Efeu - Die Kulturrundschau

Sauerkraut mit Schink und Wurst

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11.11.2021. Die Filmkritiker feiern Andreas Kleinerts Biopic über den Schriftsteller Thomas Brasch: Der Film sieht aus wie ein Stück DDR-Nouvelle-Vague, die es niemals gab, freut sich die FR. Höchst angeregt kommt die Zeit aus einer Ausstellung über die Porträtkunst, wie sie Edouard Manet und dem Kunstkritiker Zacharie Astruc vorschwebte. Die FAZ amüsiert sich prächtig in der Urfassung von Jacques Offenbachs "La vie parisienne": Tchî tchî, boum boum. Die Literaturkritiker gratulieren Dostojewski zum 200. Geburtstag. Und VAN fordert die Sender auf, nicht mehr jede Marketing-Möhre anzuknappern, die die Klassische-Musik-Labels ihnen hinhalten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.11.2021 finden Sie hier

Film

Nichtige Rebellion: Albrecht Schuch spielt Thomas Brasch


In "Lieber Thomas" erzählt Andreas Kleinert das Leben des in der DDR als Sohn eines SED-Funktionärs geborenen Schriftstellers Thomas Brasch,der sich mit seinem Vater überwarf, in den Westen ging, um sich dort wiederum mit den Eliten anzulegen. Dieser schwarzweiße Breitwand-Film "sieht aus wie ein Stück DDR-Nouvelle-Vague, die es niemals gab", schreibt in der FR Daniel Kothenschulte, der es ansonsten im wesentlichen bei Schlaglichtern auf Braschs Leben belässt. Keine brave, um Faktentreue stets bemühte Filmbiografie ist das geworden, sondern eine "Vielleicht-Geschichte", schreibt Hilmar Klute in der SZ. "Zum Glück, und deshalb spielt der im Augenblick wohl größte deutsche Kinostar Albrecht Schuch den jungen Thomas Brasch auch exakt so, wie er vielleicht gewesen ist: rebellisch, trunksüchtig, promiskuitiv begehrend und begehrt und im qualvollen Widerstreit mit seinem Vater, dem SED-Funktionär Horst Brasch, den Jörg Schüttauf als einen in Ideologie und Traurigkeit verpanzerten Mann zeigt."

Für eine glatte Fehlbesetzung hält allerdings Robert Wagner auf critic.de den derzeit sehr gefeierten Schuch: Der "spielt seinen Thomas Brasch als hibbeligen Querulanten, der das nächste Lächeln schon immer bald auf den Lippen hat. Statt der Figur Gravitas zu geben, passt seine Charakterisierung zum Bild des leichten Abenteuers einer nichtigen Rebellion. Spürbar ist zwar das Bemühen, mit den surrealen Einschüben und dramatischen Wendepunkten etwas Einschneidendes optisch entsprechend aufzulösen. Aber am Ende sieht alles so generisch aus, wie es erzählt ist."  Weitere Rezensionen in der Zeit und auf Intellectures.

Michael Meyns hat sich für die taz mit Joachim von Vietinghoff unterhalten, der 1981 Thomas Braschs "Engel aus Eisen" produziert hatte: "Irgendwas ist da in seinem Kopf explodiert, als er gemerkt hat, wie viel Freiheit er hat, auch wie viel Macht", erinnert sich von Vietinghoff. "Auch die Freiheit, das Geld zu nehmen und dennoch nicht systemkonform zu sein."

Außerdem: Wilfried Hippen wirft für die taz einen Blick ins Programm des Hamburger filmhistorischen Festivals Cinefest. Joane Studnik findet in der Berliner Zeitung Dave Chapelles wegen angeblicher Transfeindlichkeit höchst umstrittenes Netflix-Comedyspecial absolut nicht komisch, ist aber gegen eine Absetzung. David Steinitz schreibt in der SZ zum Tod des Schauspielers Dean Stockwell.

Besprochen werden Laura Reichwalds Dokumentarfilm "Stollen" (Perlentaucher), Vanessa Lapas Dokumentarfilm "Speer Goes to Hollywood" (taz, FR), James Erskines Dokumentarfilm "Billie" über Billie Holiday (taz, Standard), Edgar Wrights Horrorfilm "Last Night in Soho" (Perlentaucher, SZ), Ildikó Enyedis "Die Geschichte meiner Frau" (critic.de, Artechock, Presse), der Netflix-Actionfilm "Red Notice" mit Gal Gadot (SZ, Presse) und die zweite Staffel der RBB-Serie "Warten auf den Bus" (Welt).
Archiv: Film

Bühne

La vie parisienne. Foto: Vincent Pontet


In Rouen wurde letzten Sonntag die rekonstruierte Urfassung von Jacques Offenbachs "La vie parisienne" aufgeführt (mit Kostümen von Christian Lacroix!). Ein hingerissener Marc Zitzmann pickt für uns in der FAZ "die fettesten Rosinen" aus der neuen alten Version: "Am Ende des zweiten Akts singen Deutsche und Marseiller einen Jodler beziehungsweise eine Art Farandole, erst nach-, dann polymetrisch übereinander, mit deftig folkloristischem Text ('Pour venir mangiar a questo. / Qu'on nous serve la bouillabaisse' und 'Sauerkraut mit Schink und Wurst / Gibt mir immer, immer Durst'). Im dritten Akt finden sich ein Quintett im (hier: unerwarteten) Gewand einer Mazurka und ein Trio zur Streitfrage 'Diplomat oder Soldat?', dessen Wort-Pingpong im Geschwindmarsch-Tempo zunehmend in Nonsens ausartet und schließlich durch Onomatopöien das Kratzen der Feder beziehungsweise das Donnern der Kanone evoziert: 'Tchî tchî, boum boum'."

