Efeu - Die Kulturrundschau

Wie ein Künstler seine Beherrschung verliert

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27.10.2021. Der junge John Constable war vielleicht ein englischer Landschaftsmaler, aber der späte war ein radikaler Moderner, erkennt der Guardian in der Royal Academy. Die NZZ sieht einen neuen Malerstar am Renaissance-Himmel aufgehen: den Lübecker Hans Kemmer. Mit einem feurigen "Troubadour" reißt Gianandrea Noseda die FAZ vom Sitz im Zürcher Opernhaus. In der Debatte um den Klimawandel in der Literatur setzt die SZ lieber auf den schönen Herbst als auf das drängende Anliegen. Und die Jungle World erzählt, wie Uwe Nettelbeck der Plattenfirma Polydor die Krautrockband Faust unterjubelte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.10.2021 finden Sie hier

Kunst

John Constable: Rainstorm over the Sea, 1828. Bild: Royal Academy

Wer John Constable bisher nur als nostalgischen Maler englischer Landschaften kannte, wird in der Ausstellung in der Royal Academy sein blaues Wunder erleben, verspricht Jonathan Jones in Guardian, denn am Ende seines Schaffens sei Constable sogar radikaler und moderner als Turner gewesen. "'Der späte Constable', diese lang erwartete Ausstellung, zeigt, wie ein Künstler seine Beherrschung verliert - und ein inneres Feuer entdeckt, das so stark lodert, dass es ihn zu Beginn des 19. Jahrhundrets moderne Kunst malen lässt. In jungen Jahren glaubte Constable, dass ein Maler einfach das wiedergeben sollte, was er sieht. 1776 geboren, lehnte er die gotischen und romantischen Klischees seiner Zeit ab, und malte stattdessen mit purer Wahrhaftigkeit die eigene Umgebung in Suffolk und seines späteren Heimatorts Hampstead, damals ein Dorf im Norden Londons. Er bereitete den Weg für das Malen unter freiem Himmel, direkt in der Natur. Aber in dieser stürmischen Ausstellung sieht man, wie er die Risse in der Realität entdeckt - und direkt durch sie hindurchfällt."

Hans Kemmer: Die Liebesgabe (Ausschnitt), um 1529

In der NZZ feiert Thomas Ribi die Wiederentdeckung des Renaissance-Malers Hans Kemmer, dessen Bilder lange Zeit der Cranach-Werkstatt zugeschrieben wurde und dem das Lübecker St.-Annen-Museum nun eine große Ausstellung widmet: "Hat die Malerei der deutschen Renaissance also einen neuen Star? Durchaus, Hans Kemmer ist ein feinsinniger, technisch perfekter Künstler, auch wenn er mit der Finesse von Cranach, Albrecht Dürer oder Matthias Grünewald nicht mithalten kann. Seine Arbeiten sind schlichter und konventioneller. Aber an seinem Werk zeigt sich exemplarisch das Problem, mit dem die Maler in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts konfrontiert waren. Mit der Reformation ging der Bedarf an Sakralbildern innert weniger Jahre massiv zurück. Private Stiftungen für die Jenseitsvorsorge, die den Malerwerkstätten über Jahrhunderte einen sicheren Absatz beschert hatten, wurden mit der reformatorischen Gnadenlehre obsolet. Auch wenn Luther anders als Zwingli und Calvin den Wert von Bildern in der Kirche nicht grundsätzlich infrage stellte, mussten sich die Maler neu orientieren."

Besprochen werden die Schau der Londoner Malerin Lynette Yiadom-Boakye in der Düsseldorfer Kunstsammlung (Welt), eine Ausstellung von Ron Muecks hyperrealistischen Skulpturen in der Galerie Thaddaeus Ropac in London (Observer), eine Schau des Biedermeier-Malers Johann Erdmann Hummel in der Alten Nationalgalerie in Berlin (FAZ) und eine Ausstellung über die Bildhauerin Louise Stomps in der Berlinischen Galerie (Tsp).
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Literatur

