Efeu - Die Kulturrundschau

Von wegen Stehvermögen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.09.2021. Die FR hat eine Horrorvision von einer Kultur, in der jede Äußerung vom Nachweis der korrekten Ethnie begleitet sein muss. Im Tagesspiegel erzählt die Schriftstellerin C Pam Zhang, warum sie einen uramerikanischen Western geschrieben hat mit chinesische Einwanderern als Hauptfiguren. Lens Culture bewundert die prekären Skulpturen von Sue Palmer Stone. Artechock entdeckt in Yuri Ancaranis Film "Atlantide" die Schönheit im Unvollkommenen. Die NZZ bestaunt die Dramen männlicher Existenz in ihrem Garten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.09.2021 finden Sie hier

Film

Schillernd und bunt: "Atlantide"

Rüdiger Suchsland schwärmt auf Artechock von Yuri Ancaranis in Venedig gezeigtem, dokumentarisch anmutendem Spielfilm "Atlantide" über eine Gruppe italienischer Jugendlicher und Tagediebe. "Primärfarben dominieren: Blau, rot, gelb. Dazu gute Musik. Der italienische Regisseur Yuri Ancarani entdeckt in seinem wunderbaren Orrizonti-Film 'Atlantide' die Schönheit im Unvollkommenen. Oder im Beiläufigen: Der Ölfleck auf dem Wasser. Die Schatten der Bäume im Sonnenuntergang. ... Der Film zeigt in all seiner paradox mit Naturalismus kombinierten Künstlichkeit das echte Leben der Menschen der Lagune. Todesahnung und Morbidität wieder mal in Venedig", und nicht zuletzt "schillernde Unsicherheit, aufregendes Kino."

Susan Vahabzahdeh (SZ) und Dietmar Dath (FAZ) sahen in Venedig neue Horrorfilme. Tim Caspar Boehme freut sich in der taz über einen hervorragenden Jahrgang, bei dem ihm aktuell Mario Martones Theaterhommage "Qui rido io" besonders aufgefallen ist. Filmdienst-Kritikerin Felicitas Kleiner sah Filme über Mütter. Andreas Busche schickt dem Tagesspiegel Impressionen vom Lido. Und Ekkehard Knörer schickt für Cargo am laufenden Meter Notizen vom Festival.

Außerdem: Patrick Kokoszynski versenkt sich für critic.de in das Schaffen des Experimentalfilmemachers Jerome Hiler, dem in Frankfurt eine Werkschau gewidmet war. Dominik Kamalzadeh spricht im Standard mit Tizza Covi und Rainer Frimmel über deren Dokumentarfilm "Aufzeichnungen aus der Unterwelt" über das halbseidene Wien der Sechziger. Die Zeit übersetzt einen Nachruf von Sophie Marceau auf Jean-Paul Belmondo: "Wir alle haben dich geliebt, Frauen wie Männer, Alte wie Junge, Intellektuelle, Spaßvögel, Yuppies." Manu Ekanayake schreibt in The Quietus einen Nachruf auf Michael K. Williams.

Besprochen werden eine Arte-Doku über das Scheitern der Behörden in der Aufarbeitung des islamistischen Anschlags aufs Bataclan (Tages-Anzeiger), der in der ARD-Mediathek abrufbare Dokumentarfilm "Slahi und seine Folterer" über Mohamedou Slahi, der ohne Anklage 14 Jahre in Guantanamo eingekerkert war (ZeitOnline), Johannes Nabers Politfarce "Curveball" über das Scheitern des BND im Irakkrieg (Tagesspiegel, Freitag, Dlf Kultur sprach mit dem Regisseur), Tom McCarthys "Stillwater" mit Matt Damon (Tagesspiegel, SZ, Welt), Marcus H. Rosenmüllers "Beckenrand Sheriff" mit Milan Peschel (Artechock), Johanna Moders "Waren einmal Revoluzzer" (Artechock) und Damir Lukačevićs Coming-of-Age-Drama "Ein nasser Hund" (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Design

Gartengladiolen. Foto: 3268zauber unter cc-Lizenz bei Wikipedia


Robin Schwarzenbach (NZZ) macht einen Rundgang durch seinen Garten, wo gerade nicht nur Hibiskus und Amorphophallus titanum in die Höhe schießen: "Jetzt recken sie sich wieder. Und zeigen stolz, was sie haben. Sofern sie nicht schon schlappgemacht haben. Oder sich aus statischen Gründen kaum halten können. Je größer, je länger, je hochtrabender, desto instabiler. Dramen männlicher Existenz wiederholen sich im Blumenbeet. Von wegen Stehvermögen. Aber darüber spricht man nicht, denn unsere Vorstellung ist klar: Gladiolen stehen ihre Blume, natürlich, immer. Vor allem die obersten, länglichen Knospen wirken irgendwie . . . Darf man das schreiben? Sie wirken sehr potent."

