Efeu - Die Kulturrundschau

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18.09.2021. René Pollesch eröffnet seine erste Spielzeit als Intendant der Volksbühne mit einem eigenen Stück - und die Kritiker sind vor allem: ratlos. Vielleicht reicht es nicht, dass der neue "Nicht-Chef" es allen Beteiligten nur nett miteinander machen will, meint die SZ. Die FAZ staunt in Kassel, wie behutsam, aber auch scharf die Ausstellung "Suizid - Let's talk about it" ein Tabuthema berührt. Die taz resümiert 16 Jahre Literaturbetrieb unter Merkel. Als unbestrittenen Popstar der Stunde würdigen die Musikkritiker Lil Nas X, der als Teenie noch versuchte, seine Homosexualität wegzubeten und schließlich zur schwarzen, queeren Ikone wurde.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.09.2021 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen". Volksbühne Berlin. Bild: Christian Thiel
Rene Pollesch eröffnet seine erste Spielzeit als Intendant der Volksbühne mit einem eigenen Stück, alle Zeitungen berichten, nicht ohne die Querelen der vergangenen Jahre noch einmal zu resümieren, die meisten KritikerInnen bleiben allerdings zurück zwischen Ratlosigkeit und Enttäuschung. Einen immerhin "gut abgehangenen" Pollesch zwischen "Tolstoi und Zirkus" erlebt Nachtkritiker Janis El-Bira mit dem neuem Stück "Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen", das gewohntermaßen allerhand Diskurse eröffnet: "Es geht um Film-im-Theater-im-Film, um Kubismus, Roboter und prekäre Verhältnisse und um jede Menge Vorhang-Metaphysik mit Theorieeinsprechern nach Jean-Luc Nancy. Martin Wuttke sitzt in Gestalt eines Umschnall-Skeletts wortwörtlich der Tod im Nacken, Kathrin Angerer lässt sich royal die Füße waschen, Margarita Breitkreiz zelebriert die Pollesch-klassischen Pausen, in denen das Sprechen dem Körper stets um eine Silbe voraus zu sein scheint. Die Pollesch-Sprechenden bleiben wie eh und je Abgehängte auf den Autobahnen ihrer eigenen Hirnströme."

"Etwas mager bleibt, was an Denknahrung so hängen bleibt", kommentiert Katrin Bettina Müller in der taz: "Die Inszenierung ist lustig, aber gemessen an dem, was dieses Haus, das sich die Überforderung des Zuschauers lange auf seine Fahnen geschrieben hatte, und gemessen auch an dem, was René Pollesch hier schon an Gedanken bewegt hat, auch eine Unterforderung." Deutlicher wird etwa Charlotte Szasz in der Welt: "Hätte das Stück nach einer Stunde geendet, wäre es wie eine gute Party gewesen. Wie eine Party, auf der etwas geplaudert wird, man in Erzählungen, etwas von der Welt gesehen hat und man insgesamt mit Musik gut unterhalten wurde. Tut es aber nicht. Es fehlt irgendwas." Auf Zeit Online fragt Eva Behrendt nach dem Stück: "Wo weist es in die Zukunft?" "Enttäuschend lahm" findet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel hingegen die Premiere.

Vielleicht liegt das auch daran, dass Pollesch immer wieder betonte, er wolle das Haus als "Nicht-Chef" leiten, glaubt Peter Laudenbach in der SZ: "Es wirkt ein wenig, als sei der Hauptzweck der Volksbühne als sich selbst regulierendes System, dass es sich alle Beteiligten nett miteinander machen - das Theater als Family-&-Friends-Programm, dessen Ergebnisse das Publikum aus reiner Großzügigkeit betrachten darf." In der NZZ hört Bernd Noack vor allem "Sätze und Geschwurbel aus der Mottenkiste des Autors." Im Standard freut sich Colette M. Schmidt lieber über die vielen Österreicherinnen, die Pollesch ans Haus geholt hat. Einen "schlicht-schönen" Abend erlebt nur Simon Strauss in der FAZ: "Es ist, als ob René Pollesch mit seinem Eröffnungsabend von vornherein deutlich machen wollte, dass er den Namen seines Hauses auf der zweiten Silbe betont: Die 'Bühne' ist ihm das Entscheidende, nicht das 'Volk'..."

