Efeu - Die Kulturrundschau

Jedes Wort ein Kraftakt

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30.08.2021. Ulrich Rasches Inszenierung von Sophokles' "Oedipus" spaltet wie immer die Feuilletons: SZ und Nachtkritik feiern den wuchtigen Abgesang aufs Individuum, taz und FAZ fühlen sich an Rammstein erinnert. Im Standard sucht Natascha Gangl mit den Zapatistas in Madrid die Möglichkeit der Möglichkeit. Die FAZ sieht mit Geoff Muldaur die Folkmusik vor dem Verknöchern bewahrt. Und die Welt unterzieht mit Mario Adorf den großen Welterfolg des Schauspielers, Robert Siodmaks "Nacht, wenn der Teufel kam", einer Revision.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.08.2021 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Oedipus" am DT Berlin. Foto: Arno Declair


Ulrich Rasche hat am Deutschen Theater Berlin den "Oedipus" inszeniert - nicht nach Sophokles sondern ganz klar von Sophokles, in der Hölderlin-Übersetzung. SZ-Kritikerin Anna Fastabend war tief beeindruckt von diesem Abend, der ganz auf den Text gerichtet ist, "mit artifiziellen Choreografien und instrumentaler Musik, die nur dazu da sind, diesen altertümlich klingenden Text direkt in den Körper zu transportieren, wo er nachhallt, wie das Gewisper eines schlechten Traums. .... Die Darsteller sind weniger Charaktere als Transporteure einer Sprache, die rhythmisch ist und artifiziell. Die Sprache folgt dem Takt der Schritte, der Musik. Es wirkt, als werde sie unter großem Leidensdruck hervorgepresst, jedes Wort ein Kraftakt, auf den ein weiterer folgt." Auch im Tagesspiegel zeigt sich Christine Wahl eingenommen: "Selten jedenfalls sah man an Rasche-Abenden Figuren einander derart konkret im Nacken sitzen wie hier." In der Nachtkritik verschlägt es  Elena Philipp die Sprache: "Das exemplarische Individuum, ihm gilt der Abgesang. Wucht hat dieser Abgesang."

"Wucht hat dieser Abgesang", lobt auch Elena Philipp in der nachtkritik. "Wie immer phantastisch synchron sprechen die von Toni Jessen trainierten Spieler:innen, die im Rhythmus von Text und Musik über die Drehbühne schreiten und ihre Körper im Raum in immer neue Figuren-Konstellationen arrangieren. Farbreiche Klanggebilde entwerfen der Komponist Nico van Wersch und die vier Live-Musiker:innen mit Streichinstrumenten, Schlagwerk und Synthesizern. Wellenartig steigert sich die Dynamik, schichtweise türmen sie tieftönende Bässe, gelassen bis nervös klöppelnde Mitten und sirenenhafte Höhen, um mit dem Szenenwechsel zu verklingen. Ein Hörerlebnis."

FAZ-Kritiker Simon Strauß fand den Abend dagegen ermüdend: "Keine ironische Brechung, keine zeitgeistige Anverwandlung lässt Regisseur Ulrich Rasche zu, stattdessen wird der Text auf geradezu manische Weise verdeutlicht und absichtsvoll ausgedrückt. Die Worte werden zu Sound, die Sprache wird zum heiligen Kalb, um das sich alles dreht. ...  Auch die vom Komponisten Nico van Wersch erdachte neumusikalische Begleitung sorgt hier weniger für Tempo oder Spannung als für Überanstrengung. Vier unrein gestimmte Streichinstrumente werden von den Musikern nicht im herkömmlichen Sinne gespielt, sondern benutzt, um experimentelle Klangflächen zu erzeugen und ihre Zuhörer rammdösig zu machen." Zu viel Sound und zu wenig Deutung moniert Katrin Bettina Müller taz bei Ulrich Rasches "Ödipus"-Inszenierung: "Ulrich Rasche ist diesmal so etwas wie Rammstein unter den Theatermachern."

