Efeu - Die Kulturrundschau

Hauptbehörde der Ich-Auskunft

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02.10.2021. Ich habe die Krücke zeitgenössischer Relevanz endlich weggeworfen, ruft Jonathan Franzen im Interview über seinen neuen Roman in der Welt. Warum malen Künstler Frauen so gerne nackt, fragt die NZZ - eine Fragestellung, die der Standard in der großen Wiener Tizian-Ausstellung vermisst. Sehnsucht nach Freiheit statt Kritik an repressiven Regimes findet die nachtkritik in Kirill Serebrennikows Hommage an den chinesischen Fotografen Ren Hang. Der Filmdienst würdigt den mauretanischen Filmemacher Abderrahmane Sissako, der mit dem Konrad-Wolf-Preis ausgezeichnet wird. Die SZ bewundert Tirzahs Mischung aus R'n'B und Noise.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.10.2021 finden Sie hier

Kunst

Warum werden Frauen durch die Kunstgeschichte hinweg am liebsten nackt gemalt? Man kann sich da viel reindenken, aber vielleicht ging es "männlicher Kulturleistung stets auch um den Zugang zu Frauen", überlegt Philipp Meier in einem Essay für die NZZ. "In der Kunst aber geschieht dies auf symbolischer Ebene. Die großen Meister haben in ihren Venus-Darstellungen die Frauen zu göttlichen Hüterinnen von Liebe und Sinnlichkeit verklärt. Im autonomen schöpferischen Akt der Kunst aber haben sie sich ein Stück weit auch der Kontrolle über ihr eigenes Begehren bemächtigt."

Tizian, Venus mit Orgelspieler und Cupido, um 1555. Bild © Archivo Fotográfico. Museo Nacional del Prado, Madrid


Zu Meiers Thema passt gut die Ausstellung "Tizians Frauenbild", die nach einem Jahr Verzögerung jetzt im Kunsthistorischen Museum in Wien eröffnet wird. Es ist eine Blockbuster-Ausstellung, der ein neuer Blick fehlt, seufzt Katharina Rustler im Standard. "Neben wenigen in Auftrag gegebenen Realporträts bildeten Tizian und seine Kollegen Frauen oft als Heilige, Göttinnen oder Heroinnen ab. Aus Ovids Metamorphosen schöpfend, zeigte Tizian in seinen Poesien Figuren wie Danae als überirdische nackte Wesen. In zahlreichen Venus-Darstellungen scheint der Wettstreit zwischen Poesie und Malerei auf die Spitze getrieben. Wobei nur kurze Saaltexte unter den Gemälden von den brutalen Schicksalen von Susanna oder Lucretia erzählen, diese aber nicht als sexuelle Gewaltakte von Männern interpretieren. Die Gemeinsamkeiten der Frauen werden lediglich in ihrer Schönheit verortet. Eine ebenfalls vertane Chance der zeitgemäßen Einordnung."

© Gundula Schulze Eldowy, Lehmstedt Verlag


In Berlin hat die Fotografin Gundula Schulze Eldowy nach langer Zeit endlich wieder eine Einzelausstellung, in der "Galerie Pankow". Peter Truschner nutzt im Fotolot die Gelegenheit für ein Porträt der Fotografin, die in ihrer "kühnen, ungeschönten Darstellung von Sexualität, Geburt und Tod" noch über Diane Arbus hinausgeht. "Die Direktheit, ja Rohheit der Bilder ist geradezu atemberaubend. Viele haben längst denselben ikonischen Charakter wie Anders Petersens Aufnahmen aus dem 'Café Lehmitz'. Lothar, der nackt und breitbeinig auf seinem Bett sitzt. Die Briefträgerin, die an Grauem Star erkrankt war und zum Ärger aller die Briefe immer in die falschen Kästen warf. Siegfried, der sich sitzend in Unterwäsche präsentiert ... Wie ist die junge Frau zu diesen Fotos gekommen, nicht zuletzt zu den von keiner gekünstelten Pose und keinem Schamgefühl verstellten Aktaufnahmen Menschen jeden Alters (darunter auch solche von Kindern, die heute für Empörung sorgen würden)? Indem sie genauso so direkt und unverstellt vorging."

