Efeu - Die Kulturrundschau

Poetisches neben Kolloquialem

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06.11.2021. In der Literarischen Welt blickt die Soziologin Carolin Amlinger auf das prekäre Dasein von Schriftstellern. Wir bauen die Künstler auf und die subventionierten Orchester greifen sie dann ab, ärgert sich der Konzertveranstalter Andreas Schessl im VAN-Magazin. Der Standard lässt sich von Jonathan Meese mit Hakenkreuzbinde durchs Wiener Volkstheater peitschen. Die FAZ macht es sich in München gemütlich zwischen Riesenhalmen und Gartenei. Und Hyperallergic bewundert Fotografien von Georgia O'Keefe.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.11.2021 finden Sie hier

Kunst

Georgia O'Keeffe, Jimsonweed (Datura stramonium), 1964-68, black-and-white Polaroid, Georgia O'Keeffe Museum, Santa Fe.

Lauren Moya Ford (Hyperallergic) bewundert im Museum of Fine Arts Houston Fotografien von Georgia O'Keefe, die die Künstlerin selbst nur als "Skizzen" bezeichnete: "Die Salita-Serie vermittelt auch die Bedeutung des häuslichen Raums der Künstlerin. O'Keeffes Zuhause ist oft ihre Muse in ihren Fotografien, und ihre vertraute Terrasse, Schüsseln, Kuhschädel, Felsen, Chow-Chow-Hunde und Hofleiter verwandeln sich in anmutige Elemente aus Licht, Textur und Form, wenn sie in Schwarzweiß festgehalten werden. Doch trotz der Schönheit ihrer Fotos ging es O'Keeffe nicht darum, gestochen scharfe, polierte Abzüge zu produzieren: Sie verschickte ihre Abzüge ganz beiläufig an Freunde und benutzte sie als Lesezeichen."

"Generation Kanacke" nennt der Künstler Serkan Sarier seine Ausstellung in der Schöneberger Zwölf-Apostel-Kirche, angelehnt an einen Spiegel-Titel aus dem Jahr 1973 über die Kinder von türkischen Gastarbeitern, erinnert Birgit Rieger im Tagesspiegel. Zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens stellt Sarier die Frage, wann man eigentlich Deutscher wird: "1979 in Hanau mit türkischem Vater und bosnischer Mutter in einem muslimischen Haushalt aufgewachsen, nennt er sich ein 'Hybridwesen', geprägt von kollidierenden Werten, nicht ganz Türke, nicht ganz Deutscher, immer zwischen den Welten, permanent in Transformation. Die Figuren in seinen Ölgemälden fassen diesen Zustand ins Bild. Die Körper bilden Leerstellen. Wo Brust und Gliedmaßen sein sollten, scheinen die goldenen und kupfrigen Hintergründe durch. Kneift man die Augen etwas zu, verschwimmen die menschlichen Leiber für einen Moment mit der Landschaft und treten im nächsten Augenblick wieder daraus hervor."

Besprochen wird die Ausstellung "Inevitable Distances" der Künstlerin Renée Green, die im KW Institute und in der DAAD-Galerie in Berlin gezeigt wird (Berliner Zeitung)
Archiv: Kunst

Literatur

Die meisten Autoren können nicht von den Einkünften aus ihren Buchpublikationen leben, sagt im Welt-Gespräch mit Mladen Gladic die Literatursoziologin Carolin Amlinger, die in ihrem gerade erschienenen Buch "Schreiben" die Idee des "freien Autors" entzaubert: "Damit geht eine Vielzahl von ökonomischen, sozialen, aber auch ästhetischen Problemlagen einher, die gleichzeitig auch die Geschichte der literarischen Profession abbilden. (...) Seit der Etablierung eines ökonomischen Massenmarktes für Bücher im 19. Jahrhundert ringen Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit der Ausgestaltung ihrer Arbeit. Einerseits braucht man nämlich ein Mindestmaß an staatlicher Sicherung, einen bestimmten institutionellen Rahmen, der die Tätigkeit in die Marktgesellschaft einbettet, um den Warentausch auf dem Buchmarkt zu garantieren. Die Kämpfe um das Urheberrecht sind beispielsweise gleichzeitig immer auch Kämpfe um die Ausgestaltung literarischen Arbeitens gewesen. Zudem soll dieser Rahmen die Autonomie der Tätigkeit, die immer auch normativ aufgeladen ist, schützen, gewähren und unangetastet lassen."