Dass Bernd Ulrich kürzlich in der Zeit die Literatur dafür tadelte, sich bislang nicht auf den Klimawandel und dessen Herausforderungen gestürzt zu haben (unser Resümee), nimmt Hilmar Klute in der SZ nur amüsiert zur Kenntnis: Solcher Gegenwartsdruck führe doch meist eher zu nichts. Ist denn nicht "das Schöne an der schönen Literatur zum Beispiel dieses Herbstes der Umstand, dass sie so gut wie nichts über das blöde Coronavirus und dessen Folgen für Mensch, Wohnung und Katze bereitgestellt hat? ... Es gibt im - vor allem deutschen - Kulturbetrieb die seltsame Neigung, Schriftsteller entweder gering zu schätzen oder sie gleich zu Orakeln zu erklären. Wann gab es je so viele Statements, offene Briefe, Unterschriftenlisten von Autoren zu sämtlichen tagesaktuellen Anliegen? Und warum noch mal brauchen wir Schriftsteller, wie es in der Zeit heißt, gerade jetzt so dringend? Wieso nicht gestern? Oder morgen?" Die Vorstellung, dass Literaten sich in aktuelle Debattenlagen einzumischen haben, "ist ein gelernter Anspruch der spätmodernen Konsumgesellschaft, die weiß, dass es für jeden Blödsinn, den sie macht, auch einen verlässlichen Kritiker gibt."

Weiteres: In der "10 nach 8"-Serie von ZeitOnline schreibt die Schriftstellerin Maren Wurster darüber, wie ihr Sohn auf den Tod seines Großvaters reagierte. Die FAZ hat Orhan Pamuks Plädoyer für Venedig und mehr Klimaschutz (unser Resümee) online nachgereicht. Elke Heidenreich darf in der SZ Florian Illies den roten - oder goldenen - Teppich ausrollen, der in seinem neuen Buch "Liebe in Zeiten des Hasses" von den großen Liebespaaren des Literaturbetriebs erzählt.

Besprochen werden unter anderem Julia Francks "Welten auseinander" (Zeit), ein Sammelband mit den Buchillustrationen des Grafikers Celestino Piatti (Zeit), Doris Knechts "Die Nachricht" (Tsp), Michael Krügers Gedichtband "Im Wald, im Holzhaus" (Tsp), die Korrespondenz zwischen Ernst und Gretha Jünger (Tsp), Barbara Honigmanns "Unverschämt jüdisch" mit gesammelten Reden (SZ) und Dorothy Wests "Die Hochzeit" (FAZ).
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Bühne

Adele Thomas' Inszenierung von Verdis "Troubadour". Foto: Monika Rittershaus / Opernhaus Zürich 

Einfach hingerissen ist FAZ-Kritikerin Lotte Thaler von Gianandrea Nosedas temperamentvollem Einstand als Generalmusikdirektor am Zürcher Opernhaus mit Verdis "Troubadour": "In die Glieder fuhren diese knappen, gestochen scharf artikulierten Rhythmen, die einen noch auf dem Heimweg begleiteten. Um ein Haar hätte man die herrlich aufwallenden Kantilenen mitgesungen. Und erst recht auf der Stuhlkante saß die Philharmonia Zürich, die sich das 'con fuoco' Nosedas mit italienischer Wendigkeit zu eigen machte. Nicht allein durch das hohe Spieltempo, sondern durch den blitzschnellen Wechsel aller Gefühlslagen von der kämpferischen Freude im dynamischen Vollrausch, der vibrierenden Aufgeregtheit, der sehnsüchtigen Liebe, der tobenden Wut bis zur seufzenden Todesgewissheit. Noch der Trauermarsch im vierten Akt hatte Schneid."

Besprochen werden weiter Lars-Ole Walburgs Bühnenadaption von Erich Maria Remarques KZ-Roman "Der Funke Leben" in Kassel (FR) und Iiro Rantalas Kinderoper "Die Zaubermelodika" in Berlin (NMZ).
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Film

In der Medienkorrespondenz schreibt Dietrich Leder einen Nachruf auf Eckart Stein, den legendären ZDF-Filmredakteur, der damals "Das kleine Fernsehspiel" aufbaute und zu Renommee verhalf: "Er wollte das moderne Kino der 1960er Jahre, wie es die Nouvelle Vague in Frankreich, das Free Cinema in England oder der Neue Deutsche Film entwickelt hatten, ins Fernsehen holen - gegenwärtige Stoffe, die ungewöhnlich erzählt, radikal montiert und mit dem Bewusstsein der Filmgeschichte daherkamen. Kurz gesagt: Er wollte das Fernsehen und damit das ZDF für die internationale Filmkunst öffnen, ohne dabei dem Kino die so entstehenden Filme abspenstig zu machen."