Weiteres: Das Schauspiel Köln hat seine Proben erstmals für ein digitales Publikum öffentlich gemacht. In der SZ findet Christiane Lutz das gut: mehr Transparenz könne im Theater nicht schaden, nach all den Beschwerden über Machtmissbrauch, meint sie.

Besprochen werden Thorleifur Örn Arnarssons Ibsen-Verschnitt aus der "Wildente" und dem "Volksfeind" Thalia Theater Hamburg (nachtkritik, FAZ) und Monteverdis "Il ritorno d'Ulisse in patria" in Basel (nmz).
Archiv: Bühne

Literatur

Dostojewski-Festpiele im Feuilleton: Heute vor 200 Jahren kam der russische Schriftsteller auf die Welt. Oft heißt es, Dostojewski habe die "russische Seele" erkundet und in Literatur gefasst. Doch "die Zeitgenossen sahen in seinem Werk vielmehr die universelle psychologische Kenntnis menschlicher Verfehlungen und menschlicher Natur", schreibt die Historikerin Ekaterina Makhotina in der NZZ. Die "russische Seele" sei eine politische Projektion des Westens zur Abgrenzung vom Osten: Dostojewskis "Reflexion über den Menschen, dessen Leidenschaften, Triebe und Schwächen ist universell, so fand und findet sie Anknüpfungen in der Literatur bis heute. Deswegen darf Dostojewski nicht auf das Phantom der 'russischen Seele' reduziert werden, zumal das romantische, irrationale Faszinosum mit Russland und diese sehnsuchtsvolle Projektion auch (und vor allem) politisch einen Irrweg bedeuten."

Zu Dostojewski schreiben außerdem der Schriftsteller Deniz Utlu (SZ), Sonja Zekri (SZ) und Arno Widmann (FR). Ulrich M. Schmid wirft in der NZZ einen Blick auf das wechselhafte Verhältnis der Deutschen zu Dostojewskij. Kerstin Holm bietet in der FAZ einen Blick auf die Gegenwart Dostojewskijs in Russland. Dlf Kultur würdigt Dostojewski mit einer "Langen Nacht" von Uli Hufen.

Besprochen werden unter anderem die Neuauflage von Guido Morsellis 1977 erstmals veröffentlichtem Roman "Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit" (Zeit), Anna Dostojewskajas "Mein Leben mit Fjodor Dostojewski" (Dlf Kultur), Nadifa Mohameds "Der Geist von Tiger Bay" (NZZ), Edgar Selges "Hast du uns endlich gefunden" (taz) und Wassili Grossmans "Stalingrad" (FAZ).

Heute vor fünf Jahren starb Ilse Aichinger. Und heute ist Martinstag. Da müssen wir einfach Aichingers Nachruf auf den Heiligen Martin zitieren:

Nachruf

Gib mir den Mantel,
Martin, aber geh erst vom Sattel
und laß dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen.
Archiv: Literatur

Kunst

Edouard Manet, Bildnis des Zacharie Astruc, 1866, Kunsthalle Bremen


Angeregt kommt Michael Diers (Zeit) aus einer Ausstellung in der Kunsthalle Bremen, die dem Maler Edouard Manet und dem Kunstkritiker und Künstler Zacharie Astruc gewidmet ist, den Manet auch porträtiert hat. Beide, so Diers, "haben sich grundlegende Gedanken über das Porträt als moderne Bildform gemacht". Doch die Ausstellung bietet noch mehr: "Wie raffiniert Manet die Gattungen Stillleben, Interieur und Porträt miteinander kombiniert - offensichtlich versteht er dies auch als Hommage an die Tradition der holländischen, spanischen, italienischen und japanischen Kunst, für die sich auch sein Freund Astruc begeisterte. ... Ähnlich wird der Bezug zur aufkommenden Mode des Japonismus herausgestellt und über kostbare Leihgaben aus ethnologischen Sammlungen, darunter ein Wandschirm, Spielpuppen und Holzschnitte, dingfest gemacht. Reale Gegenstände werden mit ihren bildlichen Wiedergaben konfrontiert - ein großes Vergnügen, zwischen den Gemälden und den Objekten in den Vitrinen hin- und herzuwandern."