Weiteres: In der FAZ berichtet Christian Gampert über den Streit um die Pfauenbühne in Zürich. Abriss oder Renovierung, das ist hier die Frage und sie sprengt alte ideologische Grenzen. Besprochen werden Anta Helena Reckes Adaption von Olivia Wenzels Roman "1000 Serpentinen Angst" am Berliner Gorki Theater (Tsp, Nachtkritik), die Uraufführung von Thomas Köcks Stück "Und alle Tiere rufen: dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr" beim Kunstfest Weimar (Nachtkritik) und die Oper "Burt Turrido" des Nature Theater of Oklahoma bei den  Wiener Festwochen (Nachtkritik)
Archiv: Bühne

Literatur

Im Standard erzählt die Autorin Natascha Gangl von der Landung der Zapatistas in Europa: Mit einem kleinen Boot zogen die mexikanischen Revolutionäre durch Madrid, um auf dem alten kolonialen Kontinent ein bisschen Aufbruchsstimmung zu entfachen: "Die Ratio wird ausgehebelt, vor dem poetischen Bild, das ein buntes Boot mit Zapatistas auf der Plaza de Colón abgeben. Hier wird Freiheit vollzogen. Ein Anfang gemacht. Freundlich. Ein Ereignis gesetzt. Die Möglichkeit der Möglichkeit reanimiert und mit ihr ein Ideal von Aufrichtigkeit, von Unschuld."

Der Allround-Künstler Sjón erklärt im NZZ-Interview mit Aldo Keel die berühmte islandische Mentalität, die fast aus jedem Inselbewohner einen Schriftsteller macht: "Unser kulturelles Erbe beruht weitgehend auf Schriften, die im Mittelalter verfasst wurden, als umfassende Bildung und weltlicher Reichtum zusammenfanden. Die Tatsache, dass wir dank diesen Büchern einen Platz am Tisch der Weltkultur beanspruchen können, hat es uns immer als selbstverständlich erscheinen lassen, dass das Schreiben ein Geburtsrecht eines jeden in Island geborenen Menschen sei. Viele bemühen sich schon in jungen Jahren, etlichen gelingt es, einige finden den Weg hinaus in die Welt."

Weiteres: Nils Minkmar berichtet in der SZ von der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises an Rachel Salamander, deren Dankesrede daneben abgedruckt ist. Die Laudatio hielt Frank-Walter Steinmeier. Nicolas Freund war für die SZ beim Poetenfest in Erlangen und Jürgen Kaube für die FAZ bei einer Tagung in Marbach zu Geschichte und Wirkungen des Nobelpreises. Weiteres: Gerhard Zeillinger trifft sich für den Standard mit der Autorin Didi Drobna in der ehemaligen Patronenfabrik Hirtenberg.

Besprochen werden Elias Hirschls Roman "Salonfähig" über die Generation Slim Fit (Standard), Sjóns Roman "CoDex 1962" (NZZ), Jenny Erpenbecks Roman "Kairos" (FR), Colson Whiteheads Roman "Harlem Shuffle" (Tsp), Antje Rávik Strubels Roman "Blaue Frau" (Tsp) und Werner Herzogs "Das Dämmern der Welt" (ZeitOnline), Birgit Aschmanns "Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus (SZ) und Dominik Gepperts "Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" (SZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Was hat sich das Bayerische Nationalmuseum nur dabei gedacht, dem 23-jährigen Leon Löwentraut einen ganzen Saal zu überlassen, fragt sich in der SZ fassungslos eine zwischen Lachen und Weinen hin und her gerissene Kia Vahland, die den jungen Künstler für einen Poseur hält. All das nur um junges Volk ins Museum zu locken. "Dabei wäre es gerade in einem kulturhistorischen Museum unverfänglich möglich gewesen, einzelne Löwentraut-Werke zu zeigen - nämlich in einer fundierten, vielseitigen, kritisch-distanzierten und selbst verantworteten Gruppenausstellung zum Phänomen des medialen Hypes. Dann käme auch ein junges, kunstaffines, gesellschaftspolitisch interessiertes Publikum gerne."

Weiteres: In der NZZ feiert Philipp Meier die Rückkehr von Walter De Marias Monumentalwerk "The 2000 Sculpture" in den lichtdurchflueteten Bührlesaal des Kunsthaus Zürich: "Sie ist nicht nur Raum, sie ist Bewegung. Damit aber ist dieses Werk vor allem auch: Zeit." In der taz erfreut sich Barbara Behrendt an den Steinskulpturen, die der albanischer Künstler Ulysses am Hudson River in New York jeden Tag neu errichtet.
Archiv: Kunst