Weiteres: Dominik Kamalzadeh berichtet im Standard vom aktuellen Konflikt in der österreichischen Filmbranche: 42 Filmschaffende - die meisten davon Frauen - sind aus der Interessensvertretung "Österreichisches Filminstitut" ausgetreten, der sie vorwerfen, nach einer Umbesetzung des Vorstands die Frauenquote stürzen zu wollen. Daniel Kothenschulte porträtiert in der FR die Kamerafrau Halyna Hutchins, die bei den Dreharbeiten zu "Rust" nach einem tödlichen Schuss aus einer vermeintlich kalten Waffe (hier berichtet Sarah Pines in der NZZ zum Stand der Ermittlungen) ums Leben kam. Elena Panagiotidis fasst in der NZZ den Streit rund um Dave Chappelles Netflix-Comedy-Special "The Closer" zusammen. Sophia Zessnik unterhält sich für die taz mit dem Schauspieler Andreas Lust, der in der Sky-Miniserie zur Ibiza-Affäre Heinz-Christian Strache spielt. Thomas Abeltshauser stattet dem unter anderem für Wes Anderson tätigen Filmrequisiteur Simon Weisse einen Besuch ab. Dlf Kultur unterhält sich ausführlich mit der Dokumentarfilmerin Aysun Bademsoy. Außerdem spricht Klaus Lemke im Dlf Kultur über seinen neuen Film "Berlin Izza Bitch", den der WDR gerade online gestellt hat.

Besprochen werden die Premiere in Hof von "Sargnagel - der Film" (SZ), Andy Serkis' Superheldenkomödie "Venom: Let There Be Carnage" (taz) und Axel Brüggemanns "Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt" (FAZ).
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Musik

In der Jungle World erzählt Uli Krug die verwinkelte Geschichte der heroischen und bis heute aktiven Krautrockband Faust, deren Frühwerk gerade in einer Luxus-Edition (und in einem Radiofeature) aufbereitet wird. Möglich wurde diese Band, die sich für ihre Experimente mit sündhaft teurem Equipment oft wochenlang wegschloss, durch eine sympathische Gaunerei des stets wieselflinken Managers Uwe Nettelbeck, der mit dem Versprechen, die deutschen Beatles zu präsentieren, der Plattenfirma Polydor Höchstsummen abluchste. "Eilig wurden im Bunker entstandene Musikbruchstücke aneinandergeschnitten, ein Werbetext für vollautomatische Waschmaschinen wurde darübergesprochen und das Ganze mit 20sekündigen Skandieren der Parole 'Die Macht im Staat dem Proletariat' eingeleitet - fertig war die Demo-Single 'Lieber Herr Deutschland'." Schließlich zog die Band auf einen Bauernhof, "richtete sich ein Tonstudio ein, frickelte an heute urtümlich wirkenden elektronischen Klangerzeugern herum - und sollte nun etwas Großes und Unerhörtes erschaffen. Der damalige Schlagzeuger Arnulf Meifert schildert die Situation so: 'Du sperrst ein paar Leute in einen Raum und sagst: Entweder vertragt ihr euch und schreibt das Gedicht des Jahrhunderts oder ihr werdet hingerichtet. Wir verriegeln die Türen, ihr habt sechs Stunden Zeit.'" So klang das dann damals:



Weitere Artikel: In der NMZ wirft Gerhard R. Koch einen Blick zurück auf die Veränderungen in der Musikkritikseit den fünfziger Jahren. Besprochen werden Groupers neues, im Laufe von 15 Jahren aufgenommenes Album "Shade" (Pitchfork), ein Bach-Abend und eine Bach-CD von und mit Daniil Trifonov (Tagesspiegel), das Debütalbum von Finneas, Billie Eilishs Bruder und Produzent (taz), das neue Elton-John-Album (Tagesspiegel), Christoph Dallachs Krautrock-Oral-History "Future Sounds" (FAZ), Johnny Cashs neues Live-Album "At the Carousel Ballroom" mit einer Aufnahme vom April 1968 ("energetisch, lässig und von bestechender Tonqualität", freut sich Juliane Liebert in der SZ) und Parquet Courts' neues Album "Sympathy for Life", das ZeitOnline-Rezensent Daniel Gerhardt darüber grübeln lässt, inwiefern Rockmusik auch heute noch relevant sein kann. Wir hören rein:

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