Efeu - Die Kulturrundschau

Die Landschaft, die Arbeit, die Rufe der Hirten

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.09.2021. Auf ZeitOnline donnert Maxim Biller, dass auch Schwarze oder Frauen literarisch nur gute Figuren abgeben, wenn sie Opfer und Täter zugleich sind. Die FAS beobachtet den Auszug der Literatur aus den selbst geschaffenen Mittelschichtsblasen aufs Land. Die SZ porträtiert die Choreografin Wen Hui, die dann doch keine revolutionäre Vorzeigeballerina wurde. Der Guardian kapituliert vor der intellektuell überbordenen Kunst der Turner-Preisträgerin Helen Marten. Und der Tagesspiegel steigt mit Michelangelo Frammartino tief in den kalabrischen Fels.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.09.2021 finden Sie hier

Film

Kühe schauen Dich an: Michelangelo Frammartinos "Il Buco"

Beim Filmfestival Venedig gelangen die Filmkritiker mit Michelangelo Frammartinos Essayfilm "Il Buco" an der Seite von einigen Kletterern vom prächtigen Lido aus ganz tief in den kalabrischen Fels hinein. Blickt man lange genug auf Kühe, blicken die Kühe irgendwann auch auf Dich, denkt sich Andreas Busche vom Tagesspiegel bei dieser Meditation, die auch die Landbevölkerung samt deren Tiere in den Blick nimmt: "Die Landschaft, die Arbeit, die Rufe der Hirten, das Spiel von hell und dunkel übernehmen die Erzählung, in langen Einstellungen und ohne falsches Pathos für dieses unberührte Italien. Die Menschen, die Tiere, der Wind, das Licht - die Naturelemente - werden bei Frammartino zu den Elementarteilchen des Kinos." Einen "geradlinigen Film, der still verzaubert und, mit etwas Höh(l)enangst, über die Welt staunen lässt", sah Tim Caspar Boehme von der taz.

Modern, aber forciert: "Szenen einer Ehe" von Hagai Levi

Daniel Kothenschulte resümiert in der FR die ersten Festivaltage. Susan Vahabzadeh tut es ihm in der SZ gleich und sah außerdem Hagai Levis Remake von Bergmans "Szenen einer Ehe", das die Schauspieler Oscar Isaac und Jessica Chastain in allerdings vertauschten Rollen tragen. Das ist immerhin "herausragend gut gemachtes Fernsehen - aber besonders originell ist es eben nicht, weil es das Ganze ja schon gibt. Levis Modernisierungen wirken teilweise etwas forciert." Weitere Kurzkritiken aus Venedig gibt es von Sedat Aslan und Rüdiger Suchsland auf Artechock.

Weitere Artikel: Tilman Schumacher berichtet auf critic.de von seinen Entdeckungen bei Terza Visione, dem Festival für den italienischen Genrefilm, das dieses Jahr in Karlsruhe stattfand. Christiane Peitz blickt für den Tagesspiegel auf den Niederschlag von 9/11 in der jüngeren Filmgeschichte.

Besprochen wird Dominik Grafs neuer "Polizeiruf"-Fernsehkrimi "Bis Mitternacht", der den Kritikern mal wieder sensationell gefallen hat (ZeitOnline, FR, NZZ, critic.de, Welt, FAZ).
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Kunst

Helen marten: Sparrow on the Stone. Bild: Sadie Cole HQ

Überwältigt kommt Guardian-Kritiker Adrian Searle aus Helen Martens Ausstellung "Sparrows On the Stone" in der Londoner Galerie Sadie Coles HQ, in der alles Exzess ist. Marten will, dass man sich verliert, warnt Searle: "Marten ist eine großartige Entdeckerin. Ich treffe sie nie, ohne dass sie mir von einem Roman oder Dichter erzählt, den ich noch nie gelesen habe, oder von einer Verbindung oder einer Idee, die mir neu ist oder eine unerwartete Wendung nimmt. So ist es auch mit ihrer Kunst, die selbst oft wie ein Gedicht oder eine Geschichte ist, die immer wieder in wilde Bögen und Seitenwege ausweicht. Sie gewann 2016 den Turner-Preis, und letztes Jahr veröffentlichte Marten ihren ersten eigenen Roman 'The Boiled in Between'. Ich beneide sie um ihr Talent und ihr Durchhaltevermögen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich in ihrem Kopf sein möchte. Wie William H. Gass, der bei Ludwig Wittgenstein Philosophie studierte, ist Martens Werk voller Metaphern und Sprachspiele. Sie strapaziert die Vernunft bis zum Äußersten."