Szene aus "Öl!" am Schauspiel Frankfurt. Bild: Thomas Aurin

Mehr Spaß haben die KritikerInnen derweil am Schauspiel Frankfurt mit Jan-Christoph Gockels Inszenierung "Öl" nach Upton Sinclairs gleichnamigem Roman von 1927 über die kalifornische Ölindustrie. "Kein Abend für Faulpelze", freut sich Judith von Sternburg in der FR: "Der vielstrapazierte Begriff Spielfreude ist für solche leichtgängigen Dreistünder erfunden worden. Leichtgängig, aber helle und ein bisschen durchgeknallt, aber unter dem Strich so verblüffend unpolitisch, dass sich Upton Sinclair im Grabe umdrehen müsste, wenn ihm nicht klar wäre, dass auch alle Metaphysik nur dem Kapitalismus dient." Auch Nachtkritiker Leopold Lippert amüsiert sich prächtig mit diesem "exzessiven" "Abgesang" auf das Ölzeitalter. Und in der SZ ist Christiane Lutz froh, dass Gockel ihr keine moralische "Klimakrisen-Inszenierung" liefert.

Außerdem: Die nachtkritik bringt eine Statement von Robert Wilson, dessen Inszenierung "Oedipus" gestern das MITEM-Theaterfestival in Budapest eröffnete, der aber dennoch den "Verlust der Freiheit von Kunst und Lehre in Ungarn" und vor allem die Umstrukturierung der Hochschule für Theater und Film SZFE verurteilt: "So freue ich mich zwar, dass die Menschen in Budapest meine Arbeit sehen konnten, halte es aber für meine Bürgerpflicht zu erklären, dass ich weder mit der Aushöhlung der Freiheit und Unabhängigkeit der Lehre und der Kunst noch mit der ungesunden Konzentration von zu viel Macht und Einfluss in den Händen einiger weniger Akteure einverstanden bin."

Besprochen werden Katrin Henkels Inszenierung "Richard the kid & the king" am Schauspielhaus Hamburg und Johan Simons' Inszenierung "Der Idiot" am Hamburger Thalia Theater (taz), Aron Stiehls "Walküre"-Inszenierung am Klagenfurter Landestheater (Standard).
Archiv: Bühne

Literatur

Beeindruckend, was sich in 16 Jahren alles ändern kann. So lange war Merkel Kanzlerin und der heutige Literaturbetrieb ist nach diesen 16 Jahren ein völlig anderer als zu Beginn ihrer Kanzlerschaft, muss Dirk Knipphals in der taz feststellen: Seinerzeit wurde überhaupt zum ersten Mal der Deutsche Buchpreis verliehen (an Arno Geiger), Daniel Kehlmann verdiente sich mit "Die Vermessung der Welt" gerade eine goldene Nase, Wolfgang Herrndorf hingegen kannten nur Eingeweihte. "Suhrkamp war noch in Frankfurt. Das Feuilleton hatte sich schon in Halle getroffen, um über die eigene Schrumpfung zu reflektieren, aber Schirrmachers Erweiterungen des Feuilletons waren noch der Maßstab. Die Büchnerpreise gingen in dieser Zeit an Granden wie Kluge, Genazino, Kronauer (immerhin eine Frau), Pastior, Mosebach. Literaturwissenschaftliche Arbeiten zum Poproman hatten noch die Aura von etwas Neuen. ... #MeToo war noch nicht dagewesen, Twitter auch nicht. Gerade der Trend zum Autofiktionalen trennt uns sehr vom Jahr 2005, verbunden mit einer immensen Zunahme von Sprecherpositionen und mit der Entwicklung, dass sich die Hotspots und idealtypischen Wohnorte deutschsprachiger Nachwuchsautor*innen von Berlin-Prenzlauer-Berg (Stichwort Arztsohn) hin zu Berlin-Neukölln (Stichwort Superdiversität) verschoben."

Weitere Artikel: Ron Mieczkowski, Lektor der Anderen Bibliothek, versenkt sich für das "Literarische Leben" der FAZ in die Welt des ungarischen Schriftstellers Miklós Szentkuthy.