Film

Szene aus Robert Siodmaks "Nachts wenn der Teufel kam" von 1957 mit Mario Adorf


Hans-Georg Rodek rekonstruiert in der Welt den Fall des Bruno Lüdke, dem von den Nazis 84 Morde zur Last gelegt wurden und den nun ausgerechnet Mario Adorf rehabilitieren möchte: Der Schauspieler verdankt der Verfilmung des Falls von Robert Siodmak "Nachts, wenn der Teufel kam" seine Weltkarriere, dabei hatte es schon damals Zweifel an der Schuld des geistig zurückgebliebenen Lüdkes gegeben. Mario Adorf, erzählt Rodek, war schon von Anfang an unzufrieden mit dem Film, vor allem weil die Adorfs Meinung nach entscheidende Szene herausgeschnitten worden war: "Die Szene ging so: Sonntags kommt Bruno Lüdke, landfein gemacht, zu einer Frau, die sich versteckt hält, vermutlich eine Jüdin. Er wird von der Hausmeisterin aufgehalten. 'Wo wollnse denn hin? Frau Lehmann is sonntach nich da.' - 'Ick will ooch jar nich zu Frau Lehmann. Ick will zu der Frau, die da oben ist.' - Die is ooch nich da. Die hamse abjeholt jestern, SS.' Massenmörder durfte es geben, deutsches Wissen um Judenverfolgung nicht. Die Szene hat sich später in keinem Archiv mehr gefunden."
Archiv: Film

Architektur

Auch Oliver Wainwright hat für den Guardian nun Ludwig Mies van Rohes Neue Nationalgalerie besucht. Bei aller Wertschätzung für die Architekturikone muss er doch sehr klar festhalten: "Der Bau wurde lange als der Parthenon des 20. Jahrhunderts verehrt, das ultimative Beispiel für Mies' Such nach dem universalen Raum. Aber als Museum ist er ein Desaster."
Archiv: Architektur

Musik

Im Interview mit der FAZ spricht Leiter Winrich Hopp über das Programm für das Musikfest Berlin, das heute beginnt. Dazu gehören zwei die Uraufführungen: Wolfgang Rihms "Gebet der Hexe von Endor" nach einem Text von Botho Strauß und  "House of Calls" von Heiner Goebbels. Dazu kommt das Spätwerk von Strawinsky sowie Madrigale von Gesualdo da Venosa, Musik der Renaissance und des Barock: "Alle diese Positionen zusammen kreieren im Festival eine außergewöhnliche Welt des Vokalen, der menschlichen Stimme und des Gesangs. Die vielleicht sogar etwas Exotisches hat, nachdem insbesondere die Vokalmusik durch die Covid-19-Pandemie so lange schweigen musste. Heiner Goebbels kommt mit dem Ensemble Modern Orchestra und bringt zahllose Stimmen und Gesänge aus allen möglichen Zeiten, Ländern und Sprachen mit. Teilweise aufgenommen noch mit historischen Phonographen auf Wachsmatrizen, gefunden in Archiven, aber auch Stimmen von heute."

Karl Bruckmaier stellt in der FAZ den Folkmusiker Geoff Muldaur vor, dessen Album "His Last Letter" nur als Schallplatte herauskommt und seine Liebe zu Louis Armstrong, den Mississippi Sheiks, Fats Waller oder Bix Beiderbecke belegt. Für Bruckmaier ist die Platte ein wahres Wunder, ein "Quantensprung zurück in die Zukunft": "Meiner Erfahrung nach führt die absichtliche Verschmelzung - gern Fusion genannt - zweier Musikwelten zum Verlust der jeweiligen Stärke einer jeden Einzelgattung. ... Unter Muldaurs Leitung allerdings scheint es, als habe ein 'Come All You Fair and Tender Ladies' oder ein 'Boll Weevil Holler' einfach eine andere evolutionäre Abzweigung genommen, als hätte sich bereits 1927 die Chance ergeben, die akademische Musikwelt durch eine Umarmung der diversen Volks- und Folkmusiken am Leben zu erhalten, vor dem Verknöchern zu bewahren."

Hier eine Kostprobe von einem Konzert in Albuquerque 2019:



Weitere Artikel: Stephanie Grimm berichtet in der taz vom Pop-Kultur-Festival in der Berliner Kulturbrauerei. In der SZ schreibt Jakob Biazza zum Tod des Reggae-Pioniers Lee Perry, in der NZZ verfasst Hanspeter Künzler den Nachruf.

Besprochen werden Indigo De Souzas Indie-Rock-Album "Any Shape You Take" (auf dem Olaf velte in der FR viel "gitarrenbetonte Begeisterung" hört, auch ZeitOnline freut sich Daniel Gerhardt über "Wut, Verzweiflung, Euphorie, Tortenschlacht"), Charley Crocketts Album "Music City U.S.A." (FAZ), eine CD mit der Musik von Miłosz Magin (FAZ), der Saisonstart der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko mit Weber, Hindemith und Schubert (SZ, Tsp, FAZ), das Geburtstagskonzert des HR-Sinfonieorchesters in der Alten Oper Frankfurt (FR), Herbert Blomstedt mit Honegger und Brahms bei den Salzburger Festspielen (Standard).
Archiv: Musik