Besprochen wird Frédéric Brenners fotografischer Essay "Zerheilt" über jüdischen Alltag in Berlin im Jüdischen Museum (Tsp).
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Literatur

Jana Hensel unterhält sich für ZeitOnline mit Maxim Biller - der über Politik eigentlich gar nicht reden will, sich dann aber doch breit schlagen lässt - über dessen neuen Roman, "Der falsche Gruß". Politisch solle man diesen auf keinen Fall verstehen: "Das wäre dann ein Pamphlet und pure, langweilige Agitation. So wie all die zeitgenössischen Bücher, deren Autoren erzählen wollen, dass es den Schwarzen oder den Frauen schlecht geht. Ja, es geht ihnen schlecht, oft sogar sehr schlecht! Aber in dem Moment, in dem sie als Helden eines Romans oder einer Erzählung nur noch leidende Heilige und immer im Recht sind, reicht es nicht für gute Literatur. Damit ein Roman literarisch funktioniert und ein wenig weise ist, müssen Figuren immer beides sein: Opfer und Täter. Wie in der griechischen Mythologie oder in der Bibel. Nur so entsteht tragische Tiefe. Und prosaische Poesie. Partei ergreifen für nur eine Figur ist Kolportage und trivial."

Das Dorf ist der eigentliche Held der deutschen Gegenwartsliteratur, wunderte sich gestern Julia Encke in ihrem FAS-Essay: Seit geraumer Zeit zieht es Juli Zeh, Judith Hermann und Co. samt ihres Lesepublikums aus der Mittelschicht aufs Land, um dieses zum Schauort literarischer Gegenwartsdiagnosen zu erklären. Nicht wundern würde es Encke daher, wenn von Zeh nach ihren ersten sprachspielig betitelten Dorfbüchern "Unterleuten" und "Über Menschen" demnächst "Hinter Wäldern" erscheint, was nur konsequent wäre: "Diejenigen, deren Sehnsucht es einmal war, nach Berlin-Prenzlauer Berg oder Kreuzberg zu ziehen, haben ihre Großstadtviertel in homogene Mittelstandsoasen verwandelt, in gentrifizierte Blasen, die ihnen dann selbst aber nach einiger Zeit langweilig und provinziell erscheinen - und ziehen als Gegenbewegung nun aus den Großstadtblasen in die Provinz, um sentimentalistisch endlich wieder 'eine ganz andere Welt' zu betreten. ... Vielleicht könnten diese Schriftstellerinnen jetzt einfach mal anfangen, in ihren Romanen und Gedichten über etwas anderes zu schreiben als über das Dorf, in dem sie wohnen. ... Höchste Zeit, dass die deutsche Literatur mal wieder umzieht oder verreist. Das geht jetzt ja wieder."

Außerdem: Gerrit Bartels blättert für den Tagesspiegel nach, wie die Gegenwartsliteratur auf Afghanistan blickt. Birte Förster forscht in der Dante-Reihe der FAZ den Klängen der "Commedia" nach. Teresa Granzmann berichtet in der FAZ vom literarisch-wissenschaftlichen Festival "Sternenhimmel der Menschheit".

Besprochen werden unter anderem Bill Clintons und James Pattersons Thriller "Die Tochter des Präsidenten" (Standard), Ling Mas "New York Ghost" (Standard), Siegfried Lenz' Nachlass-Märchen "Florian, der Karpfen" (Tagesspiegel), Sally Rooneys "Schöne Welt, wo bist Du" (online nachgereicht von der FAZ), Alejandro Zambras "Fast ein Vater" (taz), Cerstin Gammelins Essay "Die Unterschätzten" über die Ostdeutschen (Freitag), Svealena Kutschkes "Gewittertiere" (Tagesspiegel) und neue Krimis, darunter Ivy Pochodas "Diese Frauen" (FAZ).
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Musik

Welt-Kritiker Manuel Brug lauscht auf Schloss Elmau dem Bariton Christian Gerhaher und erkennt bei seinem Vortrag von Othmar Schoecks "Elegie" die "nuancierte Kunst des Leisen". Joachim Hentschel befragt für die SZ den ABBA-Manager Thomas Johansson zum Comeback seiner Schützlinge. Daniel Schieferdecker plaudert für ZeitOnline mit David Hasselhoff über dessen Popularität in Deutschland.