Besprochen werden unter anderem Annie Ernauxs "Das Ereignis" (Tagesspiegel), Sally Rooneys "Schöne Welt, wo bist Du?" (Dlf Kultur), Colson Whiteheads "Harlem Shuffle" (Zeit), Angelika Klüssendorfs "Vierunddreißigster September" (Tagesspiegel), wiederveröffentlichte Romane von Dorothy West und Ann Petry (NZZ), C Pam Zhangs "Wie viel von diesen Hügeln ist Gold" (FR), Terézia Moras Journal "Fleckenverlauf" (SZ), Grit Lemkes "Kinder von Hoy" (taz), Klaus Pohls "Sein oder Nichtsein" (taz) und Sophie Calles "Wahre Geschichten" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Bild: Akachukwu Chukwuemeka Benjamin (NGA). Forms from My Sky no. 60 ,The Depressed' (2018). Acryl und Küperfarbstoff auf Leinwand © Akachukwu Chukwuemeka Benjamin
FAZ-Kritikerin Ina Lockhart macht einen Abstecher ins Kasseler Museum für Sepulkralkultur, um in der Ausstellung "Suizid - Let's talk about it" zu erleben, wie "behutsam", aber auch "messerscharf und humoristisch" die verschiedenen KünstlerInnen das Tabuthema berühren: "Da ist etwa ein dem Verfall überlassenes Zimmer, in dem sich etwas Weißes, ganz Verschwommenes an die Wand unterhalb des Fensters drückt. (...) Oder eine futuristisch anmutende Kapsel, die zu einer Zeitreise einzuladen scheint. Im zweiten Moment entpuppt sich das weiße Verschwommene als eine junge Frau im weißen Kleid. Ihr Gesicht bleibt schemenhaft. Es ist eine Fotografie aus dem Jahr 1975 der Amerikanerin Francesca Woodman, die ihre Person, ihren Körper immer wieder in unterschiedlichen Räumen inszeniert und so das Verschwinden oder Verschmelzen zum Thema macht. (...) Und die Raumkapsel 'Sarco' schließlich stellt sich als ästhetische Selbsttötungsvariante für die über den Kopf gezogene Plastiktüte heraus, mit der Menschen nach ihrem selbstbestimmten Tod nicht aufgefunden werden möchten."

Außerdem: In der Berliner Zeitung gratuliert Ingeborg Ruthe dem KW Institute for Contemporary Art zum 30jährigen Bestehen. In der taz schreibt Katrin Bettina Müller. Ebenfalls in der Berliner Zeitung schreibt Ingeborg Ruthe zur Verhüllung des Pariser Arc de Triomphe, in der SZ berichtet Nils Minkmar von der Euphorie in Paris.  Besprochen werden die Ferdinand-Hodler-Ausstellung in der Berlinischen Galerie (FR), die Ausstellung "Ruud Kuijer: Bildhauerei! Was sonst?" und "Patricia Lambertus: zweitausendfern" im Bremer Gerhard-Marcks-Haus (taz).
Archiv: Kunst

Film

Ziemlicher Angeber: "Je Suis Karl"

Christian Schwochow hat Standard-Filmkritiker Bert Rebhandl mit seinem Film "Je suis Karl" über einen Charismatiker, der der Neuen Rechten Auftrieb verleiht, nicht gerade überzeugt: Der Regisseur "macht billigstes Angeberkino, er schneidet auf mit allem, was Bild und Ton und ein plakatives Drehbuch hergeben. Bisher kannte man ihn eher als einen gediegenen Textverarbeiter ('Deutschstunde'), der es auf diesem Weg sogar zu zwei Folgen Regie bei der grandiosen Serie 'The Crown' geschafft hat. Mit 'Je suis Karl' macht Schwochow nun dort weiter, wo er schon bei der auch nicht gerade nuancierten Serie 'Bad Banks' war: bei der Beschwörung eines Bürgerkriegs oder Ausnahmezustands aus der Perspektive von vermeintlichen Medienprofis, denen die Demokratie schlicht zu wenig reißerisch ist."

Weitere Artikel: Artechock-Kritiker Sedat Aslan bespricht beim Filmfestival Venedig gezeigte Dokumentarfilme über italienische Filmegeschichte: Mit Joe D'Amato und Sergio Corbucci werden zwei Vertreter des italienischen Genrefilms mit je eigenen Filmen gewürdigt, ein dritter Film verneigt sich vor Ennio Morricone. Manuel Brug schreibt in der Welt einen Nachruf auf Jane Powell, die mit MGM-Musicals berühmt geworden ist. Hier tanzt sie an der Seite von Fred Astaire:



Besprochen werden Maria Speths Dokumentarfilm "Herr Bachmann und seine Klasse" (Intellectures, SZ, mehr dazu hier), Denis Villeneuves "Dune" (taz, unsere Kritik hier), die auf Arte gezeigte Serie "One Lane Bridge" aus Neuseeland (Tages-Anzeiger) und eine Box mit Dokumentarfilmen des Arts Council of Britain aus den Jahren 1976 bis 1996 (The Quietus).
Archiv: Film

Musik

Zu schön, um es nicht groß zu präsentierten: "Montero" von Lil Nas X.