Weiteres: Einen "ernsten Spaß" macht der Künstler Wilhelm Koch, der Angela Merkel als Reiterstandbild für Etsdorf in der Oberpfalz verewigen will, berichtet Christian Schröder im Tagesspiegel. Besprochen wird eine Ausstellung von Hulda Rós Guðnadóttir in der Gallery Gudmundsdottir in Berlin (taz).
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Literatur

Große Franzen-Festspiele in den Feuilletons. FAZ und Literarische Welt bringen großformatige Interviews, zu denen das Erscheinen seines neuen, in SZ, Tagesspiegel und FAZ besprochenen Romans "Crossroads" den Anlass bietet. "Man könnte sagen, dass ich die Krücke zeitgenössischer Relevanz endlich weggeworfen habe", verrät er der Literarischen Welt auf die Frage, warum er seinen Roman in den Jahren 1971/72 spielen lässt. Was habe die damalige Zeit mit heute zu tun? "Ich kann den Lehnstuhlhistoriker geben und gewisse Berührungspunkte aufführen - insbesondere, in Amerika, einen erneuten Kampf gegen den systemischen Rassismus und das Ende eines langen und katastrophalen Krieges im Ausland. Aber das Buch ist keines über die Siebzigerjahre, außer in dem negativen Sinn, dass es heutige kulturelle Klischees über diese Ära zurückweist. Ich wollte das Gefühl erzeugen, in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort zu sein, aber ich wollte nicht, dass sich das 'historisch' anfühlt."

Das Buch bildet den Auftakt zu Franzens Spätwerk, einer Trilogie, die bis in die Gegenwart reichen soll, sagt der Schriftsteller der FAZ. Daneben ist "die Mythologie, die Religion, mein Thema. Als Gegenentwurf zur Aufklärung, weil wir uns heute Formen des Wissens zuwenden, die auf dem Glauben basieren. Die wachsende Ablehnung von Wissenschaft, von Expertentum, von Fakten, das beschäftigt mich. ... In Europa wie im liberalen Amerika ist das Christentum nahezu irrelevant geworden, in progressiven Kreisen ist es bei uns fast schon ein Schimpfwort, weil es inzwischen so sehr mit der politischen Rechten in Verbindung gebracht wird." Die frühen Siebziger "sind der letzte Moment, an dem liberale Kräfte in der Kirche noch wirkten. Danach entkoppelten sich in Amerika fortschrittliche Politik und Christentum. Die Bürgerrechtsdebatten, der Widerstand gegen den Vietnam-Krieg, an alldem waren die Kirchen beteiligt. Nach 1971 hörte dieses Engagement auf."

In einem melancholischen NZZ-Essay widmet sich Paul Jandl dem Zustand der Literaturkritik. Spoiler: Richtig gut steht es um sie nicht. Jandl betastet viele Facetten, unter anderem die, dass Lesen zunehmend eine Sache des Gefühls wird. "Ohne Zweifel kann Lesen Gefühle erzeugen. So wie der deutsche Schlager oder die Kleintierzucht", aber "der fortschreitend idiosynkratische Umgang mit Literatur erklärt eine ihrer Nebenwirkungen zur Hauptwirkung. Man wird sich nicht wundern, dass die Hauptbehörde der Ich-Auskunft, das Internet, emotionales Lesen als Geschäftszweig entdeckt hat. Wo das Meinen längst Syndrom ist und der Bedarf an Meinung von jedem Mitglied des Internets nach Kräften gedeckt wird, dort ist freischwebende Subjektivität fast schon eine Tautologie. Wer liest nicht? Und wer möchte nicht anderen erzählen, wie es ihm dabei ergangen ist? Aus dem privatistischen Rahmen, zu dem man auch die Feuilletons zählen kann, hat sich die Buchempfehlung ins weite Land der Seelenverwandtschaften hinauskatapultiert."