In der FAZ porträtiert Othmara Glas den kasachischen Dichter Aron Atabek, der fünfzehn Jahre lang im Gefängnis saß, nachdem er in seinem Gedicht "NUR-LAG" Kasachstans Ex-Präsidenten Nursultan Nasarbajew kritisiert hatte. Ihm wurde vorgeworfen, 2006 Proteste organisiert zu haben: "Atabek erklärte nach seiner Entlassung im kasachischen Ableger des amerikanischen Radio Free Europe/Radio Liberty ihm seien in der Haft Arme, Beine und Finger gebrochen worden, notwendige medizinische Behandlungen habe er zu spät erhalten. Die Behörden weisen die Vorwürfe zurück. Bilder, die seine Tochter nach der Haftentlassung in den sozialen Medien postet, zeigen jedoch, wie sehr Atabek in der Haft gelitten hat. Nur noch fünfzig Kilo soll der 1,80 Meter große Mann nach Angaben der Tochter wiegen."

Im Standard gratuliert Amira Ben Saoud Clemens J. Setz, dem "Universalgelehrten der Nischen", zum Büchner-Preis: "Seine Begeisterungsfähigkeit lässt Setz sich in unterschiedlichste Gebiete vertiefen, von denen er auch seinem Publikum keine Details erspart. Das kann durchaus etwas viel werden. Auch stilistisch ist der Autor eine Forrest-Gump'sche Pralinenschachtel, in der verspielt Poetisches neben Kolloquialem zu liegen kommt."

Außerdem: Zum 200. Geburtstag singt Viktor Jerofejew Fjodor Dostojewski in der Literarischen Welt eine Hymne: "Wer ist er? Ein Pathologe der lebendigen menschlichen Seele, der den Mechanismus unserer Unvollkommenheit und unsere ureigenste Widersprüchlichkeit aufgedeckt hat. Hin- und hergerissen zwischen Glauben und Unglauben, bemüht, ebenso wie seine Figur, Gott 'bei den Hinterbeinen' zu fassen, hat er die absolute Absurdität des menschlichen Lebens gezeigt, lange vor Kafka." Im taz-Gespräch mit Reiner Wandler erzählt die spanische Autorin Maria Sanchez, die gerade den Roman "Land der Frauen" veröffentlicht hat, wie Spanierinnen, die "in den entvölkerten Landesteilen ausharren", oft ohne Zugang zu sozialen Diensten und ohne Krankenversorgung leben. Ebenfalls in der taz freut sich Peter Unfried auf die Zeit der Klimaromane. In der SZ berichtet Miryam Schellbach von einer Diskussion in der Darmstädter Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, wo die Büchner-Preisträger Terezia Mora und Arnold Stadler über Moral und Literatur debattierten. Außerdem stellt Gustav Seibt in der SZ das von der Klassik Stiftung Weimar betriebene Portal "Propyläen" vor, das Goethes Tagebücher, Briefe, an ihn gerichtete Briefe und Gespräche und alle bisherigen Editionen online zusammenführen will. Im Literarischen Leben der FAZ wagt der Literaturwissenschaftler Wolfgang Matz einen Selbstversuch mit Rudolf Borchardts Übersetzung von Dantes "Göttlicher Komödie".