Seit mittlerweile drei Jahren sorgt Lil Nas X mit seinen queeren, zugespitzten Interventionen im Pop für Furore - jetzt liegt das Debütalbum "Montero" vor. "Er ist der unbestrittene Popstar der Stunde", schreibt Amira Ben Saoud im Standard, "weil er die beste Geschichte zu erzählen hat. Vom Teenie, der versuchte seine Homosexualität wegzubeten, zur queeren, schwarzen Ikone. Vom Outsider zum Tonangeber im Mainstream." Und sein Album überzeugt ebenfalls als "Liebeserklärung an Mainstream-Pop, die unironische große Geste. Man nehme catchy Melodien, bediene sich quer durch den Genregemüsegarten, engagiere Topproduzenten, singe vom Coming of Age, den Leiden des gemobbten Teenies, der von heute auf morgen zum Superstar wird, und treibe das alles bunt und quirlig auf die Spitze."

"Ein Zyniker würde wohl sagen, dass Lil Nas X der Nutznießer des anhaltenden Kulturkampfs ist, dass liberale Stimmen sich dazu gezwungen sehen, sein Werk in den Himmel zu loben", schreibt Alexis Petridis im Guardian. Doch dieses Album beweise, "dass er keinerlei Sonderbehandlung nötig hat. Er trifft einen beeindruckend eklektischen süßen Punkt zwischen Hip-Hop und Pop, von Trap Beats und Kriegshörnern schwingt er sich selbstbewusst zu mahlendem, verzerrten Hard Rock auf und von Musik, die an R&B der frühen Nullerjahren erinnert, zu Stadionballaden. Zusammen gehalten wird dieser Genre-Parkours von Melodien. Lied auf Lied hat 'Montero' mehr Hooks - und verfangendere - als jegliches andere große Rap Album bislang in diesem Jahr."

Dass dieses Album erschienen ist, ist nicht selbstverständlich, schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline, denn "wie kein anderer Musiker der jüngeren Vergangenheit schien Lil Nas X prädestiniert dafür, dieses Format hinter sich zu lassen. 'Old Town Road' und die Handvoll weiterer Songs, die er vor seinem Debüt veröffentlicht hat, funktionieren nicht zuletzt als TikTok-Soundtracks und Remixvorlagen. Sie sind Content mit vorinstalliertem Eigenleben, unendlich teilbar, für beinahe jeden Kontext und jedes Meme geeignet. Nicht zuletzt in den eigenen Timelines von Lil Nas X, die der Künstler so geistesgegenwärtig und weitsichtig bespielt wie derzeit nur wenige andere Popstars." Hier eine Playlist mit allen Videos, die Lil Nas X zum Album veröffentlicht hat:

   

Weitere Artikel: Vojin Saša Vukadinović plaudert für die Jungle World mit der Band OneTwoThree. Im Guardian-Interview halten Genesis Karriererückschau, kurz bevor sie sich erstmals seit 14 Jahren wieder zu einer Tour aufmachen, für die sie sogar Phil Collins (vor zig Jahren ausgestiegen und gesundheitlich sichtlich angeschlagen) zurück ans Mikro holen konnten. Außerdem schwärmt Iggy Pop im Guardian davon, wie neue Musik sein auch schon über 70-jähriges Gehirn fit hält. Ralf Homann reist für das Bayerische Feuilleton des BR in den Münchner Punk-Underground der frühen Achtziger. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Manfred Prescher über "Auf Wiedersehen, my dear" von den Comedian Harmonists. Und einfach nur aufs Analogste schön (wir empfehlen einen großen Bildschirm): das "official visual" zu einer Zusammenarbeit zwischen Oneohtrix Point Never und Elizabeth Fraser, auf das wir bei The Quietus gestoßen sind.



Besprochen werden der Saisonauftakt beim Musikkollegium Winterthur (NZZ), sowie neue Alben von Moor Mother und Loraine James (taz), Charley Crockett (FAZ) und Saint Etienne (The Quietus).
Archiv: Musik