Therapeutisch: Sessel in Beige und Grau von Patricia Urquiola für Andreu World. Foto: Salone del Mobile


Max Scharnigg konnte für die SZ die Möbelmesse in Mailand, den Salone del Mobile besuchen. Zwei mal war er wegen Corona ausgefallen, es sollte darum nicht einfach ein Salone sein, sondern ein "Supersalone". Das hat nicht so ganz geklappt, seufzt Scharnigg, Wohnatmosphäre wollte in den schmalen Korridoren nicht aufkommen. "Dazu kommt, dass die Designer bei ihren neuen Entwürfen eher leise Töne anschlagen und die Zeit etwas abgeklungen scheint, in der Farben, raumgreifende Formen und Materialien ausgereizt wurden. Ein neuer Sessel von Stardesignerin Patricia Urquiola für den Hersteller Andreu World etwa präsentierte sich in nahezu therapeutischen Farbkombinationen aus Beige- und Erdtönen, ein neuer Bürostuhl von Arper wurde ausschließlich in falben Herbstfarben gezeigt. Sehr defensiv und heilsam wirken diese Möbel, ihre Botschaft: Ruhe, bitte."

Außerdem: In der NZZ erzählt Britta Hentschel von der vorsichtigen Modernisierung eines vierhundert Jahre alten Bauernhauses in Nidwalden.
Archiv: Design
Stichwörter: Corona, Salon del Mobile, Möbel

Literatur

Mit ihrem in Bangkok verfassten Western "Wie viel von diesen Hügeln ist Gold" möchte die in den USA aufgewachsene Schriftstellerin C Pam Zhang chinesischen Menschen Raum in diesem Genre verschaffen. Zugleich geht es um das Recht auf Landschaft: "Die Geografie des amerikanischen Westens gehörte zu meinen formativen Erfahrungen, als ich in jungen Jahren mit meinen Eltern in die USA kam", erzählt sie im Tagesspiegel-Interview. "Die Berge, der Himmel, die Täler - ich spürte eine Ehrfurcht, gleichzeitig eine Verbundenheit." Entsprechend spürt sie beim Blick auf diese Landschaften "vor allem eine große Wehmut. So viel ist verschwunden, das Land wurde ausgebeutet und beraubt. ... Ich habe mein Verhältnis zu Amerika noch einmal aus der Entfernung reflektiert. Hätte ich in Nordkalifornien geschrieben, die Berge in Sichtweite, hätte ich vermutlich den Druck verspürt, journalistischer zu arbeiten. So aber konnte ich mit dem Mythos spielen."

Weiteres: ZeitOnline veröffentlicht Annett Gröschners Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Klopstock-Preis der Stadt Quedlinburg. Gerrit Bartels wirft für den Tagesspiegel einen Blick auf die Shortlist des Wilhelm-Raabe-Literaturpreises, der sich zusehends zum Gegenentwurf zum Deutschen Buchpreis mausert. Die FAS hat ihr Gespräch mit Sven Regener online gestellt, der eben seinen Romanzyklus um den Westberliner Bohème Herrn Lehmann mit "Glitterschnitter" fortgesetzt hat. Erhard Schütz erinnert in den "Actionszenen der Weltliteratur" an Karl Philipp Moritz' Sturz vom Pferd in Rom und wie er im Anschluss von Goethe verarztet wurde. Danny Kringiel (Spiegel) und Wieland Freund (Welt) verneigen sich vor der Science-Fiction-Serie "Perry Rhodan", deren erstes Heft heute vor 60 Jahren erschienen ist.

