Efeu - Die Kulturrundschau

Modernität in formaler Perfektion

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.09.2021. Die FAZ blickt in Warschau zunächst arglos auf einen Haufen Kohlköpfe und erkennt dann Wilhelm Sasnals deutliche Kampfansage an die Beschöniger der polnischen Geschichte. Der Jury der Emmy-Verleihung wird vorgeworfen, sie habe zu viele Weiße ausgezeichnet: Nicht die Jury ist für strukturelle Fehlleistungen verantwortlich, wendet die SZ ein. Die NZZ cruist wehmütig mit einem roten Citroën durchs MoMA. Den Theaterkritikern dröhnt der Kopf, wenn Simon Stone ihnen in einem Tankstellenshop die Debatten der letzten sechs Jahre um die Ohren haut.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.09.2021 finden Sie hier

Kunst

Wilhelm Sasnal, "Pierwszy stycznia (bok)", 202. Bild: Galeria Foksal

Als "Kampfansage an alle Leugner und Relativierer" polnischer Geschichte im Nationalsozialismus erlebt FAZ-Kritikerin Alexandra Wach die von Adam Szymczyk kuratierte Ausstellung "Solch eine Landschaft" mit Werken von Wilhelm Sasnal im Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau. "Schwer verdaulich", aber "gründlich aufräumend" scheinen Wach Sasnals Werke: "Nichts ist in dieser Ausstellung so, wie es scheint, nicht die Bahngleise, die quer durch die Landschaft verlaufen, nicht der Haufen Kohlköpfe, eigentlich ein harmloses, beinahe abstraktes Stillleben, das in der Nachbarschaft zu den anderen Gemälden zu einem Schädelberg in einem Massengrab gerät.  Sein Interesse an jüdischen Themen komme von einem unbewussten Gefühl der Abwesenheit, sagt Sasnal. 'Oder vielleicht wegen der Schuld, die ich trage, ein Pole zu sein, der in der christlichen Tradition erzogen wurde.' Deshalb sind auch die Menschen auf den Porträts natürlich nicht zufällig ausgewählt. Da wäre der 'braune Bischof' Alois Hudal, der NS-Verbrechern nach dem Krieg zur Flucht verhalf."

Bild: Anna Bella Geiger: Brasil nativo

Überfällig scheint Till Briegleb in der SZ die Entdeckung der 88-jährigen brasilianischen Konzeptkünstlerin Anna Bella Geiger, die sich in ihren Arbeiten "subtil" mit der brasilianischen Militärdiktatur, aber auch dem Bolsonaro-Regime auseinandersetzt und der das S.M.A.K in Gent mit der Schau "Native Brazil/Alien Brazil" nun die erste große Retrospektive widmet: "In neun Doppelmotiven stellt Geiger mit sich und ihren Familienmitgliedern Szenen von glücklichen Bewohnern des Volks der Bororo im brasilianischen Urwald nach, die sie aus einem Magazin entnommen hatte. Diese Dschungelvolk-Idylle stand allerdings schon damals im krassen Gegensatz zu der brutalen Vertreibung und Ermordung der indigenen Bevölkerung durch die Militärjunta, wie sie sich heute unter dem Präsidenten Bolsonaro fortsetzt. Geiger, die als Kind polnischer Einwanderer einen anderen Aspekt des Vielvölkerstaats Brasilien repräsentiert, reagierte mit dieser ironisch wirkenden, aber solidarisch gemeinten Inszenierung tatsächlich auf die nationalistische Propaganda der Diktatur, die den Mythos eines geeinten Staates konstruierte - dessen Repräsentanten aber alle weiß, männlich und gewalttätig waren."

Außerdem: Im FR-Interview mit Sandra Danicke spricht der amerikanische Performancekünstler Pope L., dessen Ausstellung "Misconceptions" derzeit im Frankfurter Portikus zu sehen ist, über Kunst, Kapitalismus und kulturelle Vorurteile. Public Domain Review blickt in ihrem sehr schön bebilderten Aufmacher auf 700 Jahre "Commedia dell'arte". Für die NZZ porträtiert Annegret Erhard die deutsch-italienische Künstlerin Rosa Barba, deren filmische Skulpturen derzeit in der Neuen Nationalgalerie präsentiert werden.