Besprochen werden unter anderem Enrico Ippolitos Roman "Was rot war" (taz), Donatella Di Cesares "Philosophie der Migration" (taz), Andrej Gelassimows Roman "Russenrap" (SZ), Peter Stamms Roman "Das Archiv der Gefühle" (FAZ) und Edouard Louis' neuer Roman "Die Freiheit einer Frau" (Literarische Welt).
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Bühne

Szene aus "Kampf. L.O.L.I.T.A." Bild: Marcel Urlaub, Volkstheater

Standard
-Kritiker Stephan Hilpold lässt sich am Wiener Volkstheater von Jonathan Meese mit Hakenkreuzbinde und Peitsche ordentlich einheizen, wenn ihm der "deutsche Künstlerschreck" in "Kampf L.O.L.I.T.A" Pop, Mythen und Neurosen "zusammenmantscht": "Momente des Innehaltens oder gar der Ruhe gibt es dabei unter der Fuchtel des Kunstdiktators nicht. Wobei sich der ziemlich eindrucksvolle Performer Meese selbst keinen Moment schont. Am ärgsten trifft es die großartige Lilith Stangenberg, die wahlweise als Lolita oder Nazibraut das Horst-Wessel-Lied krächzt, bevor sie auf ihrem Schaukelpferd wieder von neuem loslegt. Martin Wuttke hat einen Schenkelklopferauftritt als rheinländische Führer-Braut, Maximilian Brauer spreizt stoisch seine Arschbacken. Beenden muss das Spektakel schließlich Volkstheater-Intendant Kay Voges, Meese hätte wohl noch endlos weitergemacht. So geht Wahnsinnstheater."

Außerdem: Bis 2030 soll die Sanierung der Salzburger Festspielhäuser vollständig abgeschlossen sein, meldet der Standard.

Besprochen werden Daniel Foersters Inszenierung von Caren Jeß' "Eleos. Eine Empörung in 36 Miniaturen" am Schauspielhaus Graz (nachtkritik), Lizzy Timmers Inszenierung "Sladek oder Die Schwarze Armee" von Ödön von Horváth, mit neuen Texten von Manja Präkels am Theaterhaus Jena (nachtkritik), Nunan David Calis' Stück "Die Lücke 2.0" am Schauspiel Köln (nachtkritik),
 Michael Thalheimers "Räuber"-Inszenierung am Thalia Theater Hamburg (Zeit Online), Sarah Groß' Inszenierung "Guter Mond, du goldne Zwiebel" an Frankfurter Volksbühne (FR) und Johan Simons' Ödipus-Inszenierung am Bochumer Schauspielhaus (FAZ).
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Design

Bild: Guido Drocco, Franco Mello. Kleiderständer Cactus. 1971. Foto: Die Neue Sammlung - The Design Museum (K. Mewes).

Dass sich west- und ostdeutsches Design gar nicht besonders unterschied, erkennt Hannes Hintermeier in der FAZ in der Ausstellung "Ins Freie" in der Münchner Pinakothek der Moderne: "In den Sechzigerjahren war auch im Design Revolution angesagt. Gestalter der italienischen Firma Gufram holten die Natur ins Heim, etwa mit der der Pop-Art entlehnten giftgrünen Sitzlandschaft Pratone oder dem mannshohen Kleiderständer Cactus (1971). Zwischen wiegenden Riesenhalmen aus Polstern saß man wie in einer Riesenwiese auf dem Boden. Ein Bruch mit der bürgerlichen Wohnkonvention und ein neuer Zugang zum Design, dessen Radikalität Nachgeborene begeistert. Dazu zählt auch Luigi Colanis organische Gartenliege von 1967 und der Gartensessel Sunball (gebaut von der Firma Rosenthal, 1969), dessen Astronautenhelmdesign unzweifelhaft vom Wettlauf ins All inspiriert war. Gleiches gilt für das Ost-Pendant Gartenei (auch Senftenberger Ei, 1968), das Peter Ghyczy für den VEB Synthesewerke Schwarzheide entworfen hat."
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Film

Im SZ-Interview mit Susan Vahabzadeh spricht Mia Hansen-Løve über ihren Film "Bergman Island". Im Guardian schildert Alex Mistlin, wie schwierig es für schwarze Schauspieler in Großbritannien ist, sich zu etablieren. Besprochen werden Ildikó Enyedis "Die Geschichte meiner Frau" (Welt, Filmdienst), Miguel Sapochniks "Finch" mit Tom Hanks (Zeit Online) und Shahrbanoo Sadats "Kabul Kinderheim" (artechock).
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Stichwörter: Hansen-Love, Mia, Kinderheime