Besprochen werden unter anderem Natascha Wodins "Nastjas Tränen" (FR, SZ), Michael Köhlmeiers "Matou" (Tagesspiegel), Calla Henkels "Other People's Clothes" (taz), Elias Hirschls Satire "Salonfähig" auf den österreichischen Regierungschef Sebastian Kurz (NZZ), James Sallis' "Sarah Jane" (Zeit), Hannah Lühmanns "Auszeit" (Tagesspiegel), Golo Maurers "Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst" (NZZ) und Sven Regeners "Glitterschnitter" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Sue Palmer Stone, Untitled from the series "Embodiment : Salvaging a Self". Foto © Sue Palmer Stone


Magali Duzant stellt bei Lens Culture die Künstlerin Sue Palmer Stone vor, die Skulpturen aus Schutt fertigt und fotografiert. "Bergungsaktion" nennt sie ihr Projekt: "Zwischen Hinterhöfen, Schrottplätzen, überwucherten Grundstücken und dem Atelier aufgenommmen, sind die Fotos Bilder der Prekarität. Eine Prekarität, die das moderne Leben mehr und mehr prägt. Der kleinste Windhauch, ja sogar das Aufblitzen eines Stroboskops kann alles in einem Augenblick zum Einsturz bringen. 'Viele der Studio-Skulpturen sind im wahrsten Sinne des Wortes prekär und fallen in der Regel gleich nach dem Einfangen des gewünschten Bildes auseinander', bemerkt Stone. Die von Menschenhand geschaffenen Wegwerfartikel, die sie findet, sind Assemblagen aus verschiedenen Materialien - Holz, Rohre, Möbelteile, Plastik, Gitter, Mülltonnen. In gewisser Weise kann man sie als Readymades bezeichnen, als vorgefertigte Objekte, die zu Kunstwerken umfunktioniert werden."

Urs Fischers in Moskau aufgestellte Skulptur "Großer Lehm #4" hat einen veritablen Shitstorm in der russischen Hauptstadt ausgelöst, berichtet Philipp Meier in der NZZ. Und zwar buchstäblich: Das zwölf Meter hohe Werk aus Aluminium und Stahl erinnert viele Moskauer an einen "gigantischen Haufen von Fäkalien - so die Reaktionen auf Fischers Werk in den sozialen Netzwerken". Das ist nicht unbedingt banausenhaft, erklärt Meier. Auch Künstler haben schon mit dem Konzept von Kunst als Scheiße gespielt, zum Beispiel Piero Manzoni. "Für 'Merda d'artista' füllte der italienische Konzeptkünstler 1961 jeweils 30 Gramm seiner eigenen Fäkalien in 90 Dosen ab und verschloss diese geruchsfest. Die durchnummerierten Dosen wurden mehrsprachig beschriftet, unter anderem auch mit 'Künstlerscheiße'. Manzoni verkaufte sie zum damals aktuellen Goldpreis für 30 Gramm - rund 37 Dollar. Heute befinden sie sich in Sammlungen und Museen weltweit. Und 2008 wurde eine solche Dose bei Sotheby's für über 130 000 Euro versteigert. Übrigens wurde Manzoni zu dieser Arbeit durch seinen Vater, der Dosenfabrikant war, inspiriert. Dieser soll einmal über die Kunst seines Sohnes mit den Worten gespottet haben: 'Deine Arbeit ist Scheiße!'"

Weiteres: Die Zeit bringt eine Beilage mit Vorschau auf den Kunstherbst: Heinz Peter Schwerfel schreibt über die Verhüllung des Arc de Triomphe, die Christo und Jeanne-Claude geplant hatten. Hanno Rauterberg fragt sich, wie der wiederentdeckte Amor über Vermeers Briefleserin das Gemälde, aber auch den Blick auf Vermeer verändert. Tobias Timm besucht die Künstlerin Nevin Aladağ, die demnächst in der Münchner Villa Stuck ausstellt, in ihren drei Atelierräumen in Berlin-Lichtenberg. Und Jens Jessen freut sich auf das geplante Romantik-Museum in Frankfurt.

Besprochen werden Roman Vávras Dokumentarfilm über den tschechischen Künstler Alfons Mucha (taz)
Archiv: Kunst

Bühne

Im Zeit-Gespräch mit Peter Kümmel legt René Pollesch, neuer Intendant der Berliner Volksbühne, großen Wert darauf, mit seinen Inszenierungen den "Repräsentationsfallen" des bürgerlichen Theaters zu entgehen. Aber ist es nicht auch eine Repräsentation, wenn man sogar "mit verbundenen Augen" merkt, dass man bei Pollesch ist, fragt Kümmel. Pollesch wehrt ab: "Woran merken Sie, dass Sie bei Pollesch sind? Ich glaube, es kann gar nicht sein, dass man das sofort merkt. Jeder Abend von uns ist anders. Da steckt kein alles homogenisierender Stilwille dahinter. ... Oder könnte es sein, dass die Abende alle sehr unterschiedlich sind, das Ganze aber als einheitlicher Stil erscheint, weil wir insgesamt etwas machen, was alle anderen nicht machen?"