Besprochen werden die Ausstellungen "…oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende" im Berliner NGBK (Tagesspiegel), die Ausstellung "All Building as Making" der georgischen Bildhauerin Thea Djordjadze im Martin Gropiusbau (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Oil: Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters" im Kunstmuseum Wolfsburg, die eigentlich für 2019 geplant war und jetzt eher wie eine "kuratorische Pflichtübung" wirkt, wie Bettina Maria Brosowsky in der taz schreibt.
Archiv: Kunst

Literatur

Tell dokumentiert Sieglinde Geisels Laudatio auf den Schriftsteller Jochen Schimmang zur Auszeichnung mit dem Italo-Svevo-Preis fürs Lebenswerk: "Man dürfe nicht vergessen, schreibt Jochen Schimmang, 'dass in der Regel die Autoren diejenigen sind, denen Literaturbetrieb passiert, während andere ihn machen'. Diese Feststellung findet sich, Ironie des Literaturbetriebs, in einem Text über Italo Svevo." Larissa Kunert wirft für die Jungle World einen Blick auf die Rezeptionsgeschichte Robert Walsers.

Besprochen werden unter anderem Annette Loreys Biografie "Nelly Mann. Heinrich Manns Gefährtin im Exil" (Freitag), Lorenz Jägers Biografie "Heidegger. Ein deutsches Leben" (Tagesspiegel), Annette Köhns Comic "Verlagswesen" (taz), Henning Ahrens' "Mitgift" (Tagesspiegel) und Adam Zagajewskis Essayband "Poesie für Anfänger" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Nach der Emmy-Verleihung in den USA hagelt es Kritik: Die Jury habe zu viele Weiße ausgezeichnet. Gerhard Matzig kann in der SZ den Impuls dieser Kritik schon verstehen, findet aber: Sich an der Arbeit von Jurys abzuarbeiten, geht fehl. "Warum werden immer wieder Jurys, die ja logischerweise am Ende der Kunstproduktion stehen, dafür verantwortlich gemacht, wenn schon am Anfang derselben alles falsch gemacht wurde, was falsch gemacht werden kann? Die Jury ist schlicht der falsche Ort, um strukturelle Fehlleistungen anderswo in letzter Sekunde zu korrigieren. Jurys dazu zu ermahnen, im Ergebnis ihrer Begutachtung von Werken eine gewisse Diversitätsformel einzupreisen, ist sogar kontraproduktiv: Es höhlt den Sinn der Sache aus - denn Literatur-, Musik- oder Kunstpreise werden zumindest vom Ideal her an ästhetische Könnerschaft und eben nicht an irgendeine Form von Äußerlichkeit gebunden."

Außerdem: Für 54books sichtet Jan Kutter Steven Spielbergs "Der weiße Hai" unter den Eindrücken der Pandemie neu. Besprochen werden Olaf Nicolais 24-stündiger Experimentalfilm "MARX" über die Leipziger Marx-Büste (FR).
Archiv: Film

Design

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

Ein Beitrag geteilt von MoMA The Museum of Modern Art (@themuseumofmodernart)



Sabine von Fischer führt in der NZZ durch die Ausstellung "Automania" im MoMA in New York, für die eine Handvoll schön anzusehender Autoklassiker, darunter die rote Citroën DS, über die Mauern des Museums in dessen Skulpturengarten gewuchtet wurden. "Kultstatus haben diese Autos seit langem, einst auf der Straße - nun im Museum. Zeigt das MoMA etwa schon eine Retrospektive oder sogar einen Nachruf auf das Zeitalter der Automobile? ... Als das Museum of Modern Art in New York 1951 zum ersten Mal Automobile ausstellte, gab es das Verkehrshaus der Schweiz noch gar nicht. Und die DS ebenfalls nicht, diese wurde dann 1955 beim Pariser Autosalon vorgestellt und sofort als Weltsensation gefeiert: Komfortable Polstersitze, schwenkbare Scheinwerfer und komplett versenkbare Scheiben, industrieller Schaumstoff und funktionelles Blech feierten die Modernität in formaler Perfektion."
Archiv: Design
Stichwörter: Auto, Citroen Ds, Instagram

Bühne

Szene aus "Unsere Zeit". Bild: Birgit Hupfeld

Simon Stone hat am Münchner Residenztheater "Unsere Zeit" ("frei nach Motiven von Ödön Horvath") inszeniert, in einem Tankstellenshop. Es war anstrengend. Ganze sechs Stunden lang bekam FAZ-Kritiker Hannes Hintermeier "Botschaften" und die Debatten über "Rassismus, MeToo, weiße alte Männer, Kolonialismus, Flüchtlingswelle, Gesundheitsdiktatur und Afghanistan" um die Ohren gehauen: "Verstrickungen, soweit das Auge reicht. Mehr Abstiege als Aufstiege, vermeintlich abgehängte Einheimische, nicht ankommende Migranten. Das Zwischenzeugnis, das der Dramatiker in 'Unsere Zeit' ausstellt, lautet im besten Fall 'Vorrücken gefährdet'." Auch für SZ-Kritiker Egbert Tholl ist die Inszenierung "eine große Mühsal", aber auch eine "Feier der Bühnenkunst".

