativem Ergebnis - feiern gehen. Es hat sich gezeigt, dass dieses Konzept funktioniert. Wir haben auch nach der Möglichkeit von 2G die Politik ermahnt, dass es weitere Sicherheiten geben müsse, falls die Coronazahlen wieder steigen sollten, damit wir nicht wieder in den Lockdown gehen. Und was passiert nun? Man ignoriert uns."

Außerdem: Jan Brachmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Pianisten Andrej Hoteev. Besprochen werden das Debütalbum von Gewalt (tazler Jens Uthoff "schwankt zwischen Lust und Ekel, zwischen Faszination und Abscheu"), ein Bildband über die Geschichte des Schweizer Experimental-Popprojekts Yello (NZZ), ein Elbphilharmonie-Konzert des Philharmonischen Staatsorchesters unter Kent Nagano (Welt) und neue Popveröffentlichungen, darunter Benny Sings' "Beat Tape II", mit dem man sich laut SZ-Popkolumnist Jens-Christian Rabe "schön funky uneigentlich durch den Tag schaukeln lassen kann". Wir schaukeln mit:

Archiv: Musik