Musik

"Dass es (…) einen durchaus wesentlichen Teil der Branche gibt, der eben nicht subventioniert und damit auf sich alleine gestellt ist, haben viele nicht bedacht", kritisiert der Konzertveranstalter Andreas Schessl die Kulturpolitik während der Pandemie im VAN-Gespräch mit Merle Krafeld: "Subventionen sind meiner Meinung nach vor allem dazu da, um einem Bildungsauftrag nachzukommen, eine Grundversorgung zu gewährleisten - auch für Leute, die nicht so viel Geld haben - um so ein ambitioniertes Programm zu ermöglichen. Die Tendenz geht aber in die Richtung, dass Veranstalter wie wir Künstler aufbauen, die, wenn sie irgendwann weit genug sind, bei einem der großen subventionierten Orchester spielen dürfen. Diese Institutionen sollten sich an der Aufbauarbeit mit beteiligen! Die Basisarbeit wird momentan zum großen Teil von privaten Veranstaltern übernommen. Hierbei sehe ich ein Missverhältnis."

"Ich habe begonnen, über Bach nicht nur als Komponisten nachzudenken und nach Hinweisen auf ihn als Mensch in seinen Werken und denen seiner Kinder gesucht", sagt Daniil Trifonov über sein neues Bach-Album im NZZ-Gespräch mit Dorothea Walchshäusl: "Schließlich sei Bachs Musik ausgesprochen kommunikativ und menschlich. Auch fänden sich immer wieder autobiografische Momente in den Stücken, etwa in der Chaconne, die Trifonov als 'das wohl tragischste, emotionalste Stück' beschreibt, das Bach je komponiert habe. Ebenso in den kontemplativen Augenblicken der 'Kunst der Fuge', in denen Bach scheinbar Vergangenem nachlausche."

Wir hören rein:



Außerdem: In der taz spricht Stephanie Grimm mit Blur-Frontmann Damon Albarn über dessen neues Album "The Nearer the Fountain, More Pure the Stream Flows", Lyrik von John Clare und den Zustand der Ozeane. Im VAN-Interview mit Hartmut Welscher erzählt der Fagottist Mor Biron, weshalb die Berliner Philharmoniker nach 15 Jahren verlässt: "Es gibt im Orchester viel männliche Energie. Das liegt auch daran, dass nicht genug Frauen im Orchester sitzen, es gibt nicht genug feminine vibrations in den Stimmgruppen."

Besprochen werden das neue Album "Four Visions of France" des Cellisten Daniel Müller-Schott mit Werken von Gabriel Fauré, Camille Saint-Saens, Edouard Lalo und Arthur Honegger (Tagesspiegel) und das neue Abba-Album, das Juliane Liebert in der SZ dicht dran an der "perfekten Popmusik" sieht. Weitere Besprechungen in NZZ und FAZ. Außerdem ein Band mit "Lyrics" von Paul McCartney (FAZ) und der Auftakt des Berliner Jazzfestes im Pierre Boulez Saal (Tagesspiegel).
Archiv: Musik

Architektur

Die Texte zu lang, die Grafiken zu kompliziert, die Installationen zu "kryptisch" - genervt bilanziert Martin Kieren in der taz die 17. Architekturbiennale in Venedig, die unter dem Motto "How will we live together" stattfand: "Spanien hängt tausend DIN-A4-Blätter an die Decke - unlesbar. Der Schweizer an sich problematisiert Grenzerfahrungen. Die Ausstellung selbst bleibt kryptisch modellhaft. Russland rekapituliert die Geschichte seines Pavillons auf kopierten Buchseiten in Postkartengröße und zeigt einen martialischen Animationsfilm mit in Uniformen gekleideten und schwer bewaffneten Menschen. Architektur? Japan zerlegt ein klassisches (Tee-)Haus und sortiert fein säuberlich die Bauteile nach Typus, Stärke, Länge auf dem Boden des Pavillons; immerhin gibt dies Einblick in den Prozess des Baues vor der Architektur. Schön gemacht. - So geht es weiter. Das metiersbedingte Architektonische der Architektur diesseits der Katastrophen bleibt zumeist auf der Strecke."
Archiv: Architektur