Weitere Artikel: In einem offenen Brief hat der Intendant des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, Uwe Eric Laufenberg, angekündigt, seinen bis zur Spielzeit 2023/24 laufenden Vertrag nicht zu verlängern, da es bis jetzt keine Gespräche mit dem Ministerium für Kunst und Wissenschaft gegeben hätte, meldet die FR: "Ich frage mich, ob die schiedsgerichtliche Bewertung der aus Ihrem Haus als Kräftemessen angelegten Abmahnung (die als ungültig festgestellt wurde!) insofern nachwirkt: Seit der Verkündung der Entscheidung habe ich von Ihrer Seite nichts mehr gehört. Das hätte ich anders erwartet." Der Kulturmanager Ricardo Carmona, seit 2012 Tanzkurator am Hebbel am Ufer (HAU), übernimmt ab 2023 die künstlerische Leitung des Festivals Tanz im August, meldet die Berliner Zeitung.

Besprochen werden die Performance "Asphalt" der Bürger:Bühne Dresden am Staatsschauspiel Dresden (taz), Thomas Ostermeiers Inszenierung "Ödipus" an der Berliner Schaubühne und Christina Tscharyiskis "Die Mutter" am Berliner Ensemble (Tagesspiegel), Jan Bosses Inszenierung von Gabriele Tergits Roman "Effingers" an den Münchner Kammerspielen (FAZ), Barbara Bücks Adaption von Irmgard Keuns "Nach Mitternacht", Jan-Christoph Gockels Inszenierung von Upton Sinclairs "Öl" und Felicitas Bruckers und Alexander Leiffheidts Adaption von Kleists "Michael Kohlhaas" (FR), alle drei am Schauspiel Frankfurt (FAZ) und Martin Traxls Inszenierung von Joseph Haydns Oper "Lo Speziale" bei Klassikfestival "Herbstgold" (Standard).
Archiv: Bühne

Musik

Ab heute und bis zum 26. September erinnert ein Festival im Berliner Hebbel am Ufer an das Zodiak Free Arts Lab, das sich zwischen 1967 und 1969 in dessen Räumlichkeiten befunden hatte und als für freie Experimente offener Schmelztiegel von Jazz, Elektronik und Rockmusik eine Keimzelle zumindest der Berliner Krautrockszene darstellt. Julian Weber wirft in der taz einen durchaus kritischen Blick auf die Veranstaltung: Wenn "im kategorischen Imperativ mit dem Satz 'Bildet Nischen!' das Programmheft eingeleitet wird, tauchen doch einige Fragen auf: Lässt sich das spontane Treiben im Zodiak Free Arts Lab mit dem durchgetakteten Konzertgeschehen am Staatstheater von heute kurzschließen, wie das Editorial suggeriert? Wie eng sind denn Verbindungen 'zwischen politischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen'? Dass in der Szene um das Zodiak Free Arts Lab 'angloamerikanischer Beat oder Blues […] Ende der 1960er, vielen vor allem als Ausdruck von Kulturimperialismus erschien', wie der Literaturwissenschaftler Patrick Hohlweck in seinem Essay im Beiheft behauptet, ist eine alte, längst widerlegte Leier, die nun erneut angekurbelt wird. Warum?"

Außerdem porträtiert Andreas Hartmann im Tagesspiegel den Musiker Wolfgang Seidel, der bei dem Festival seine Collage auf Grundlage von hinterlassenen Aufnahmen von Conrad Schnitzler präsentieren wird. Überliefert ist aus dem Zodiak nur wenig - aber wie wild es dort zum Teil zugegangen sein mag, verdeutlicht zumindest dieses kleine Video:



Weitere Artikel: In der SZ-Jazzkolumne informiert uns Andrian Kreye über den Stand der Dinge bei den Auseinandersetzungen im Jazz darüber, wie eine Gitarre zu spielen ist. Max Nyffeler schreibt in der FAZ zum Tod des Komponisten Sylvano Bussotti.

Besprochen werden Gisbert zu Knyphausens Neuinterpretation von Schuberts "Winterreise" (Zeit), Valentin Hansens Album "Crisis what Crisis (The Worthless Album)" (taz), der Saisonstart am Deutschen Symphonie-Orchester (Tagesspiegel) und Moor Mothers "Black Encyclopedia of the Air" (Pitchfork). Wir hören rein:

Archiv: Musik