Besprochen werden das neue Album von Drake (Tagesspiegel), ein Berliner Konzert des Monteverdi Choirs und der English Baroque Soloists unter John Eliot Gardiner (Tagesspiegel) und die Uraufführung von Heiner Goebbels' "A House of Call" beim Musikfest Berlin durch das Ensemble Modern Orchestra unter dem Taktstock von Vimbayi Kaziboni (FAZ, mehr dazu bereits hier).
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Bühne

Mit eigener Stromproduktion: Chris Bushs "(Kein) Weltuntergang" an der Berliner Schaubühne. Foto: Gianmarco Bresadola

An der Berliner Schaubühne hatte Katie Mitchells Inszenierung von Chris Bushs Klimastück "(Kein) Weltuntergang" Premiere. Das Stück dekliniert die globalen Folgen der Entscheidung durch, ob Nachwuchswissenschaftlerin Anna Vogel bei der berühmten Klimaforscherin Uta Oberdorf eine Stelle bekommt. "Klar, der Klimawandel ist schrecklich - Klimaforscherinnen auf der Bühne können trotzdem recht komische Figuren sein", freut sich Peter Laudenbach in der SZ: "Das Spiel mit vielen möglichen Entscheidungen und ihren bekannten und unbekannten Konsequenzen wird radikalisiert. Es geht nicht mehr nur um eine kleine Stellenausschreibung, sondern um die großen Menschheitsfragen, in dem Fall um die Klimafolgen unserer heutigen Lebensweise, samt der Entscheidung, den Hyperkonsum eisern gegen alle Vernunft zu verteidigen. Hier gewinnt die Inszenierung Dringlichkeit und rutscht dank der immer absurderen Szenarien, die die Wissenschaftlerinnen entwickeln, trotzdem nicht in den Schulfunk." Tagesspiegel-Kritiker Patrick Wildermann verlor sich am Ende ein bisschen in den Feedbackschleifen. Und Nachtkritikerin Frauke Adrians möchte in der betont Ressourcen-sparenden Produktion kein Vobild sehen müssen: "Den Theatern sind ohnehin finanzielle Grenzen gesetzt; dass sie Geld für überteuerte Ausstattungen zum Fenster rauswerfen, kommt eher selten vor." (Und wenn, dann nur unter Protest!)

In der SZ porträtiert auch Christine Dössel die Tänzerin und Choreografin Wen Hui, die in Weimar die Goethe-Medaille erhielt. Tief eingebrannt habe sich ihr die Propagandaproduktion "Das rote Frauenbataillon" von 1964, erzählt die Tänzerin: "Auch Wen Hui träumte als Mädchen davon, eine dieser revolutionären Vorzeigeballerinen zu werden, studierte vor dem Spiegel die Schrittfolgen und Bewegungen ein. Sie ist ein Kind dieser Zeit, weshalb sie sich in ihren Arbeiten immer wieder mit den Einschreibungen der Kulturrevolution in den Köpfen und Körpern beschäftigt."

Besprochen werden Johan Simons' Inszenierung von Dostojewskis "Der Idiot" am Thalia Theater Hamburg (mit einem "wunderbaren" Jens Harzer, wie Frank Kurzhals in der Nachtkritik versichert), Frank Castorfs Inszenierung von Elfriede Jelineks "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" am Wiener Akademietheater (Nachtkritik), die Pop-Oper "Burt Turrido" des des Nature Theater of Oklahoma beim Zürcher Theater Spektakel (NZZ), Paula Hawkins' "The Girl On the Train" am English Theatre Frankfurt (FR), Roberto Ciullis Uraufführung von Vladimir Sorokins Drama "Violetter Schnee" am Theater an der Ruhr (FAZ) und Alexander Zeldins Stück "Love" aus seinem Zyklus "The Inequalities" bei den Wiener Festwochen (Standard).
Archiv: Bühne