Weitere Artikel: Im taz-Interview spricht Hannes Köhler über seinen Roman "Götterfunken", der unter anderem von spanischen Anarchisten handelt. In der neuen Ausgabe des CrimeMag spricht Alf Mayer mit dem Krimiautor Franck Bouysse (weitere Hinweise auf die Rezensionen und Essays des neuen CrimeMags hier im Editorial). Alexandra Gerlach porträtiert im Dlf Kultur den Schriftsteller Michael Göring, der sich in seinem Roman "Dresden" an seine Zeit als Jugendlicher in der DDR erinnert. Tania Martini wirft in der taz einen kleinen Blick voraus die Frankfurter Buchmesse. In seiner Zeit-Kolumne erinnert sich Maxim Biller an eine Reise in die Ukraine. In der neuen Folge des "Und dann kam Punk"-Podcast plaudert der Schriftsteller Tijan Sila ausführlich über seine Erfahrungen im Jugoslawienkrieg, wie er Zuflucht in der deutschen Punkszene fand und dann zum Schreiben kam. In seiner Kolumne in der Literarischen Welt erinnert sich Georg Stefan Troller an ein Pariser Abendessen mit Peter Handke.

Besprochen werden unter anderem Sasha Marianna Salzmanns "Im Menschen muss alles herrlich sein" (taz), Hannah Lühmanns "Auszeit" (FR), Colson Whiteheads "Harlem Shuffle" (CrimeMag), eine Edel-Edition von Gay Taleses 1966 im Esquire erschienenem Porträt über Frank Sinatra (CrimeMag), Lorenz Jägers Heidegger-Biografie (SZ), Ivy Pochodas "Diese Frauen" (CrimeMag), Günther Rühles "Ein alter Mann wird älter" (Tagesspiegel) der von Peter-Erwin Jansen herausgegebene Briefwechsel zwischen Herbert Marcuse und Leo Löwenthal (taz), CaroleAngiers Biografie über W.G. Sebald (Literarische Welt) und die deutsche Erstveröffentlichung von Wsewolod Iwanows "U" aus dem Jahr 1932 (FAZ).
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Bühne

Szene aus "Outside". Foto: Ira Polar


In Berlin hat das FIND Festival 2021 an der Berliner Schaubühne eröffnet mit "Outside", Kirill Serebrennikows Hommage an Ren Hang, und "Love", einem Londoner Gastspiel von Alexander Zeldin. In der nachtkritik ist Sophie Diesselhorst trotz aller Sympathie leicht enttäuscht von Serebrennikows Stück. Zusammenarbeiten konnten der russische Theatermacher und der chinesische Fotograf nie (Ren Hang nahm sich 2017 das Leben) also stellt sich Serebrennikow eine Begegnung einfach vor, "indem er sich und Ren jeweils ein Alter Ego gibt. Die beiden tauschen sich aus über verschiedene Arten der Isolation - die psychische sowie die, zu der Serebrennikow durch den Hausarrest nach einer politisch motivierten Anklage wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder von August 2017 bis April 2019 verbannt war. ... Ren wurde in China wiederholt festgenommen mit dem Vorwurf, seine Bilder seien pornografisch. Auch er wurde also als Künstler von einem repressiven Regime unter Druck gesetzt, aber eine wirklich große Rolle spielt das nicht in 'Outside'. Auch seine eigene Situation im Hausarrest in Moskau biegt Serebrennikow weniger auf die Rolle des verfolgten Künstlers hin als vielmehr auf die Sehnsucht nach den Freiheiten, die er entbehren muss" und die er durch Nachstellen der Bilder Rens simuliert. Das ist anrührend, findet Diesselhorst, aber verliert auch bald seine Spannung.

Besprochen werden außerdem Heike M. Goetzes Inszenierung des "King Lear" am Luzerner Theater (nachtkritik) und René Polleschs "Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer" bei den Wiener Festwochen (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Film

Abderrahmane Sissako wird mit dem Konrad-Wolf-Preis geehrt. Im Filmdienst würdigt Dorothee Wenner den mauretanischen Filmemacher, der "das Gegenteil eines sesshaften Dorfchronisten mit eindeutiger Verwurzelung ist. Und das, obwohl sein Geburtsort Kiffa der Ausgangspunkt der Reise in 'Rostov - Luanda' ist - und im Hof seines Vaters 'Bamako' gedreht wurde." Seine "Schauplätze wirken wie Essenzen eines transkontinentalen Afrikas, das extrem von Kolonialisierung und Globalisierung geprägt ist." Und er "hat eine besondere Vorliebe für Bilder und Szenen, in denen 'moderne Technik' in traditionelles Afrika-Ambiente crasht. ... Sissako versichert sich mit diesen immer wieder auftauchenden 'Kontrasten' in seiner Bildsprache gegen die Exotisierung der afrikanischen Schauplätze und verankert seine Filme fest in der Gegenwart. Das gelingt ihm, weil er die vordergründig sichtbare "technische Rückständigkeit" nicht als Armut inszeniert, sondern in der kreativen Umnutzung der Apparate überall kleine Reichtümer entdeckt."