Jens Harzer und Marina Galic in "Der Idiot" am Thalia Theater. Foto: Armin Smailovic


In der FAZ ist Simon Strauß hin und weg von Johan Simons' Inszenierung des "Idioten" nach Dostojewskis Roman am Hamburger Thalia Theater im Allgemeinen und von Hauptdarsteller Jens Harzer im Besonderen: "Man kann nicht oft genug sagen, wie ganz und gar außergewöhnlich, wie überwältigend das Spiel von Jens Harzer ist. Wer ihn noch nicht auf der Bühne gesehen hat, der hat bisher das Beste verpasst, was das deutsche Schauspiel im Moment zu bieten hat. Seiner nuancierten, variantenreichen Darstellung zu folgen ist ein großes Ereignis. Er tastet, zittert und phantasiert sich durch diese viereinhalbstündige Adaption von Dostojewskis Schicksalsroman."

Weiteres: Die nachtkritik veröffentlicht Lukas Bärfuss' Rede als Juryvorsitzender bei den Autor:innentheatertagen 2021 am Deutschen Theater Berlin. Besprochen werden Stewart Copelands Oper "Electric Saint" beim Kunstfest (nmz), Daniele Finzi Pascas Inszenierung von Offenbachs "Les contes d'Hoffmann" an der Hamburgischen Staatsoper (Welt) und Romeo Castelluccis Inszenierung einer "Pavane für Prometheus" beim Bonner Beethovenfest (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Ralf Schlüter umkreist in einem FR-Essay die Tatsache, dass Musikerinnen wie Billie Eilish und sogar Beyoncé (weil sie sich in einem Video als Bollywood-Star ausgegeben hat) immer wieder mit dem Vorwurf kultureller Aneignung angegangen werden. Dass es dafür - wie auch einst gegenüber Elvis - gute Gründe gibt und dass Kunst bei aller Freheit immer auch ihre Machstrukturen hinterfragen muss, erkennt er umstandslos an. Doch "auf was für eine Welt steuern wir zu, wenn der imaginäre Raum der Kunst mit dem realen identisch wird? Wäre es nicht eine Horrorvision, wenn am Ende für die Legitimität bestimmter kultureller Äußerungen zuerst der Nachweis der korrekten Ethnie erforderlich ist? Ja, das wäre es. Seit jeher geht Kunst aus anderer Kunst hervor; kulturelle Aneignung ist nicht erst ein Thema, seit die Maler und Bildhauer der Renaissance die Werke der Antike nachgeahmt haben. Kunst muss immer teilbar sein, sie lebt gerade von Adaption, Anverwandlung und Variation, von Hommage, Pastiche und Zitat."

Weitere Artikel: Miriam Davoudvandi fragt sich in der taz, warum Kanye West zwar immer wieder für sein erratisches Verhalten angegangen, aber trotzdem bei jedem neuen Album gefeiert wird. Hartmut Welscher spricht für VAN mit der Musikpädagoin Anne-Kathrin Ostrop und dem Demenzforscher Oliver Peters über Musikangebote für Demenzkranke, wie sie zum Beispiel an der Komischen Oper Berlin zu finden sind. Stefan Siegert spricht für VAN mit dem Musiker Enno Poppe, Sophie Emilie Beha konnte den Lyra-Musiker Sokratis Sinopoulos für VAN vor die Zoom-Kamera locken. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker in dieser Woche Els Aarne. Thomas Steinfeld erinnert in der SZ daran, wie Karlheinz Stockhausen 9/11 seinerzeit als "Kunstwerk" bezeichnete. Und ein Podcast-Tipp: In hochinteressanten zwei Stunden spricht Jan Müller von Tocotronic für Reflektor mit dem Experten Alexander Pehlemann über Punk- und andere musikalische Underground-Kulturen im Ostblock.

Besprochen werden eine die Musikdoku "Freakscene" über Dinosaur Jr (taz), die Jubiläums-Neuausgabe von Metallicas schwarzem Album (Standard), die Uraufführung von Heiner Goebbels' Komposition "A House of Call" in Berlin (FR), Space Afrikas "Honest Labour" (Pitchfork) und ein neues Album der Slo-Mo-Noiser Low, bei denen man es laut Standard-Kritiker Christian Schachinger "immer noch mit einer Form von dem Heiligen und Erhabenen nachspürender Musik zu tun" hat. Wir hören rein:

Archiv: Musik