Das von Herzog und de Meuron erbaute M+ in Hongkong


Der Schweizer Geschäftsmann und ehemalige Botschafter in Peking, Uli Sigg, sammelt seit dem Ende der siebziger Jahre chinesische Kunst. Untergebracht ist ein Großteil der Sammlung - über 1500 Werke von 320 Künstlern - jetzt im M+ Museum in Hongkong, das morgen eröffnet. Erbaut wurde es von Herzog & de Meuron und ist mit 68 000 Quadratmetern größer als das MoMA in New York oder die Tate Modern in London, berichtet in der NZZ Philipp Meier. Es gibt nur ein Problem: Kritische Kunst, wie sie Sigg auch sammelte, ist nicht mehr erwünscht in China, wie nicht zuletzt das kürzlich verabschiedete Sicherheitsgesetz zeigt. Sigg ist dennoch optimistisch: "Wie gesagt, weiß man noch nicht, wie das Gesetz mit der Kunst umgehen wird. Regierungschefin Carrie Lam hat mir gesagt, sie habe darauf bestanden, dass im Fünfjahresplan, der jetzt in Kraft ist, Hongkong auch die Aufgabe einer kulturellen Brücke Chinas zum Westen und zu Asien zukomme. Das ist wichtig für die Mission des M+ und gewährleistet einen gewissen Schutz für seine Sonderrolle in Sachen Kunst."

Weitere Artikel: Unbeeindruckt berichtet Sandra Danicke in der FR von der ersten AugmentedReality Biennale in Düsseldorf: "eine staunenswerte, wenngleich völlig harmlose Spielerei."
Archiv: Kunst

Architektur

Marcus Woeller besucht für die Welt das phantastische neue, von MVRDV erbaute Depot Boijmans Van Beuningen in Rotterdam. Ein Schaulager ist es geworden, mitten in der Stadt, und der Öffentlichkeit zugänglich: "Mit 150.000 Besuchern pro Jahr werden im Depot gerechnet. Sie müssen weiße Staubmäntel überziehen und können sich relativ frei bewegen. In kleinen Gruppen darf man das Hängelager für rund 2500 Gemälde betreten. Je nach Wunsch kann eine der beweglichen Gitterwände herausgezogen werden, wenn man ein Bild aus der Nähe betrachten will. In verschiebbaren Regalen stapeln sich moderne Rietveld-Stühle neben dem holzgeschnitzten Maßwerk eines gotischen Lettners." Ganz anders also als die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die sich "am Berliner Stadtrand ein gesichtsloses Zentraldepot bauen lässt, mit 13.500 Quadratmeter Nutzfläche zum Preis von 97 Millionen Euro."

Außerdem: Sabine von Fischer singt in der NZZ ein Loblied auf Hochhäuser.
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Musik

Das neue Album des Cellisten Kian Soltani bedient vor allem Berieselungsbedürfnisse und ist also im Grunde nicht der Rede wert, schreibt Hartmut Welscher auf VAN. Zu seinem Ärger wird Soltani im öffentlich-rechtlichen Rundfunk aber rauf und runter gespielt, während avanciertere Musiker um jedes bisschen Airtime kämpfen müssen: "Wie kommt es, dass der beitragsfinanzierte Rundfunk, dessen vielbeschworener Auftrag es ist, unabhängig von Marktmechanismen zu agieren, insbesondere im Fernsehen noch jede Marketing-Möhre anknabbert, die die großen Klassik-Labels ihnen hinhalten? Die Erklärung scheint so banal wie ernüchternd. 'Musiker inhaltlich künstlerisch beurteilen kann bei den Sendern eigentlich niemand. Das geben die auch zu. Das bedeutet: Die Orientierung ist dann intern, ob die Musiker schon mal in einem anderen TV-Format zu Gast waren'", erklärt eine PR-Managerin. "Für die Major Labels ist das ein perfektes Perpetuum mobile: Sie müssen ihre Künstler nur einmal ins Fernsehen einspeisen, dann läuft es dort von alleine immer weiter."

Weitere Artikel: Für VAN spricht Felix Linsmeier mit der Cellistin Valerie Fritz. Sarah Fritz ärgert sich im VAN-Magazin, dass Clara Schumanns Musik oft als zweitrangig abgetan wird - mit Schuld daran hätten "die schlecht verheilten Narben einer abgerissenen Aufführungstradition". Für ZeitOnline blickt Daniel-C. Schmidt unter anderen mit Bruce Springsteen auf New Jersey. Christiane Peitz berichtet im Tagesspiegel von den Berliner Barocktagen. TikTok schwärmt für ABBA, hat Amira Ben Saoud für den Standard herausgefunden. Christian Wildhagen wirft für die NZZ einen Blick in die Planungen des Lucerne Festivals 2022. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker diesmal über Norma Beecroft.



Besprochen werden Diana Ross' Comebackalbum "Thank You" (FR, mehr dazu hier), das Comebackalbum von ABBA ("sehr uninteressant", seufzt Arno Frank im Freitag), Ayas Album "Im Hole" (Standard) und Dear Laikas "Pluperfect Mind" (Pitchfork). Wir hören rein:

Archiv: Musik