Weitere Artikel: Gerhard Midding sinniert im Freitag über die Todesmetaphern des Craig-Zyklus im Bond-Franchise, der mit dem neuen Film "Keine Zeit zu sterben" (unsere Kritik) an sein Ende kommt. Hanns-Georg Rodek berichtet in der Welt von der Verleihung des Deutschen Filmpreises, wo Maria Schraders "Ich bin Dein Mensch" als bester Film ausgezeichnet wurde (hier alle Auszeichnungen im Überblick). Für Artechock hat Katrin Hillgruber das neue Fellini-Museum in Rimini besucht. In der taz porträtiert Ann Esswein Peter Lüttich, der einer der ersten Stuntmen der DDR war. Der Disney-Konzern und Scarlett Johansson haben sich in ihrem spektakulären Rechtsstreit um Tantiemen aus dem letzten "Black Widow"-Blockbuster außergerichtlich geeinigt, meldet Nicolas Freund in der SZ.

Besprochen werden Dietrich Brüggemanns "Nö"-Komödie (Freitag), die Netflix-Dokuserie "Filme - das waren unsere Kinojahre" (Jungle World) und neue Naturfilme von Lisa Eder und Dennis Wells (taz).
Archiv: Film

Musik

Dirigent Philippe Jordan gab mit Wagner und Liszt sein Debüt beim BR-Symphonieorchester. SZ-Kritiker Helmut Mauró ging eher skeptisch nach Hause: Das Orchester überzeuge schließlich meist dann, wenn es um Effekte und Wucht geht. "Möglicherweise kämpfte Jordan hier auf verlorenem Posten, für einen Abend ändert sich der langjährig gewachsene Grundcharakter eines Orchesters nicht. ... Manchmal hatte man den Eindruck, er sorge mit strenger Hand dafür, dass alles und alle auf dem Teppich bleiben. Das wird aber oft auch gefährlich schwerfällig, allzu irdisch, bar des Atmosphärischen, das doch auch Liszt mitkomponiert hat. Das massive Überwältigungsfinale mit Chor und Solist gelang dann erwartbar und ganz im Wortsinn durch das finale Niederringen des geneigten Publikums."

Wer im Streaming punkten will, muss gleich zu Beginn knallen - so lautet eine beliebte These. "Wenn das stimmt, macht Tirzah Anti-Streaming-Musik", schreibt Juliane Liebert in der SZ anlässlich des neuen Tirzah-Albums "Colourgrade". Die Musikerin "nimmt so viel weg, wie nur irgend geht, setzt auf primitivistische Loops, die sie mit kleinen Variationen unter Spannung hält, und lässt mitten im Song auch mal dem Geräusch Raum. ... Sie hat einen unkonventionellen Sound, der R'n'B mit etwas verkuppelt, was man wohl Noise nennen kann. Sie ist nicht die Erste, die in den vergangenen Jahren R'n'B mit elektronischer Musik verbunden hat, aber ihr gelingt es am besten. Sie bekommt die Gratwanderung so gut hin: so konventionell, dass es für eine relativ breite Masse noch zugänglich ist, aber ohne den Anspruch auf das Experimentelle zu verlieren." Auch Pitchfork ist begeistert. Wir hören rein:



Weitere Artikel: Juan Martin Koch berichtet in der NMZ vom 2. Kammermusikfestival Regensburg. Wolfgang Sandner hat für die FAZ das Kronberger Festival "Frau Macht Musik" besucht. Katja Schwemmers (Tagesspiegel), Thomas Stillbauer (FR) und Ueli Bernays (NZZ) gratulieren Sting zum 70. Geburtstag.

Und das Logbuch Suhrkamp bringt die neue Folge von Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte".

Archiv: Musik